Orionnebel - hier entstehen Sterne (<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Orion_Nebula_-_Hubble_2006_mosaic.jpg">Bild: NASA, ESA, M. Robberto (Space Telescope Science Institute/ESA) and the Hubble Space Telescope Orion Treasury Project Team</a>, gemeinfrei</a>)

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Sternengeschichten Folge 562: Die ursprüngliche Massefunktion

Es gibt viele offene Fragen in der Astronomie. Zum Beispiel wenn es um die Natur der dunklen Materie geht oder die der dunklen Energie. Wir wissen nicht, was im Inneren von schwarzen Löchern wirklich passiert. Und wir haben keine Ahnung, was vor dem Urknall war. Bei solchen Fragen muss man auch nicht viel erklären um zu verstehen, warum es sich lohnen würde, eine Antwort darauf zu haben. Es gibt aber auch ungelöste Probleme, die auf den ersten Blick deutlich unspektakulärer aussehen – auf den zweiten Blick aber von enormer Bedeutung sind.

„Wie hat das alles angefangen?“ ist eine der Fragen, die sich vermutlich alle Menschen irgendwann mal gestellt haben. Religion, Philosophie und mittlerweile auch die Naturwissenschaft versuchen sich an Antworten und das ist gut so. Aber wer hat sich schon mal die Frage nach der „ursprünglichen Massefunktion“ gestellt? Vermutlich niemand außerhalb der Astronomie und weder Philosophie noch Religion scheinen eine Meinung dazu zu haben. Und auch wenn der Begriff ein wenig sperrig klingt, lohnt es sich, wenig genauer hinzusehen. Es geht vielleicht nicht um den fundamentalen Anfang von Allem und die ultimative Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest. Aber es geht AUCH um Anfänge und es geht vor allem um den Weg, um an verlässliche Antworten auf Fragen zu kommen.

Bei der ursprünglichen Massefunktion, die in der Fachsprache Englisch auch die „Initial Mass Function“ heißt und deswegen oft mit „IMF“ abgekürzt wird, geht es um Sterne. Ich habe schon oft genug erzählt, wie Sterne entstehen und will das hier nicht im Detail wiederholen. Auf jeden Fall aber fängt alles mit einer Wolke aus Gas an, die unter ihrem eigenen Gewicht kollabiert, bis die Gasmassen am Ende so dicht zusammengepresst sind, dass in ihrem Inneren die Kernfusion einsetzen kann und ein Stern entstanden ist.

Die Details sind bekanntlich deutlich komplizierter aber es gibt einen Punkt, den wir uns auf jeden Fall genauer ansehen müssen. Die simple Erklärung „Eine Gaswolke kollabiert und es entsteht ein Stern“ ist insofern falsch, als dass aus einer Gaswolke nicht EIN Stern entsteht. Die kosmischen Wolken aus denen die Sterne entstehen, sind enorm groß. Sie können hunderte Lichtjahre groß sein und die millionfache Masse der Sonne haben. Wenn so eine Wolke in sich zusammenfällt, dann entsteht daraus nicht ein Stern, sondern hunderte bis tausende auf einmal.

Orionnebel – hier entstehen Sterne (Bild: NASA, ESA, M. Robberto (Space Telescope Science Institute/ESA) and the Hubble Space Telescope Orion Treasury Project Team, gemeinfrei)

Wir wissen außerdem, dass Sterne gibt, die sehr viel weniger Masse haben als unsere Sonne. Und Sterne, die sehr viel mehr Masse haben. Wie viel Masse ein Stern hat, hängt selbstverständlich von seiner Entstehung ab. Wenn eine große Gaswolke kollabiert, dann fragmentiert sie dabei auch. Das soll heißen: Die ganze Masse der Wolke fällt nicht auf einen Punkt zu; fällt nicht in ein einziges Zentrum zusammen. Sondern es bilden sich darin jede Menge Klumpen, die alle für sich in sich zusammenfallen bis eben ein ganzer Haufen Sterne entstanden sind. Sterne, deren Masse davon abhängt, wie groß der jeweilige Klumpen war, aus dem sie sich gebildet haben.

Und die Frage um die es jetzt geht lautet: Wenn so eine Gaswolke kollabiert, wie viele Sterne mit welcher Masse werden dabei gebildet? Die Beziehung, die das angibt; also die Anzahl der Sterne innerhalb eines bestimmten Massebereichs: Das ist die ursprüngliche Massefunktion. Mit so einer Beziehung kann man dann zum Beispiel berechnen, dass so und so viele Sterne die doppelte Sonnenmasse habe; so und so viele Sterne die halbe Sonnenmasse, und so weiter. Nur: Wie findet man diese Funktion?

Der erste, der das versucht hat, war der Astronom Edwin Salpeter. In Österreich geboren, dann nach dem Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich nach Australien geflohen und später nach Amerika ausgewandert, hat er sich in seiner wissenschaftlichen Arbeit mit Quantenmechanik und der Entwicklung von Sternen beschäftigt. Und 1955 die erste Ursprüngliche Massenfunktion aufgestellt. Sein Ansatz war empirisch, das heißt, er hat probiert das Problem durch Beobachtungen zu lösen. Man kann ja einfach die Sterne beobachten, die da sind; ihre Massen bestimmen und dann schauen, wie viele Sterne mit bestimmten Massen es gibt. Dann sucht man eine mathematische Funktion, die diesen Zusammenhang beschreibt und: Fertig!

Das klingt einfach, ist es aber natürlich nicht. Damit das wirklich funktioniert, müsste man ALLE Sterne beobachten die es gibt; idealerweise müsste man über alle Sterne Bescheid wissen, die es jemals gegeben hat. Das geht nicht und das wusste Salpeter auch. Aber irgendwo muss man ja anfangen, also hat er die diversen Beobachtungsdaten zusammengetragen und eine entsprechende Funktion aufgestellt. Aus mathematischer Sicht war diese Formel recht simpel, wenn man wissen will, wie viele Sterne einer bestimmten Masse es gibt, muss man einfach den Wert dieser Masse nehmen und das dann hoch -2,35 nehmen. Aber auf die mathematischen Details kommt es gar nicht an, sondern auf die Tatsache, dass es sehr überraschend wäre, wenn man so etwas die ursprüngliche Massefunktion durch so ein simples Potenzgesetz beschreiben könnte. Der Kollaps einer Gaswolke ist ein höchst chaotischer Prozess, der von vielen Faktoren abhängt. Von den Eigenschaften der Atome selbst bis hin zu externen Einflüssen wie der Strahlung von Sternen in der Umgebung, und so weiter. Aber wie gesagt: Irgendwo muss man mal anfangen und eine simple Näherung ist besser als gar nichts.

Und besser als eine simple Näherung ist natürlich eine genauere Näherung. Dazu braucht man mehr Beobachtungsdaten und da wird es schon wieder schwierig. Große Sterne, mit viel Masse, leuchten hell und heiß und sind daher sehr gut zu beobachten, auch wenn sie weit entfernt sind. Sterne mit geringer Masse, zum Beispiel rote Zwergsterne, sind logischerweise weniger heiß, weniger hell und damit auch schlechter zu sehen. Der sonnennächste Stern – Proxima Centauri – ist zum Beispiel genau so ein roter Zwerg und wir haben ihn erst 1917 entdeckt, wie ich in Folge 114 der Sternengeschichten erzählt habe. Wir wissen außerdem, ganz unabhängig von der ursprünglichen Massefunktion, dass es sehr viel mehr kleine Sterne gibt als große Sterne. Ungefähr drei Viertel aller Sterne im Universum sind rote Zwergsterne; Sterne von ungefähr der Masse unserer Sonne sind sehr viel seltener und machen nur circa 6 Prozent aller Sterne aus. Salpeter hatte sich damals bei seiner Arbeit auf die sonnenähnlichen Sterne konzentriert, die leichter zu beobachten sind als die leuchtschwachen roten Zwerge. Aber wenn man allgemeine Prinzipien über alle Sterne aus einer kleinen, nicht repräsentativen Untergruppe ableiten will, schafft das eben Probleme.

Salpeters Ansatz ist im Laufe der Zeit verbessert worden, mit immer besseren Beobachtungsdaten. Aus der simplen mathematischen Formel sind komplexere Formeln geworden, bei der man verschiedene mathematische Gleichungen verwenden muss, je nachdem ob man es mit kleinen, mittleren oder großen Sternen zu tun hat. Aber das fundamentale Problem bleibt: Wir haben zu wenig Daten, sowohl was die sehr großen als auch die sehr kleinen Sterne angeht. Große Sterne mit viel Masse sind sehr heiß und deswegen läuft die Kernfusion dort sehr schnell ab. Sie haben ihren Treibstoff schnell aufgebraucht; explodieren bei Supernovas und deswegen sehen wir nicht so viele davon. Kleine Sterne wären zahlreich vorhanden, sind aber schwer zu beobachten.

Verschiedene IMFs Bild: JohannesBuchner, CC-BY-SA 4.0)

Uns fehlen also die Daten, um eine verlässliche ursprüngliche Massenfunktion aufzustellen. Und wir haben auch keine Theorie, die so exakt beschreiben kann, was beim chaotischen Kollaps einer Gaswolke passiert, um auf diesem Weg eine Massenfunktion ableiten zu können. Dazu kommen noch ein paar grundlegendere Probleme: Wer sagt denn, dass es so eine Funktion überhaupt geben muss? Also es gibt sie natürlich in dem Sinn, als dass man die Massenverteilung einer Sternenpopulation immer mit einer mathematischen Formel beschreiben kann. Aber es wäre eigentlich höchst überraschend, wenn es eine „universale“ Funktion geben würde, die immer und überall für alle Arten der Sternentstehung gilt. Die Bedingungen die in der Milchstraße für die Sternentstehung herrschen sind anders, als in anderen Galaxien. Und die Bedingungen die JETZT in der Milchstraße herrschen, sind anders, als sie vor ein paar Milliarden Jahren waren. Selbst innerhalb der Milchstraße gibt es unterschiedlichste Sternentstehungsregionen mit unterschiedlichen Bedingungen.

Wenn überhaupt, dann müsste eine ursprüngliche Massefunktion jede Menge Parameter haben, mit der man sie an die verschiedenen Orte und Zeiten anpassen kann, für die sie verwendet werden soll. So oder so brauchen wir in der Astronomie ein möglichst gutes Verständnis über die Entstehung der Sterne. Denn davon hängt alles andere ab! Wenn wir ein paar der fundamentalen Fragen beantworten wollen, die ich zu Beginn gestellt habe; Fragen über dunkle Materie, dunkle Energie, den Urknall, und so weiter: Dann können wir auf naturwissenschaftliche Weise nur dann Antworten finden, wenn diese auf Beobachtungsdaten basieren. Und all diese Beobachtungen haben auf die eine oder andere Art mit Sternen zu tun. Beziehungsweise: Mit dem Licht der Sterne. In der Astronomie können wir, mit wenigen Ausnahmen, NUR das Licht der Sterne beobachten und müssen daraus alles andere ableiten. Eigenschaften wie das Alter der Sterne, ihre Temperatur oder eben ihre Masse sind einer direkten Beobachtung nicht zugänglich. Wir müssen das Verhalten von Sternen so gut wie nur irgendwie möglich verstehen, wenn wir solche Eigenschaften indirekt aus der Beobachtung des Lichts bestimmen wollen. Und zum Verhalten von Sternen gehört zuallerst natürlich auch ihre Entstehung und damit das, was durch eine ursprüngliche Massenfunktion beschrieben wird.

Und erst wenn wir ausreichend viele Eigenschaften von ausreichend vielen Sternen bestimmt haben, können wir diese Daten nutzen, um damit zum Beispiel die Dynamik einer Galaxie zu untersuchen. Die unser wiederum Information über die dunkle Materie liefern kann. Und so weiter: Egal ob es um den Urknall geht, um erdähnliche Exoplaneten oder was auch immer sonst wir über das Universum wissen wollen: Wir müssen die Sterne verstehen, wenn wir Antworten haben wollen. Und deswegen ist Suche nach der ursprünglichen Massefunktion so wichtig.

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