SG_LogoDas ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.

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Sternengeschichten Folge 407: Die Pioneer-Anomalie

Die Raumsonde Pioneer 10 der NASA flog am 3. März 1972 ins All. Knapp einen Monat und ein Jahr später, am 6. April 1973 folgte Pioneer 11. Es war das erste Mal, dass Raumsonden die äußeren Planeten des Sonnensystems erforschen sollten. Jupiter, Saturn, Uranus, Neptun: Man hat zwar gewusst, dass es diese Planeten gibt und konnte sie mit Teleskopen von der Erde aus erforschen. Aber es war noch nie jemand in der Nähe gewesen und das sollten die beiden Pioneer-Sonden ändern. Die Ergebnisse waren spektakulär, im Dezember 1973 flog Pioneer 10 an Jupiter vorbei und machte Bilder die das erste Mal die den riesigen Gasplaneten aus der Nähe gezeigt haben. Man konnte ein paar der großen Jupitermonde das erste Mal im Detail beobachten. Schon zuvor hat die Sonde Neuland betreten – oder besser gesagt durchflogen. Pioneer 10 war das erste Objekt der Menschheit, das den Asteroidengürtel zwischen den Umlaufbahnen von Mars und Jupiter durchquert hat. Damals dachte man noch, dass das vielleicht unmöglich sein könnte. Man stellte sich vor, dass da nicht nur jede Menge Asteroiden durch die Gegend fliegen sondern auch jede Menge Staub, der so dicht sein könnte, dass er die Sonde und ihre Instrumente beschädigt.

Heute wissen wir, dass das nicht stimmt und das zwischen den Asteroiden des Asteroidengürtels enorm viel Platz ist. Man müsste sich schon aktiv anstrengen, wenn man einem Asteroid in die Quere kommen will und auch der Staub ist kein Problem. Deswegen konnte dann ein Jahr nach Pioneer 10 auch Pioneer 11 ins All starten. Man hatte die baugleiche Sonde noch zurückgehalten um abzuwarten, ob Pioneer 10 den Flug durch den Asteroidengürtel überlebt. Pioneer 10 flog weiter, kreuzte die Bahn des Saturn, die Bahn des Neptun und die Bahn des Uranus. Die Planeten selbst konnte sie nicht erforschen, die waren beim Vorbeiflug zu weit entfernt. Pioneer 11 war aber darauf ausgelegt, nicht nur ebenfalls dem Jupiter sondern auch dem Saturn zu begegnen. Das passierte 1974 beziehungsweise 1979. Beide Sonden flogen weiter hinaus ins äußere Sonnensystem um die Bedingungen dort zu erforschen. Der Kontakt mit Pioneer 11 ist im November 1995 abgebrochen, mit Pioneer 10 hatte man das letzte Mal im Januar 2003 Kontakt.

Flugbahn von Pioneer 10 und 11 Bild: NASA

Die beiden Sonden haben aber nicht nur unser Wissen über das äußere Sonnensystem erweitert. Sondern auch selbst für ein Rätsel gesorgt das den Namen „Pioneer-Anomalie“ bekommen hat. Wenn man so eine Raumsonde ins All schickt, dann macht man das natürlich irgendwie. Man hat vorher eine sehr genau Idee, wo und wie sie durchs Sonnensystem fliegen soll. Die Bahn wird genau berechnet und während der gesamten Mission wird Funkkontakt mit der Sonde gehalten. Aus den empfangenen Signalen kann man dann unter anderem ihre genaue Position bestimmen und nachsehen, ob sie noch dort unterwegs ist, wo sie es sein sollte.

Das war auch bei Pioneer 10 und 11 der Fall. Nur dass man hier Anfang der 1980er Jahre bemerkt hat, dass sie nicht ganz der Flugbahn folgen, die eigentlich vorgesehen war. Der Effekt war winzig. Aber sie waren ein wenig näher an der Sonne als sie es sein sollten. Das heißt, sie sind langsamer geflogen als vorgesehen. Wenn man zu Beginn eines Jahres voraus berechnet hatte, wo die Sonden am Ende des Jahres sein werden, betrug der Fehler am Ende immer circa 400 Kilometer. Das ist – im Vergleich zu den Ausmaßen des Sonnensystems – enorm wenig. Das entspricht einer Abbremsung von weniger als einem Milliardstel Meter pro Sekunde pro Sekunde. Aber auch wenn das wenig war, der Effekt war vorhanden und ging nicht weg. Anfangs hat man sich noch keine allzu großen Sorgen deswegen gemacht. Man hat gedacht, dass es halt einfach nur eine zufällig, winzige Abweichung war. Es gibt ja noch jede Menge andere Gründe, warum sich die Geschwindigkeit einer Raumsonde ändern kann. Zum Beispiel der Strahlungsdruck der Sonne. Das Licht, das unser Stern hinaus ins All schickt ist ja nicht einfach nur hell, sondern hat auch Kraft. Man kann sich das leicht anschaulich vorstellen: Die Lichtteilchen der Sonne treffen auf die Sonde und „schubsen“ sie ein klein wenig an. Das hat normalerweise keine Folgen, aber die Sonne gibt halt wirklich viel Licht ab und eine Raumsonde wie Pioneer 10 oder 11 fliegt wirklich lange durchs All und ist dieser winzigen Kraft lange ausgesetzt. Der Strahlungsdruck der Sonne ist auch nicht konstant sondern mal stärker und mal schwächer. Es war also sowieso mit winzigen Änderungen der Geschwindigkeit zu rechnen.

Aber in den 1980er Jahren waren Pioneer 10 und 11 eigentlich schon weit genug von der Sonne weg so dass der Strahlungsdruck keine große Rolle mehr spielen sollte. Was auch der Fall war, und als die ganzen Schwankungen durch den Strahlungsdruck weggefallen sind, konnte man diese andere seltsame Geschwindigkeitsänderung bemerken. Aber wie gesagt: Anfangs hat man da nicht großartig drauf geachtet. Aber Mitte der 1990er Jahre war die Sache immer noch nicht verschwunden. Was noch seltsamer war: Der Effekt ist sowohl bei Pioneer 10 als auch bei Pioneer 11 aufgetreten und das obwohl die beiden Sonden in komplett unterschiedliche Richtungen geflogen sind.

Irgendwas hat die Bewegung der Sonden beeinflusst und niemand hat gewusst, was die Ursache dafür ist. Es gab natürlich jede Menge Vorschläge. Sieht man mal davon ab, dass da irgendwo einfach nur ein Rechenfehler oder sonst irgendein technisches Problem vorliegt, ist natürlich die Gravitation immer das erste Phänomen das man in so einem Fall betrachtet. So eine Raumsonde ist ja nicht wie ein Auto oder ein Flugzeug unterwegs das sich mit eigener Kraft durch die Gegend bewegt. Natürlich kann auch eine Raumsonde ihre Flugbahn aktiv verändern. Aber das macht man nur, wenn es unbedingt nötig ist, da jede Änderung der Bahn und Geschwindigkeit Treibstoff benötigt und es ist erstens teuer, den mit ins All zu nehmen und zweitens ist der irgendwann alle. Das heißt die meiste Zeit über fliegt die Sonde einfach antriebslos durchs All. Vereinfacht gesagt schubst man sie zu Beginn der Mission in die richtige Richtung und weil im All ja auch nichts ist, was sie abbremsen könnte, bewegt sie sich dann einfach immer weiter in diese Richtung ohne langsamer zu werden. Wenn sie die Richtung doch ändert oder eben langsamer (oder schneller) wird, dann muss das einen Grund haben. Zum Beispiel weil da ein Planet in der Nähe ist der mit seiner Gravitationskraft die Bahn der Sonde ändert. Oder weil da eben nicht komplett leeres All ist, sondern die Sonde durch Staub oder Gas fliegen muss was die Geschwindigkeit ebenfalls beeinflusst.

Pioneer 10 vor Jupiter
Künstlerische Darstellung: NASA

Damals wusste man auch noch nicht so viel über die äußeren Bereiche des Sonnensystems wie heute. Man wusste zum Beispiel noch nichts von der Existenz des Kuipergürtels gewusst, also des Asteroidengürtels hinter der Bahn des Neptun. Das erste Objekt dort hat man erst Anfang der 1990er Jahre entdeckt, wie ich in Folge 373 erklärt habe. Man hat aber schon vermutet, dass es so einen Asteroidengürtel geben muss und es war nicht unplausibel anzunehmen, dass die Gravitationskraft dieser Objekte die Bahn der Pioneer-Sonden beeinflusst. Vielleicht werden die Sonden auch von winzigen Meteoriten getroffen, die ihre Flugbahn ändern. Es gab natürlich auch sehr viel exotischere Erklärungsversuche. Da wäre zum Beispiel die dunkle Materie. Also das Phänomen, dass ich schon in Folge 25 genauer vorgestellt habe. Wir wissen seit Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich Galaxien und Sterne so bewegen, als würden sie mehr Gravitationskraft spüren als von der sichtbaren Materie ausgeübt werden kann. Deswegen geht man davon aus, dass es auch noch eine andere Art von Materie gibt, die eben nicht auf die normale Art sichtbar ist, aber trotzdem eine Gravitationskraft ausübt. Diese Materie könnte aus noch unentdeckten Elementarteilchen bestehen, die sich in großen Wolken überall im Universum befinden. Auch im Sonnensystem – und da könnten sie die Pioneer-Sonden beeinflussen. Nur: Wenn tatsächlich so viel dunkle Materie vorhanden ist um die beobachtete Bahnänderung der Sonden zu verursachen, dann müsste sie auch die Bewegung der Planeten beeinflussen und zwar in einem Ausmaß das wir messen könnten. Was nicht der Fall war.

Man hat auch die Ausdehnung des Universums selbst für die Pioneer-Anomalie verantwortlich gemacht; man hat vermutet dass irgendwelche seltsamen Effekte dazu führen dass die Zeit für die Pioneer-Sonden ein wenig anders abläuft; man hat darüber nachgedacht ob vielleicht unsere Beschreibung der Gravitation überhaupt grundlegend fehlerhaft ist und wir eine neue Theorie benötigen um die Bewegung der Pioneer-Sonden korrekt zu beschreiben. Man hat festgestellt, dass man die Hubble-Konstante, die die Expansion des Universums beschreibt mit dem Wert für die Lichtgeschwindigkeit multiplizieren kann und das Ergebnis zwar nicht exakt aber doch immerhin sehr nahe an dem Wert für die seltsame Abbremsung der Raumsonden ist. Und überlegt, ob das was bedeuten könnte und wenn ja, was genau.

Die Pioneer-Anomalie hat die Wissenschaft lange beschäftigt; manche haben in ihr Hinweise auf eine völlig neue Physik gesehen; andere haben gehofft mit ihrer Hilfe neue Himmelskörper im Sonnensystem zu entdecken. Am Ende hat sich die Sache aber als deutlich weniger spektakulär herausgestellt. All die möglichen Erklärungen die ich vorhin aufgezählt habe (und auch die, die ich nicht erwähnt habe), waren zwar prinzipiell nicht komplett unplausibel. Aber keine von ihnen war wirklich in der Lage, die Abweichungen der Flugbahn der Sonden wirklich einwandfrei zu erklären. Im Jahr 2011 hat dann eine Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Technischen Universität Lisabon in Portugal nochmal ganz genau auf die Technik der Raumsonden geschaut und auf alles, was damit zusammenhängen könnte. Vor allem haben sie die Radioisotopenbatterien untersucht, also die Energiequellen der Raumsonden. Diese Dinger geben Wärme ab und sie tun das in alle Richtungen gleichmäßig. Ein Teil dieser Wärmestrahlung wird aber von der Sonde selbst reflektiert. Die unterschiedlichen Bauteile der Sonde, die Antennen und der ganze andere Kram, reflektieren diese Wärmestrahlung ungleichmäßig. Und dann kriegt man sowas ähnliches wie den Strahlungsdruck der Sonne. Auch Wärme ist ja nichts anderes als Licht. Und wenn die Wärmestrahlung nicht gleichmäßig in alle Richtungen abgestrahlt wird, sondern an unterschiedlichen Stellen der Sonde unterschiedlich stark reflektiert, dann werden unterschiedliche Stellen der Sonde auch unterschiedlich stark von den Wärmelichtteilchen getroffen. Es gibt eine Art Rückstoßeffekt. Wie das im Detail bei Pioneer 10 und 11 abläuft, haben die Forscher aus Portugal in einem Computermodell ganz genau simuliert und festgestellt, dass am Ende eine Abbremsung entsteht, die ziemlich genau der entspricht die man auch beobachtet hat. Im gleichen Jahr haben auch deutsche Forscher ein ähnliches Modell präsentiert und ein Jahr später hat die NASA die ganze Sache auch analysiert und offiziell bestätigt, dass die Pioneer-Anomalie tatsächlich auf die ungleiche Reflektion der Wärme der Radioisotopenbatterie zurück zu führen ist.

Ein etwas unspektakuläres Ende also für ein potenziell sehr faszinierendes Phänomen. Aber so ist die Wissenschaft eben manchmal. Man kann nicht immer revolutionäre Entdeckungen machen. Aber man muss eben trotzdem nachsehen was los. Denn irgendwann findet man vielleicht wirklich etwas, mit dem man absolut nicht gerechnet hat…

6 Gedanken zu „Sternengeschichten Folge 407: Die Pioneer-Anomalie“
  1. Vielen Dank, ein spannendes Detail aus der Raumfahrtgeschichte. Die Auflösung des „Problems“ mit den abweichenden Flugbahnen der Pioneer-Sonden war nun gar nicht so unspektakulär – sie zeigt welch ein komplexer Vorgang hinter jeder Raumfahrtmission steckt. Ein kleiner Hinweis noch: Das Wissen über die Wirkung der „dunklen“ Materie stammt erst aus dem frühen 21. Jahrhundert.

  2. Ha ich stellte mir bei der Auflösung die unzähligen Wissenschaftler vor, die zuerst alles mögliche solare bis hin zu kosmischen Lösungen in Betracht zogen um am Ende dann mit einem Facepalm sagten „Die Baterie wars!“.

  3. Hallo Florian,
    Ich hatte vor Jahren den Leiter des Forschungsprojekts zur Pionieranomalie zu dem Thema gehört (an der TU München aufgetreten. Er war u.a auch der Leiter des Bremer Fallturms.)
    Ich meine aus der Erinnerung, die Abweichung war um Größenordnungen geringer als die im Podcast genannten 400km jährlich. Ggffls nochmals prüfen …
    🙂
    Lg

  4. @Kai

    Ich meine aus der Erinnerung, die Abweichung war um Größenordnungen geringer als die im Podcast genannten 400km jährlich. Ggffls nochmals prüfen …

    Die 400km Abweichung der Wegstrecke von einem Jahr zum anderen sind korrekt.
    Δs = (a/2)t^2.
    a=(8,7 ±1,3) ·10^(−10) m/s²

    Und damit ergibt sich ein Δs von ungefähr 400 km.

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