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Eine Buchempfehlung! Tom Standage kannte ich bis jetzt nur von seinem hervorragenden Buch über die Entdeckung des Planeten Neptun („The Neptune File“ bzw. „Die Akte Neptun“). Er hat aber auch noch jede Menge andere Bücher geschrieben. Zum Beispiel „The Victorian Internet“ (auf deutsch: Das Viktorianische Internet). Es geht um die Technik im 19. Jahrhundert. Und um das „Internet“, das damals existierte…

Gemeint ist damit der Telegraph. Standage beschreibt, wie er erfunden wurde, welche Schwierigigkeiten bei der Vernetzung der Welt überwunden werden mussten, und wie die Menschen durch den Telegraphen verändert wurden. Es ist ein faszinierendes Stück Technikgeschichte und ebenso faszinierend erzählt.

Dass elektrischer Strom zur Übermittlung von Nachrichten verwendet werden könnte, war den Menschen ziemlich schnell klar, schon im im 18. Jahrhundert gab es entsprechende Experimente. Trotzdem dachte niemand diese Idee konsequent zu Ende. Stattdessen baute man überall in Europa optische Telegraphen: Große Türme, die in Sichtweite zueinander standen und die Signale durch mechanische Vorrichtungen übermitteln konnten. Dazu baute man zum Beispiel hölzerne Signalarme, die mit Hebeln aus dem Inneren des Turms bewegt werden konnten. Jeder Buchstabe des Alphabets entsprach einer anderen Stellung der Signalarme (Fans von Terry Pratchetts Scheibenweltromanen werden darin das System der „clacks“ wieder erkennen). Die optische Telegraphie funktionierte gut. Aber nur, wenn es hell war, wenn kein Nebel herrschte und die Türme mussten in Sichtlinie stehen. Eine elektrische Verbindung wäre viel einfacher und unkomplizierter. Trotzdem sah kaum jemand das Potential, das in einem elektrischen Telegraph steckte.

Das lag vor allem daran, dass die Welt keine Erfahrung mit Elektrizität hatte. Heute können wir uns das nicht mehr vorstellen. Jeder von uns benutzt Tag für Tag ein paar Dutzend verschiedene elektrische Geräte. Damals gab es keine. Und das war ein Problem – denn man brauchte ja irgendwas, das anzeigt, ob gerade Strom durch eine Leitung fließt oder nicht. Glühbirnen wurden erst später erfunden; genauso wie alle anderen elektrischen Standardgeräte. Es gab natürlich Erfinder, die sich entsprechende Vorrichtungen ausdachten, in denen z.B. kleine Kügelchen durch den Strom statisch aufgeladen wurden, kurz schwebten und so den Strom anzeigten. Aber das wurde von der Bevölkerung und den Verantwortlichen mehr als technische Spielerei angesehen und nicht als Chance für eine revolutionäre Erfindung. Erst Samuel Morse (in Amerika) und William Cooke (gemeinsam mit Charles Wheatstone) in England bauten praktikable Geräte, mit denen tatsächlich Nachrichten über lange Strecken übermittelt werden konnte.

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Telegraphenleitung durch Australien (Bild: Mart Moppel, CC-BY-SA 2.0)

Und immer noch dauerte es, bis die Menschen das volle Potential des Telegraphen erkannten. Als dann aber die praktischen Schwierigkeiten (die Standage anschaulich im Buch beschreibt) überwunden waren; als man Telegraphenkabel durch die Weltmeere verlegt und die ganze Welt vernetzt hatte, begann der Siegeszug der Telegraphie. Geschäftsleute nutzten die Drähte, um fast in Echtzeit über Entwicklungen an Börsen und den Märkten informiert zu sein und Geschäfte per Telegraph abzuwickeln (und Gauner nutzen den Telegraphen, um Geld auf kriminelle Art und Weise zu verdienen). Andere beschwerten sich – so wie heute über das Internet – über den Telegraphen und die Schnelllebigkeit der Zeit, die es einem Geschäftsmann nicht mehr möglich machte, Abends in Ruhe bei seiner Familie zu sein, weil jederzeit ein Telegramm eintreffen kann, dass ihn wieder zur Arbeit zwingt.

Die Leute machten sich Sorgen um Privatsphäre und Datenschutz. All ihre Nachrichten konnten ja von den Mitarbeitern der Telegraphenämter gelesen werden! Also dachten sie sich Codes aus, um ihre Telegramme zu verschlüsseln. Die Telegraphenämter verboten viele dieser Codes, weil es einfach viel schwieriger bzw. fehleranfälliger war und länger dauerte, irgendeinen Kauderwelsch zu telegraphieren anstatt vernünftige Sätze. Also entwickelten die Leute Geheimsprachen, bestehend aus echten Wörtern und Sätzen… Die Telegraphen selbst nutzten das „Netz“ in ihrer Freizeit als privates Forum um sich über alles mögliche auszutauschen. Thomas Edison, einer der bei der Weiterentwicklung des Telegraphen eine wichtige Rolle spielte und selbst lange bei Telegraphenfirmen arbeitete, meinte allerdings, dass es sich dabei sehr oft um schweinische Geschichten handelte, die viel zu ordinär und pornografisch seien, um in der Öffentlichkeit erzählt zu werden…

So wie heute das Internet sollte auch schon der Telegraph das Ende der Zeitungen einläuten. Und so wie heute stimmte es nicht. Was nicht heißt, dass der Telegraph die Zeitungen nicht enorm verändert hat. Wo früher Monate zwischen Ereignis und Zeitungsartikel liegen konnten, waren es nun nur noch Stunden. Durch den Telegraphen entstanden auch die ersten Nachrichtenagenturen, die Zeitungen mit immer neuen Informationen belieferten.

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Ein Telegramm aus dem Jahr 1930 (Bild: NatalieMaynor, CC-BY 2.0)

Man kann darüber streiten, wie stark nun die Parallele zwischen Telegraph und Internet wirklich ist. Man kann leicht viele Gemeinsamkeiten konstruieren (ich hab ja auch schon mal über Wissenschaftsblogger im 17. Jahrhundert geschrieben). Aber natürlich gibt es auch viele Unterschiede. Außer Zweifel steht, dass der Telegraph in gewisser Weise der Vorläufer des Internets ist. Eine direkte Konsequenz aus seiner Weiterentwicklung stellte das Telefon dar. Alexander Bell wollte eigentlich einen besseren Telegraphen bauen, als er dabei entdeckte, dass sich auch die menschliche Stimme durch Drähte schicken ließ. Das Telefon schaffte den Telegraphen weitesgehend ab, verhalf ihm aber in Form der modernen Telekommunikation und des Internets wieder zur Auferstehung. Im Schlusswort meint Standage sogar, dass die SMS-Nachrichten von heute nichts anderes sind, als die Telegramme der Vergangenheit. Die deutsche Post verschickt übrigens immer noch Telegramme, auch wenn wohl keiner mehr Morsecode über irgendwelche Drähte schickt…

„The Victorian Internet“/„Das Viktorianische Internet“ ist absolut lesenswert! Das Buch erklärt nicht nur verständlich die Technik und die Entwicklung des Telegraphen sondern steckt auch voll mit lustigen Anekdoten über die telegraphische Community und das Leben der Menschen mit der neuen Technik. Ich kann es euch nur sehr empfehlen.

20 Gedanken zu „Das Viktorianische Internet“
  1. Thomas Edison, einer der bei der Weiterentwicklung des Telegraphen eine wichtige Rolle spielte und selbst lange bei Telegraphenfirmen arbeitete, meinte allerdings, dass es sich dabei sehr oft um schweinische Geschichten handelte, die viel zu ordinär und pornografisch seien, um in der Öffentlichkeit erzählt zu werden…

    Auch da hat sich im neuen Internet nichts geändert.

    „Kaufen Sie jetzt: das gesamte Internet auf 3480 DVDs!! Auf Wunsch auch die Familien-Edition ohne P0rn auf 3 CDs.“
    🙂

  2. Ich erinnere mich, daß wir Anfang der 70er aus dem Büro mit wildfremden Leuten per Telex gechattet haben, verbotenerweise natürlich.
    Was die Semaphoren angeht, erinnert es mich an Keith Roberts „Pavane“ aus dem alternate timeline Genre.

  3. …übrigens waren Telegraphen für die Flugschiffmeldungen in den USA Ende des 19ten Jahrhunderts mitverantwortlich die sie sich gegenseitig zuschickten Die werden gerne als Vorläufer des „modernen“ UFO- Phänomens gesehen. Doch damals wie heute haben die Medien ( damals Zeitungen) für diesen Mythos gesorgt.

    (An alle Fliegenden Untertassen- Fans: Wer darüber diskutieren will soll sich bitte erst die Bücher darüber von Ulrich Magin besorgen und dessen Ausführungen darüber in Fachzeitschrften wie z.B. der Fortian Times)

  4. Heimat 🙂
    Auf dem Danzturm in Iserlohn kann man einen optischen Telegrafen besichtigen. Er ist Teil der 1833 eingerichteten Strecke Berlin-Koblenz. Die nächsten Stationen waren der Ort „Telegraf“ bei Veserde und danach die Hohensyburg in Dortmund/Hagen. Auf der Hohensyburg gibt es aber nicht einmal ein Hinweisschild.

  5. @Ohrenmaschinist: „..-. .- -… . .-.. …. .- ..-. – . .-. .- .-. – .. -.- . .-.. „

    -.. .- -. -.- . / ..-. ..– .-. / -.. .- … / .-.. — -…

  6. HF· 09.02.12 · 12:34 Uhr: „Auf Draht sein“ ist die deutsche Variante von „online“.

    Sehr gut. Muss ich mir merken. Ich kenne da einen Cartoon, wo der Junge eine Schublade öffnet und weiß bestäubt ist: „Iiih, Mehl!“ und draußen Mutter sagt: „Ich bring mal die Wäsche online!“ Perscheid?

    Was, Telegramme gibts noch? Ich dachte, die seien vor ein paar Jahren feierlich beerdigt worden? Oder war das Telex?

    Die Akronyme(?) der SMSen sind übrigens die selben wir vor 30 Jahren im Telex:“pls answer asap, thx“

    Die Firma Lurgi (größtes deutsches Ing-Büro https://de.wikipedia.org/wiki/Lurgi) hat ihren Namen übrigens aus so einer Verkürzung:“metalLURGIsche Gesellschaft“. Weia, Ende der 80er waren das noch 4.000 Mitarbeiter, davon 3.000 Ings, vor 8 Jahren keine 1.000 mehr! Naja, Ausgliederungen und so.

  7. Interessanter Artikel. Im Prinzip ist das Internet nur eine technisch enorm weiterentwickelte Form der Telegrafie mit viel Automatismus.
    Es werden ja auch heutzutage noch im LAN Ethernet-*Telegramme* verschickt, mit 0-1 Kodierung. Im Prinzip hätte man damals auch mit nem Telegraphen html-Dateien versenden können.

  8. da HTTP sich im Application-Layer (OSI Level-7) befindet kannst du das über beliebige Medien transportieren, ggf. sogar über Brieftauben oder Formationstanz. Genauer ist so ziemlich alles außer Layer 1 (by definition, das ist der physical layer) bzw. teilweise layer 2 (Data Link, also Ethernet, PPTP und Co) unabhängig vom Transportmedium, IP-Pakete über Brieftauben und Ping via Bongotrommeln wurde schon realisiert – natürlich ohne praktische Anwendbarkeit).

    Interessanter fand ich die These, dass wenn sich Handys (und SMS) früher entwickelt hätten heute alle Schüler perfekt morsen könnten – und das deutlich unauffälliger, als eine SMS im Unterricht zu tippen – klopfen auf die Hosentasche reicht 😀

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