Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
Mehr Informationen: [Podcast-Feed][iTunes][Bitlove][Facebook] [Twitter]
Wer den Podcast finanziell unterstützen möchte, kann das hier tun: Mit PayPal, Patreon oder Steady.
Über Bewertungen und Kommentare freue ich mich auf allen Kanälen.
Sternengeschichten Folge 551: Marietta Blau und die Zertrümmerungssterne
In der heutigen Folge geht es unter anderem um „Zertrümmerungssterne“. Das klingt astronomisch, immerhin kommt das Wort „Sterne“ darin vor. Und es hat auch mit Astronomie zu tun, nur etwas anders als man denkt. Wir fangen aber nicht mit Sternen an, sondern mit Marietta Blau. Sie wurde am 29. April 1894 in Wien geboren. Sie wuchs in einer wohlhabenden und gebildeten Familie auf, ihr Vater war Jurist und Musikverleger, und Marietta konnte die Matura abschließen und ab 1914 an der Universität Wien ein Studium beginnen. Sie entschied sich für Physik und Mathematik und schloss 1919 ihre Doktorarbeit am Institut für Radiumforschung ab. Da wurde nicht nur Radium erforscht; es war eine Forschungseinrichtung zur Untersuchung der Radioaktivität – die erste der Welt übrigens. Radioaktivität wurde erst 1896 entdeckt; das Element Radium entdeckten Marie und Pierre Curie erst 1898 und dieses neue physikalische Phänomen hat damals die Welt der Wissenschaft enorm interessiert. So sehr, dass man in Wien 1910 ein eigenes Institut gegründet hat und der erste Leiter diese Instituts für Radiumforschung in Wien war der Physiker Stefan Meyer. Er war Assistent von Victor Franz Hess und wer sich noch an Folge 317 erinnert, wird wissen, dass Hess die kosmische Strahlung entdeckt hat. Dazu kommen wir aber später noch einmal.
Marietta Blau jedenfalls hat sich auch für Radioaktivität interessiert und unter der Betreuung von Stefan Meyer eine Dissertation mit dem Titel „Über die Absorption divergenter Gammastrahlung“ geschrieben; sich also mit der hochenergetischen radioaktiven Strahlung beschäftigt. Ihr Doktoratsstudium konnte sie beenden; immerhin. Das war damals für Frauen nicht normal und dass Frauen überhaupt erst zum Studium zugelassen waren, war zu Blaus Zeiten noch nicht so lange her. Und dass eine Frau nach ihrem Studium an einer Universität forscht, war in Österreich damals auch nicht vorgesehen. Blau konnte also keine akademische Laufbahn einschlagen und ging nach Berlin, um dort in einer Fabrik für Röntgenröhren zu arbeiten. 1921 bekam sie eine Anstellung als Assistentin an der Universität in Frankfurt am Main, wo sie den Ärzten die physikalischen Grundlagen der Radiologie beigebracht hat; ihnen also erklärt hat, wie Röntgenstrahlung funktioniert und wie man sie für medizinische Zwecke einsetzen kann. Dieser Schritt war wichtig für ihre Karriere, denn dort musste sie sich nicht nur mit der Physik der Radioaktivität beschäftigen, sondern auch mit Fotografie. In der Medizin geht es ja darum, Röntgenbilder zu machen und das ging damals selbstverständlich noch analog. Man hatte also Photoplatten, die mit bestimmten chemischen Substanzen bestrichen waren, die auf Licht oder eben auf radioaktive Strahlung reagieren und so ein Bild erzeugen können.
Als 1923 die Mutter von Marietta Blau sehr krank wurde, ging sie wieder zurück nach Wien und nahm eine unbezahlte Arbeitsstelle am Institut für Radiumforschung an. Für ihren Lebensunterhalt musste sie selbst sorgen, was sie aber nicht davon abhielt, ihrer Forschung nachzugehen. Marietta Blau hat damals probiert, die Photoplatten als Nachweismethode für atomare und subatomare Teilchen zu nutzen. Wenn man damals Radioaktivität nachweisen wollte, dann hat man meistens sogenannte „Szintillationszähler“ benutzt. Der funktioniert, vereinfacht gesagt, mit einem Stück Material, dass einen kleinen Lichtblitz erzeugt, wenn energiereiche Strahlung darauf trifft. Diese sehr schwachen Blitze konnte man dann zählen und aus ihrer Häufigkeit auf die Art der eintreffenden Strahlung schließen beziehungsweise auf die Existenz der Teilchen, die die Strahlung erzeugt haben. Das war mühsam und fehleranfällig. Eine andere Methode ist die „Nebelkammer“, von der ich in Folge 510 ausführlich erzählt habe. Hier beobachtet man winzige, künstliche Wolken, die in einer speziellen Umgebung in einem Messgerät erzeugt werden, wenn radioaktive Strahlung oder entsprechende Teilchen durchsausen. Auch das war nicht einfach, vor allem, wenn man dauerhafte Aufzeichnungen haben wollte.
Marietta Blau hat deswegen begonnen, mit Photoemulsionen zu experimentieren. Gemeinsam mit ihrer Assistentin Hertha Wambacher testete sie verschiedene chemische Substanzen, tauschte sich mit den Firmen aus, die fotografische Filme hergestellt haben, hat an der Zusammensetzung, der Dicke der Schichten, und so weiter gefeilt bis sie am Ende eine Methode hatte, bei der man mit den Photoplatten tatsächlich die Spuren von Teilchen „sehen“ konnte. Die chemische Schicht, die Emulsion, muss dabei besonders gleichmäßig sein, nicht zu dick und nicht zu dünn, aber wenn alles passt, dann kann man dort die Spuren von Teilchen sehen, die zum Beispiel bei radioaktiven Zerfallsprozessen erzeugt werden. Wenn diese Teilchen auf die Photoplatten treffen, erzeugen sie dort eine chemische Reaktion und entsprechende Spuren, die – wie ein normales Foto – entwickelt und fixiert werden können. Aus der Länge, der Dicke und der Form der Spuren kann man rekonstruieren, um welches Teilchen es sich gehandelt hat. Blau und Wambacher konnten so die Spuren von Alpha-Teilchen identifizieren, also der niederenergetischen radioaktiven Strahlung; sie konnten Protonen finden, die Bausteine der Atomkerne, und sogar die elektrisch ungeladenen Neutronen nachweisen. Diese Teilchen wurden erst 1932 entdeckt und nur ein paar Monate nachdem die Entdeckung bekannt gegeben wurde, konnten Blau und Wambacher die Neutronen auch mit ihrer Methode finden.
Dass es sich bei dieser Arbeit nicht einfach nur um eine Spielerei handelt, zeigt die Verleihung des Haitinger-Preises den die Akademie der Wissenschaft im Jahr 1936 an die beiden Frauen verlieh. 1937 wurde es dann richtig spannend. Blau und Wambacher platzierten ihre Photoplatten am Hafelekar in Tirol. 2300 Meter über dem Meer; hoch über Innsbruck, platzierten sie ihre Platten um damit die kosmische Strahlung nachzuweisen. Jetzt sind wir wieder bei Victor Hess. Der hat 1912 entdeckt, dass aus dem Weltall ständig jede Menge radioaktive Strahlung auf die Erde trifft. Diese kosmische Strahlung wird von der Sonne, aber auch von allen anderen Sternen und diversen anderen Prozessen im All erzeugt. Zum Glück schützt uns die Atmosphäre der Erde und auch das Magnetfeld vor dem Großteil der Strahlung. Aber je höher man sich befindet, desto mehr kommt noch durch.
Tatsächlich konnten Blau und Wambacher die kosmische Strahlung mit ihrer Methode sehen: Sie sahen „Zertrümmerungsterne“. Also Spuren auf ihren Platten, bei der von einem Punkt sternförmig jede Menge Linie ausgingen. Damit so etwas entstehen kann, muss ein sehr hochenergetisches Teilchen kommen, auf die Photoplatte treffen, wo es dann eines der Atome der chemischen Emulsion „zertrümmert“, also Protonen und Neutronen aus dem Atomkern rausschlägt, die dann selbst wieder neue Kernreaktionen auslösen können. So kriegt man die sternförmigen Spuren und der „Zertrümmerungsstern“ war ein Beleg für die durch die kosmische Strahlung ausgelösten Kernreaktionen; das, was man heute mit dem Fachbegriff „Spallation“ bezeichnet. Die Spallation durch kosmische Strahlung ist ein spannender und wichtiger Prozess; sie ist zum Beispiel der einzige Weg, wie das chemische Element Bor entstehen kann. Durch Kernfusion, also die Verschmelzung von kleineren Atomkernen zu größeren beziehungsweise durch Kernspaltung größerer Kerne in kleinere geht das nicht; dafür hat Bor nicht die passende Anzahl an Protonen im Kern. Aber wenn kosmische Strahlung auf die richtigen Materialien trifft, kann sie genau die richtigen Atomkernbausteine raushauen, damit am Ende Bor-Atome übrig bleiben.
Bor ist ein wichtiges Element für uns Menschen; wir brauchen es für unsere Knochen und die Funktion des Gehirns. Nicht viel, aber wenn es nicht da ist, dann fehlt es uns. Und der Prozess, der dieses Element erzeugt, ist genau der, den Blau und ihre Assistentin Wambacher nachweisen konnten. Mit diesen Forschungsergebnissen wäre es normalerweise kein Problem gewesen, eine Professur und eine fixe Stelle an einer Universität zu bekommen. Aber nicht im Jahr 1937; nicht in Österreich und nicht wenn man eine Frau ist und noch dazu aus einer jüdischen Familie kommt. Blau und Wambacher bekamen noch den Lieben-Preis der Akademie der Wissenschaften verliehen und ein Jahr später musste Blau das Land verlassen (Wambacher übrigens konnte bleiben; sie war keine Jüdin und hatte sich mit den Nationalsozialisten arrangiert). Nach einem kurzen Zwischenstopp in Oslo landete sie in Mexiko, wo sie durch Vermittlung von Albert Einstein einen Job als Lehrerin an einer höheren Schule für Ingenieure bekam. Nebenbei forschte sie noch ein wenig; bastelte sich selbst Messgeräte, nutzte dann aber die erste Gelegenheit, um in die USA zu übersiedeln. 1944 bekam sie dort einen Job in der Wirtschaft, später dann endlich wieder eine wissenschaftliche Stelle an der Columbia University in New York. Ab 1948 beschäftigte sie sich dort mit der Datenauswertung von Teilchenbeschleunigern; wurde 1950 auch amerikanische Staatsbürgerin. 1950 schließlich wurde der Nobelpreis für Physik verliehen und zwar „für die Entwicklung der photografischen Methode zur Untersuchung von nuklearen Prozessen“. Allerdings nicht an Marietta Blau, sondern an den britischen Physiker Cecil Powell. Er hat die Methode von Blau und Wambacher für seine Forschung genutzt und damit ein paar Teilchen nachweisen können, die bis dahin noch nicht nachweisbar waren. Den Nobelpreis bekam er auch für diesen Nachweis, aber eben auch explizit für die Entwicklung der Methode mit den Photoplatten.
Dass Blau den Nobelpreis nicht erhalten hat, ist einer der großen Fehler des Nobelpreiskomitees. Blau (und Wambacher) wurden sogar von Erwin Schrödinger für den Nobelpreis vorgeschlagen; der Preis wurde aber trotzdem nur an Cecil Powell verliehen und der hat es geschafft, in seiner Nobelpreisrede kein einziges Mal den Namen „Marietta Blau“ zu erwähnen.
Marietta Blau bekam 1956 eine Stelle als Professorin an der Universität von Miami, kehrte aber dennoch 1960 nach Österreich zurück (Wambacher starb schon 1950). Sie begann dort wieder am Institut für Radiumforschung zu arbeiten; sie leitete eine Arbeitsgruppe an der Daten des europäischen Kernforschungszentrums CERN ausgewertet wurden und betreute Doktorarbeiten. Aber, hat sich das Institut wohl gedacht, wir haben die Frau nicht bezahlt als sie vor dem Krieg hier gearbeitet hat, warum also sollen wir sie jetzt bezahlen? Die Stelle von Blau war unbezahlt und die Akademie der Wissenschaft verlieh ihr 1962 zwar einen weiteren Preis – den Erwin Schrödinger-Preis für ihr Lebenswerk – ging aber nicht so weit, sie in die Akademie aufzunehmen.
Mariette Blau starb im Jahr 1970 in Wien, an Krebs und völlig verarmt. Keine wissenschaftliche Zeitschrift hielt es damals für notwendig, einen Nachruf auf sie zu verfassen. Und selbst heute ist ihr Name nicht so bekannt, wie er es sein sollte. Noch im Jahr 2012 ist, anlässlich des hundertsten Jubiläums der Entdeckung der kosmischen Strahlung, eine lange Arbeit erschienen, in der die Entwicklung der entsprechenden Forschung von damals bis heute dargestellt wurde, allerdings ebenfalls unter Auslassung des Beitrags von Blau und Wambacher.
Immerhin: Im Jahr 2004 hat die Stadt Wien eine Straße nach ihr benannt; in ihrer ehemaligen Schule hängt eine Gedenktafel und ein Hörsaal der Universität Wien trägt ihren Namen. Angesichts dessen, was sie in der Wissenschaft geleistet hat, ist das aber ohne jeden Zweifel viel zu wenig.
Die Verzweiflung von Mariette Blau mag man sich gar nicht vorstellen.
Hallo,
da ich derzeit eine Seminararbeit über Marietta Blau und ihre Erkenntnisse schreibe, würden mich ihre Quellen zu diesem tollen Beitrag interessieren.