Von den Gezeiten hat sicher jeder schon mal gehört. Wer am Meer wohnt oder dort den Urlaub verbracht hat, hat das Phänomen sicher auch schon selbst erlebt. In regelmäßigen Abständen hebt und senkt sich der Meeresspiegel. Der Grund dafür ist im Detail etwas kompliziert zu erklären, im wesentlichen läuft es aber auf folgendes hinaus: Die Gravitationskraft hängt vom Abstand ab. Deswegen ist die Anziehungskraft des Mondes auf der Seite der Erde, die dem Mond zugewandt ist größer, als auf der gegenüberliegenden Seite. Zusammen mit der Bewegung von Erde und Mond um ihren gemeinsamen Schwerpunkt führt das zu einer Gezeitenkraft, die das Meerwasser anhebt. Auch das Land übrigens, aber da der Boden fest ist und nicht flüssig merkt man das hier kaum.

Gezeiten sind allerdings keine spezielle Eigenschaft von Erde oder Mond. Gezeitenkräfte wirken überall. Auch die Sonne übt eine Gezeitenkraft auf die Erde aus. Die Erde übt eine Gezeitenkraft auf den Mond aus. Andere Planeten und ihre Monde beeinflussen sich gegenseitig durch Gezeiten. Und natürlich existiert die Kraft auf auch größeren Maßstäben. Zum Beispiel bei ganzen Galaxien.

Wenn sich zwei Galaxien begegnen, dann wirken auch zwischen ihnen Gezeiten. Und so wie der Mond das Wasser der anhebt, können die Gezeitenkräfte zwischen Galaxien ihre Form verändern. Die Galaxien werden auseinandergezogen, wie man in diesem Bild schön sehen kann:

Bild: NASA, H. Ford (JHU), G. Illingworth (UCSC/LO), M.Clampin (STScI), G. Hartig (STScI), the ACS Science Team, and ESA

Gezeitenkräfte wirken aber nicht nur zwischen Galaxien, sondern auch innerhalb von Galaxien selbst. Unsere Milchstraßen-Galaxie besteht aus ungefähr 200 Milliarden Sternen. Sie bilden eine große, viele Zehntausend Lichtjahre durchmessende Scheibe. In der Mitte der Scheibe befindet sich eine kugelförmige Region, in der sehr viele Sterne sehr dicht bei einander stehen: der sogenannte „Bulge“. Jeder Stern bewegt sich um das Zentrum der Milchstraße und seine Bewegung wird durch die gesamte wirkende Gravitationskraft aller Sterne bestimmt. Und so wie bei der Bewegung von Planeten um einen Stern gibt es auch bei der Bewegung von Sternen durch eine Galaxie natürlich Gezeitenkräfte.

Diese Kräfte können im Prinzip auch die Bewegung von Planeten beeinflussen. Dimitri Veras und Wyn Evans von der Universität Cambridge haben diesen Effekt in ihrer Arbeit „Exoplanets Beyond the Solar Neighbourhood: Galactic Tidal Perturbations“ detailliert untersucht. Will man wissen, wie stark die galaktischen Gezeiten die Bewegung eines Planeten beeinflussen, dann muss man drei grundlegende Dinge berücksichtigen:

  • Die Position des Planetensystems innerhalb der Galaxie. Je näher sich ein Stern am dicht besiedelten Bulge befindet, desto stärker wird der Einfluss der Gezeitenkraft.
  • Die Position des Planeten innerhalb des Planetensystems. Ob ein Planet von den galaktischen Gezeiten beeinflusst wird, hängt davon ab, wie stark die gravitative Bindung an den eigenen Stern ist. Je näher er sich am Stern befindet, desto weniger ist er den Gezeiten ausgeliefert.
  • Die Neigung des Planetensystems gegenüber der Ebene der galaktischen Scheibe. Die galaktischen Gezeiten wirken nicht in alle Richtungen gleich stark. Je stärker die Bahn eines Planeten gegenüber der galaktischen Ebene geneigt ist, desto stärker wirken auch die galaktischen Gezeiten.

Um den gravitativen Einflussbereichs eines Sterns zu beschreiben, verwendet man den sogenannten Hill-Radius. Innerhalb dieses Radius dominiert die Gravitationskraft des Sterns und die galaktischen Gezeiten spielen eine untergeordnete Rolle. Der Hill-Radius hängt von der Masse des Sterns ab und der Position des Sterns innerhalb der Galaxie. Für einen Stern mit der Masse der Sonne sieht das zum Beispiel so aus:

Bild: Veras & Evans (2012)

Die x-Achse zeigt den Abstand vom galaktischen Zentrum in Kiloparsec. Die y-Achse gibt den Hill-Radius an (rechts ist die Einheit 100000 Astronomische Einheiten, links sind es parsec); für jede der drei möglichen Richtungen extra. Man sieht gut, dass der Hill-Radius in z-Richtung, also senkrecht zur Ebene der galaktischen Scheibe, am geringsten ist.

Unsere Sonne befindet sich grob 10 kpc vom Zentrum entfernt. Ihre Hillsphäre reicht 300000 Astronomische Einheiten in die x-Richtung, 200000 AE in die y-Richtung und 150000 in die z-Richtung. Das ist ungefähr die Gegend, in der sich auch die Oortsche Wolke befindet, also die Region aus der die Kometen stammen. Dort befinden sich ein paar Billionen Kleinkörper und es ist durchaus möglich, dass die galaktischen Gezeiten ihre Bahn beeinflussen und ab und zu die Bahn der Kometen so verändern, dass sie ins innere Sonnensystem gelangen können.

Ansonsten haben die galaktischen Gezeiten aber kaum Einfluss auf unser Sonnensystem. Veras und Evans geben eine simple Faustregel an, mit der sich berechnen lässt, auf welchen Zeitskalen sich der Einfluss der galaktischen Gezeiten abspielt. Die Periode P der Störungen, die durch die galaktischen Gezeiten ausgelöst werden ist ungefähr gleich dem Verhältnis von Pext² und Ppl. Pext ist die Umlaufzeit des Sterns um das Zentrum der Galaxie und Ppl die Umlaufzeit des Planeten um den Stern. Für Jupiter ergibt sich hier zum Beispiel eine Periode für die galaktischen Gezeiten von mehreren Billionen Jahren! Das ist deutlich länger als das Universum überhaupt existiert und man getrost sagen, dass der Einfluss der Gezeiten zu vernachlässigen ist.

Ist der Planet aber näher am galaktischen Zentrum oder befindet er sich weiter entfernt von seinem Stern, dann kann das anders aussehen. Beobachtungen, die in den letzten Jahren gemacht worden sind, zeigen, dass es auch näher am Zentrum Planeten gibt. Und auch wenn bisher noch kaum Planeten beobachtet worden sind, die sich sehr weit (einige 1000 AE) von ihrem Stern entfernt befinden (das liegt an den derzeit verwendeten Beobachtungsmethoden) ist es durchaus möglich, dass viele davon existieren. Während der turbulenten Phase der Planetenentstehung können Planeten aus den inneren Bereichen eines Planetensystems weit hinaus in die äußeren Regionen geschleudert werden.

Veras und Evans haben deshalb auch ausgerechnet, wie die galaktischen Gezeiten solche Planeten beeinflussen würden. So sehen die Ergebnisse aus:

Bild: Veras & Evans (2012)

Das Bild zeigt die Veränderung der Bahnexzentrizität (d.h. die Abweichung der Bahn von der Kreisform) im Lauf der Zeit. Der betrachtete Planet befindet sich immer 1000 AE von seinem Stern entfernt. Die verschiedenen Kurven beschreiben Planetensysteme, die sich verschieden weit vom galaktischen Zentrum entfernt befinden. Planetensysteme die sich in den äußeren Regionen einer Galaxie befinden, zeigen fast gar keine Störungen. Erst wenn man sich dem Zentrum nähert, sind die Effekte spürbar und die Bahnen werden immer weniger kreisförmig und damit auch immer instabiler (je ovaler eine Bahn ist, desto größer wird die Chance, dass der Planet die Bahn eines anderen Planeten kreuzt und beide kollidieren).

Natürlich hängt viel von der Ausgangssituation ab. Ich habe oben erwähnt, dass die Neigung des Planetensystems in Bezug auf die galaktische Ebene eine Rolle spielt. Es gibt keinen prinzipiellen Grund, warum sich Planetensysteme entlang einer bestimmten Ebene orientieren sollen. Die vielen extrasolaren Systeme sind daher vermutlich alle irgendwie geneigt; die Inklination ist zufällig verteilt. Unsere Sonnensystem ist immerhin 60 Grad gegenüber der galaktischen Ebene geneigt und das ist auch der Wert, den Veras und Evans bei ihrer Rechnung verwendet haben. Aber auch anderer Parameter (die exakte Orientierung der Bahn im Raum) können die Wirkung der Gezeiten beeinflussen.

Das Bild oben zeigt den Einfluss der galaktischen Gezeiten in den äußeren Bereichen der Galaxie. Im Zentrum, im Bulge also, sieht das alles nochmal ganz anders aus. Das nächste Bild zeigt die Ergebnisse von identischen Berechnungen wie oben. Aber diesmal befindet sich der Planet nur zwischen 0,05 und 2 Kiloparsec vom galaktischen Zentrum entfernt:

Bild: Veras & Evans (2012)

Je näher der Planet sich am galaktischen Zentrum befindet, desto kürzer ist die Periode der Störung. Die schwarze Kurve entspricht einem Planeten, dessen Stern sich nur 50 Parsec vom Zentrum entfernt entspricht!

Bei solchen Planeten spielen die galaktischen Gezeiten also eine wichtige Rolle bei der Beurteilung der Stabilität. Noch kennen wir keine solchen Planetensysteme und können die Berechnungen von Veras und Evans nicht anhand von Beobachtungen überprüfen. Aber auch das wird nur noch eine Frage der Zeit sein. Das galaktische Zentrum ist zwar notorisch schwer zu beobachten, da große Wolken aus Gas und Staub den Blick verstellen. Aber ich bin sicher, dass die Astronomen über kurz oder lang auch hier eine Möglichkeit finden werden, Planeten zu entdecken. In ein paar Jahrzehnten werden wir einen vernünftigen Überblick über alle Planeten unserer Milchstraße haben. Und dann auch den Einfluss der galaktischen Gezeiten genau beobachten können.

25 Gedanken zu „Die Auswirkung der galaktischen Gezeiten auf die Stabilität der Planeten“
  1. Wie immer sehr begeisternd. Sag mal wäre es möglich dass du im Ars-Electronica Center in Linz einen Vortrag über Astromie hältst?
    Das würde mich ausserordentlich freuen.

    1. @REALM: Wenn mich jemand einlädt, komme ich überall hin. Musst halt die Leut vom Ars-Electronica Center überzeugen, dass sie mich für nen Vortrag einladen 😉 Ich kenn dort leider niemanden.

  2. Wie sind denn die erwähnten x-, y- und z-Achsen gewählt? Ich vermute mal, dass die z-Achse die Rotationsachse der Galaxie darstellt oder? Und warum gibt es da Unterschiede zwischen x- und y- Richtung?

  3. nur eine kleinigkeit bei der ersten Abb.: „(links ist die Einheit 100000 Astronomische Einheiten, rechts sind es parsec)“

    wenn ich nicht irre, ist es umgekehrt 😉

    sehr interessanter artikel!

  4. Und warum gibt es da Unterschiede zwischen x- und y- Richtung?

    Ich schätze mal, das eine ist radial(x) und das andere tangential (y).
    In radialer Richtung hast du also noch einen Gravitationsgradienten in Richtung Zentrum mit dabei.

  5. Interessant, wenn ich mich auch erstmal mehr einlesen muss…merke, das ich gerade erst anfange mich dafür zu interessieren also habt ein bisschen Geduld mit mir, wenn ich hier die ein oder andere Frage stelle:-)danke

  6. Florian, würdest Du fürn Vortrag auch nach Köln kommen? Die Schule meines Sohnes wäre da sicher offen und da finden auch oft gute Veranstaltungen statt. Wie z.B. der Vortrag mit Scary Guy. Das ist der nette, tätowierte Typ, der überall unterwegs ist und Toleranz und Nächstenliebe vermittelt. Echt ne tolle Sache..

    1. @Irische Seemöve: „Florian, würdest Du fürn Vortrag auch nach Köln kommen?“

      Wenn man mich einlädt, komm ich überall hin. Gerne auch in Schulen.

  7. Interessanter (für mich neuer) Aspekt. Wieder was gelernt!

    Allerdings verwirrt mich der vorletzte Satz etwas:

    „In ein paar Jahrzehnten werden wir einen vernünftigen Überblick über alle Planeten unseres Planetensystems haben. “

    Um es mal so auszudrücken: Hä?

    1. @Seemöwe: Hier gibts ein paar Typen die es lustig finden, mich und mein Blog mit immer den gleichen blöden Emails und Kommentaren zu nerven. Die fliegen aber immer schnell wieder raus.

  8. Hallo Florian,

    im Februar beginnt in unserer Schule (Stolberg Rhld. Realschule I) die Projektwoche. Mich würde interessieren ob du bei uns vielleicht vorbei kommen könntest? Kostet das was? Ich habe zwar noch nicht mit meinem Projektleiter gesprochen, würde es aber dann sobald machen.

    1. @Stefan: „Mich würde interessieren ob du bei uns vielleicht vorbei kommen könntest? Kostet das was?“

      Naja, zu Schreiben und Vorträge zu halten ist mein Job. Insofern kann ich das nicht kostenlos machen; ich muss auch von irgendwas leben.

  9. Wenn ich mir das vorstelle und dann das Foto der beiden Galaxien nehme.. wie wirkt sich denn soetwas auf die Planetensysteme aus? Man hat ja „plötzlich“ eine enorme Masse, die aus einer ganz anderen Richtung wirkt als der Bulge der eigenen Galaxie.

    1. @patec: Die Planeten sind gravitativ an die Sterne gebunden. Denen passiert bei so ner galaktischen „Kollision“ gar nix. Vor allem auch, weil die ein paar Milliarden Jahre dauert. Der Stern selbst wird seine Position verändern; vielleicht sogar aus der Galaxie rausgeworfen. Aber die Planeten stört das wenig.

    1. @birne: Weil sich das Gravitationsfeld der Galaxie ändert. Die Galaxis ist ja keine Sphäre, sondern – abgesehen vom Bulge – scheibenförmig. Deswegen ändert sich die Gezeitenkraft, wenn die Bahn gegenüber der Scheibe geneigt ist.

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