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Sternengeschichten Folge 559: Der Rechenfehler und die Supernova
John Flamsteed wurde 1675 der erste königliche Astronom in England, er gründete die Königliche Sternwarte in Greenwich, er stritt sich heftig mit Isaac Newton – aber all diese Geschichten habe ich schon in anderen Folgen der Sternengeschichten erzählt. Heute geht es um den Himmelsatlas Historia coelestis Britannica, das Lebenswerk von Flammsteed. Genauer gesagt: Es geht um einen ganz besonderen Stern, der in diesem Katalog aufgeführt ist. Einen Stern, den es gar nicht gibt.
Flamsteeds Katalog enthielt die Positionen von 2935 Sternen. Er hat sie alle beobachtet, die Beobachtungsdaten in mühsamer und komplizierter Arbeit in Koordinaten umgerechnet; entsprechende Karten dazu gezeichnet, und so weiter. Warum? Weil das, und fast nur das, damals die Arbeit der Astronomie war! Man konnte ja nicht mehr tun, als die Positionen der Sterne zu messen, und noch ihre Helligkeit. Aber mehr war da nicht; all das, was wir heute über den Aufbau, die Entwicklung der Sterne, über die Galaxien, und so weiter bekannt ist, war damals nicht nur unbekannt, es war für die Menschen auch unmöglich, das mit ihren Methoden herausfinden zu können. Darüber hinaus hat Flamsteed auch ein ganz praktisches Ziel verfolgt; sein Atlas sollte ein fundamentaler Teil einer neuen Methode sein, wie Schiffe auf hoher See ihre Position bestimmen können, aber das hab ich ja in Folge 148 schon genau erklärt.
Flamsteed hat jedenfalls sehr viele Sterne beobachtet. Er konnte dabei natürlich auch keine fotografischen Methoden nutzen; er konnte nur schauen und mit seinen Messgeräten probieren, die Position zu genau wie möglich zu bestimmen. Bilder, die er auch später in Ruhe nochmal nachträglich vermessen konnte, gab es nicht. Es ist also verständlich, wenn man davon ausgeht, dass Flamsteed ab und zu mal Fehler gemacht hat. Wir alle machen Fehler und bei fast 3000 Sternen wäre es überraschend, wenn da jede einzelne Position perfekt passt. Flamsteed hat die endgültige Veröffentlichung seines Werks auch nicht mehr erlebt; es wurde nach seinem Tod herausgegeben und auch danach haben andere Forscherinnen und Forscher nochmal alles genau angesehen und probiert, Fehler zu korrigieren.
Eine dieser Forscherinnen war Caroline Herschel, die Schwester des Astronomen Wilhelm Herschel, der den Uranus entdeckt hat. Caroline war aber nicht nur die Schwester, sondern selbst auch Astronomin die ihrer eigenen Forschung nachging. Und bei ihrer ausführlichen Kontrolle von Flamsteeds Katalog ist ihr der Stern mit der Bezeichnung „3 Cassiopeia“ aufgefallen. Da, wo der laut Flamsteed sein sollte, war am Himmel nichts zu finden. Knapp daneben war ein anderer Stern, und Herschel ging davon aus, dass Flamsteed sich bei der Positionsbestimmung ein klein wenig verrechnet hatte und eigentlich diesen Stern gemeint hatte. Sie fand auch keine Aufzeichnungen von Flamsteed zur genaue Rechnung und strich den aus ihrer Sicht nicht existenten Stern aus dem Katalog und setzte stattdessen den anderen ein.
Auch der Astronom Francis Baily beschäftigte sich mit der Korrektur von Flamsteeds Arbeit. Und auch er stolperte über 3 Cassiopiea. Der Fehler, den Flamsteed gemacht haben musste, um die Position des Sterns so falsch zu berechnen, war eigentlich untypisch groß für Flamsteed, der sonst immer extrem genau gearbeitet hat. Auch er konnte nicht herausfinden, was Flamsteed da beobachtet hatte; warum er einen Stern gesehen haben sollte, der nicht da ist.
Aber gut – Fehler passieren eben nun mal. Und wenn ein Katalogeintrag unter tausenden ein wenig komisch ist, dann muss man daraus kein großes Drama machen. 3 Cassiopeia wurde gestrichen und die Sache war vorerst erledigt. Aber so ganz ist der mysteriöse Rechenfehler-Stern nicht aus der Astronomie verschwunden. Und tatsächlich haben wir das Rätsel mittlerweile vielleicht gelöst. Wir springen ein wenig in die Zukunft; aus dem 17. Jahrhundert in die Mitte des 20. Jahrhunderts. 1948 veröffentlichten die britischen Astronomen Martin Ryle und Francis Graham-Smith Ergebnisse aus ihren Beobachtungen auf dem damals noch sehr neuen Forschungsfeld der Radioastronomie. Im Sternbild Cassiopeia fanden sie dabei eine extrem starke Radioquelle, also irgendein Objekt oder Phänomen, bei dem enorme Mengen an elektromagnetischer Strahlung im langwelligen Radiobereich freigesetzt werden. Das Ding hat heute die Bezeichnung „Cassiopeia A“ und ist eine der stärksten Radioquelle außerhalb des Sonnensystems, die wir am Himmel beobachten können. Um was es sich dabei genau handelt, wussten Ryle und Smith damals noch nicht. Erst ein paar Jahre später konnte man Cassiopeia A auch mit normalen Teleskopen beobachten. Und je genauer man hinsehen konnte, desto klarer wurde die Lage. Das Objekt dehnte sich aus; sehr schnell sogar. Man beobachtete also offensichtlich eine Art Explosion. Mittlerweile haben wir sehr detaillierte Bilder, die unter anderem von Weltraumteleskopen gemacht worden sind und die zeigen sehr eindeutig, dass Cassiopeia A der Überrest einer Supernova-Explosion ist. Ein gewaltiger Roter Riesenstern muss hier unter seinem eigenen Gewicht kollabiert sein, als er keinen Treibstoff mehr für die Kernfusion in seinem Inneren hatte.
Wir sehen leuchtende Gasmassen, die sich annähernd kugelförmig um ein Zentrum verteilen. Was wir nicht direkt sehen, aber messen können, ist die Geschwindigkeit mit der sich diese Gasschalen ausdehnen. Sie tun das mit bis zu 6000 Kilometer pro Sekunde und das ganze Material ist so heiß, dass es jede Menge Strahlung abgibt, unter anderem eben auch die Radiostrahlung, die Ryle und Smith damals gemessen haben. Im Zentrum der sich ausbreitenden Gasmassen befindet sich vermutlich ein Neutronenstern, also der letzte, extrem verdichtete Rest des Kerns, der vom ehemaligen Riesenstern noch übrig geblieben ist, bevor er damals bei der gewaltigen Explosion seine äußeren Schichten im All verteilt hat.
Aber: Wann war dieses „damals“ eigentlich? Das kann man berechnen, wenn man schaut, wie schnell sich das Gas ausbreitet und welche Strecke es schon zurück gelegt hat. Dann kann man zurückrechnen auf den Zeitpunkt, als alles in der Mitte vereint war; der Stern also noch ganz war. Tut man das, dann kommt man ungefähr auf das Jahr 1680. Und 1680, im August um genau zu sein, hat Flamsteed auch die Beobachtungen gemacht, bei der er den mysteriösen Stern 3 Cassiopeia gesehen haben will. Es ist natürlich auch kein Zufall, dass sowohl Flamsteeds Stern als auch der Supernova-Überrest das „Cassiopeia“ im Namen haben. Beide Objekte befinden sich in der gleichen Gegend am Himmel, dort wo das Sternbild Cassiopeia ist. Tatsächlich liegen die Positionen des Supernova-Überrests und von Flamsteeds Sterns sehr nahe beieinander.
Hat Flamsteed also tatsächlich gesehen, wie der Rote Riesenstern explodiert ist? Cassiopiea A ist circa 11.000 Lichtjahre von der Erde entfernt. Es ist kein Wunder, dass dort niemand einen Stern gesehen hat; mit den damaligen Teleskopen kann man das in so einer Entfernung nicht sehen. Wenn der Stern aber zur Supernova wird, wird er so hell, dass er sichtbar ist. Wenn es aber eine wirklich helle Supernova gewesen wäre, dann wäre es komisch gewesen, wenn außer Flamsteed niemand etwas gesehen hätte. Untersuchungen haben aber gezeigt, dass die Helligkeit in diesem Fall gerade an der Grenze gewesen sein könnte, wo man ein Teleskop braucht, um das Ding zusehen. Wer also einfach nur so zum Himmel schaut, sieht nichts. Nur wer ein Teleskop an die richtige Stelle des Himmels richtet, sieht den Lichtpunkt, der allerdings ohne weitere Analyse auch nicht anders aussieht, als ein Stern. Es ist also möglich, dass Flamsteed zufällig Glück hatte und die Supernova bei seiner Katalogarbeit entdeckt und für einen Stern gehalten hat. So eine Supernova verblasst aber im Lauf der Zeit; nach ein paar Monaten oder Jahren ist nix mehr zu sein, zumindest nicht in so einem Teleskop wie es Flamsteed damals hatte.
Und dann wundern sich Leute wie Herschel oder Baily, warum da ein Stern im Katalog steht, der gar nicht mehr am Himmel ist. Tatsächlich hat man später auch die Aufzeichnungen gefunden, in denen Flamsteed seine Messungen und Berechnungen aufgeschrieben hat. Und festgestellt, dass er nicht einfach die Position eines Sterns falsch bestimmt hat. Flamsteed hat 3 Cassipoeia beobachtet und er hat auch Beobachtungsdaten für den Stern, von dem Caroline Herschel dachte, es wäre der Stern mit dem Flamsteed 3 Cassiopiea verwechselt hat. Oder anders gesagt: Es ist kaum möglich, dass es diese Verwechslung gegeben hat. Da war wirklich ein Stern am Himmel, den Flamsteed beobachtet hat und der später nicht mehr zu finden war.
Ist der Fall damit also gelöst? Es wäre schön, aber so eindeutig ist es selten, wenn man es mit der Geschichte zu tun hat. Wir wissen schlicht und einfach nicht, was Flamsteed damals gemacht hat. Der Unterschied in der Position von 3 Cassiopiea und Cassipoeia A ist klein, aber doch größer, als die Fehler, die Flamsteed üblicherweise bei seinen Positionsbestimmungen gemacht hat. Aber es gibt so viel, was bei Beobachtungen schief gehen kann; wer weiß schon, was da wirklich passiert ist. Aber es ist zumindest durchaus plausibel, dass John Flamsteed im Sommer 1680 tatsächlich als einziger Mensch die Supernovaexplosion eines 11.000 Lichtjahre entfernten Riesensterns gesehen hat. Und weil er nicht gewusst hat und auch nicht wissen konnte, mit was er zu tun hat, ist dieses gewaltige kosmische Ereignis nur zu einem weiteren Katalogeintrag und dann als vermeintlicher Rechenfehler ganz gestrichen worden…
Danke Florian für die wieder einmal sehr interessante und anschauliche Darstellung der Arbeit eines Astronomen der damaligen Zeit.
Es ist bemerkenswert, unter welchen Umständen diese wichtige wissenschaftliche Arbeit stattfand.
PS: Wird es noch ein Sommerrätsel 2023 oder wenigstens ein Advent Rätsel geben oder ist Schluss damit?
Wäre sehr schade drum.
Glückwunsch nochmal zum Forum und zur HZ …