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Sternengeschichten Folge 624: Was ist eine Singularität?

Das Wort „Singularität“ klingt irgendwie aufregend. Und ursprünglich stammt es ja auch vom lateinischen Begriff „singularis“, der „einzigartig“ bedeutet. Etwas einzigartiges ist immer spannend. Und in der Wissenschaft werden mit „Singularität“ jede Menge einzigartige, spannende und faszinierende Themen bezeichnet. Ich möchte aber heute nicht über die Singularität in der Meteorologie reden, womit ungewöhnliche Abweichungen vom üblichen Wetter bezeichnet werden, auch nicht von geographischen Singularitäten, also irgendwelchen auffälligen Bergen, die mitten in der flachen Landschaft stehen oder so. Ich möchte auch ganz explizit nicht über die technische Singularität sprechen, wo ja irgendwelche Leute mit mehr oder meistens weniger guten Argumenten behaupten, das irgendwann in Zukunft eine unvorstellbar mächtige Künstliche Intelligenz die Welt übernimmt. Das sind zwar auch alles interessante Themen, aber in diesem Podcast geht es um die Astronomie und das Weltall, also erzähle ich heute etwas über die astronomischen Singularitäten und die Frage, ob sie auch nackt sein können.

Zuerst müssen wir aber einmal klären, was eine „Singularität“ in der Astronomie überhaupt sein soll. Meistens hört man dieses Wort in Verbindung mit schwarzen Löchern, aber das ist nicht die ganze Geschichte. Ganz allgemein ist eine Singularität ein Ort, an dem die Gravitation so stark ist, dass die Krümmung der Raumzeit divergiert. Da kann man sich aber nicht sonderlich viel vorstellen, also braucht es ein bisschen mehr an Erklärung. Fangen wir mit ein paar sehr groben Vereinfachungen an und nähern uns dann Stück für Stück der Realität. Und der Ort, an dem wir anfangen, ist der Nordpol der Erde. Oder der Südpol, das ist egal, aber wir müssen uns für einen entscheiden, also nehmen wir den Nordpol. Und wenn wir dort angekommen sind, können wir uns fragen, wie unsere Position ist. „Am Nordpol, was sonst!“ gilt nicht als Antwort, wir brauchen die geografische Länge und die geografische Breite. Letzteres ist einfach: Wir sind bei 90 Grad Nord, denn genau so ist es am Nordpol definiert. Aber auf welcher Länge sind wir? Also wie weit östlich oder westlich befinden wir uns von der Linie, die man vom Nordpol durch die Sternwarte von Greenwich zum Südpol ziehen kann (denn diese Linie ist der Nullmeridian der Längenmessung)? Die Antwort darauf ist nicht nur schwierig zu finden, es ist unmöglich. Berlin zum Beispiel hat eine geografische Länge von ein bisschen über 13 Grad Ost. Das bedeutet, die Linie, die ich vom Nordpol durch Berlin zum Südpol ziehen kann, liegt 13 Grad östlich des Nullmeridians. Aber auch diese Linie startet eben am Nordpol. ALLE Längengrade der Erde verlaufen durch den Nordpol und den Südpol und diese beiden Punkten haben schlicht keine geografische Länge. Es ist unmöglich, einen Längengrad des Nordpols anzugeben, weil alle Längengrade der Erde dort durchlaufen. Der Nordpol ist in dieser Hinsicht eine Singularität, aber es nicht die Art von Singularität, die in der Astronomie eine Rolle spielt. Der Nordpol ist eine sogenannte Koordinatensingularität, sie ist quasi nicht „echt“. Und tatsächlich würden wir auch nichts besonders bemerken, wenn wir am Nordpol stehen – außer dass es sehr kalt ist. Aber dort hört die Erde nicht zu existieren auf; es ist ein Punkt wie jeder andere auf der Erdoberfläche. Die Probleme mit dem Längengrad können wir verschwinden lassen, wenn wir einfach andere Koordinaten als die geografische Länge und Breite verwenden. In der Astronomie haben wir es aber mit einer intrinsischen Singularität zu tun, die man nicht zum Verschwinden bringen kann. Dort IST tatsächlich irgendwas im Raum, dass einzigartig ist; es handelt sich um reale, physikalische Eigenschaften.

Genauer gesagt: Es handelt sich vor allem um eine ganz bestimmte physikalische Eigenschaft, nämlich die Krümmung der Raumzeit. Wir wissen ja seit Albert Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie, dass der Raum nicht nur auf besondere Weise mit der Zeit zusammenhängt, sondern auch gekrümmt ist und dass es die Anwesenheit von Masse ist, die dafür sorgt, dass sich die Raumzeit krümmt. Objekte, genau so wie Lichtstrahlen, folgen bei ihrer Bewegung dieser Krümmung und wenn da jetzt zum Beispiel ein Stern ist, wie die Sonne, der mit seiner Masse den Raum krümmt und ein Planet wie die Erde sich in der Nähe des Sterns bewegt, dann sorgt die Raumkrümmung dafür, dass der Planet um den Stern herum läuft. Das sieht so aus wie eine Kraft, nämlich die Gravitationskraft, die der Stern auf die Erde ausübt, in Wahrheit ist es aber ein Resultat der Krümmung des Raums. Soweit ist das alles weder neu, noch hat es etwas mit der Singularität zu tun. Interessant wird es, wenn – wie ich vorhin gesagt habe – die Krümmung der Raumzeit divergiert. Und „divergieren“ beziehungsweise „Divergenz“ ist ein Begriff aus der Mathematik, der so viel heißt wie „hat keine Grenze“.

Was das in unserem Fall bedeutet kann man mit einem nicht ganz so mathematisch exaktem Beispiel erklären. Wenn wir uns anschauen, wie ein Stern entsteht, dann passiert das, in dem eine große Wolke aus kosmischen Gas und Staub in sich zusammenfällt. Die Wolke wird also immer dichter und dichter und dichter – aber hier gibt es irgendwann eine Grenze. Dann nämlich, wenn die Temperatur in der Wolke hoch genug ist, dass Kernfusion einsetzen kann. Die Fusion erzeugt Strahlung, die dringt nach außen, drückt dabei – vereinfacht gesagt – gegen das kollabierende Gas und hält den Zusammenfall auf. Die Dichte erreicht einen von der Temperatur abhängigen Maximalwert und wird nicht größer. Dadurch kann auch die Krümmung der Raumzeit, die der Stern verursacht nicht beliebig groß werden. Wenn wir uns jetzt aber vorstellen, dass es keinen Mechanismus wie die Kernfusion gibt, der den Kollaps der Wolke aufhält und die Materie tatsächlich immer dichter und dichter und dichter wird: Was dann? Dann gibt es keine Grenze, die Dichte der Wolke wird irgendwann in einem Punkt unendlich groß und damit auch die Krümmung der Raumzeit. Das ist gemeint, wenn man sagt, dass die „Krümmung der Raumzeit“ divergiert. Und der Ort, an dem so eine unendliche Krümmung auftritt, ist eine Singularität. Die aber, wenn man es mathematisch wieder ein bisschen exakter betrachtet, gar kein „Ort“ im eigentlich Sinn ist. Denn auch die Metrik der Raumzeit divergiert dort. Über Metriken habe ich ja in Folge 617 schon gesprochen. Das ist, simpel gesagt, die Art und Weise, wie wir Abstände definieren beziehungsweise die Form des Raums selbst beschreiben. Wenn aber die Metrik selbst in einer Singularität divergiert und nicht definiert ist, dann kann man die Singularität auch nicht als Teil der Raumzeit betrachten. Es ist ein bisschen so wie vorhin beim Nordpol und der nicht definierten geografischen Länge. Nur dass man dieses Problem bei einer Singularität eben nicht einfach mit ein paar mathematischen Tricks verschwinden lassen kann. Im Gegensatz zum Nordpol ist eine Singularität tatsächlich ein Ort, der außergewöhnlich und anders als die anderen Orte im Raum ist.

So weit, so gut. Aber jetzt kann man natürlich fragen, ob das auch wirklich relevant ist. Man kann ja leicht sagen: Die Dichte wird immer größer und größer und größer und die Krümmung der Raumzeit divergiert. Aber nur weil man das sagen und mathematisch formulieren kann, folgt daraus ja nicht, dass es so etwas auch in echt geben muss. Und tatsächlich hat man in der Astronomie die Singularität lange Zeit auch nur als mathematische Kuriosität betrachtet, die in der Realität keine Rolle spielt. Bis dann in den 1960er Jahren die britischen Physiker Roger Penrose und Stephen Hawking kamen.
Sie entwickelten das sogenannte „Singularitäten-Theorem“. Ohne jetzt auf die durchaus komplizierten Details einzugehen, haben sie gezeigt, dass man nicht einfach so tun kann, als hätte man es nur mit einer mathematischen Besonderheit ohne Auswirkung auf die Realität zu tun. Wenn man die Gültigkeit von ein paar sehr einfachen und fundamentalen Bedingungen voraussetzt, zum Beispiel dass Energie immer erhalten sein muss oder dass man nicht gleichzeitig in der Gegenwart und seiner eigenen Zukunft existieren kann, dann folgt die Existenz von Singularitäten direkt aus der Natur der Gravitation. Oder anders gesagt: Wenn wir davon ausgehen, dass die Gravitation so funktioniert wie Albert Einstein das mit seiner allgemeinen Relativitätstheorie beschrieben hat und wenn das bedeutet, dass die Gravitationskraft eine immer anziehende Kraft ist, dann kann das Singularitäten-Theorem beweisen, dass damit auch die Existenz einer Singularität folgen muss. Sie ist keine mathematische Absurdität sondern quasi fix in die Natur der Gravitation eingebaut. Unter bestimmten Bedingungen kann die Krümmung der Raumzeit nicht anders, als eine Singularität zu formen.

Eine dieser Situationen ist der Kollaps eines großen Sternes, wie ich ja schon öfter hier im Podcast erklärt habe. Wenn der Stern ausreichend viel Masse hat, gibt es nichts, was verhindern kann, dass er immer weiter in sich zusammenfällt. Und das bedeutet, dass dort die Krümmung der Raumzeit divergiert: Es bildet sich eine Singularität. Das ist aber nicht die einzige Singularität, es gibt auch eine „Anfangssingularität“, nämlich den Urknall. Auch unser Modell des gesamten Universums startet aus dem Zustand einer Singularität heraus, die sich ebenso wenig vermeiden lässt, wie die Singularität beim Kollaps eines großen Sterns.

Ein Problem bleibt aber noch: Es kann keine Singularität geben. Im realen Universum kann nicht wirklich ein Punkt existieren, an dem die Massendichte unendlich groß ist. Oder die Krümmung der Raumzeit unendlich groß ist. Zum Zeitpunkt des Urknalls kann die Temperatur nicht unendlich groß gewesen sein. Und so weiter: Unendlichkeiten dieser Art können in der Realität nicht existieren. Lassen wir die Sache mit dem Urknall jetzt mal beiseite und bleiben beim schwarzen Loch. Wir wissen, dass es diese Objekte gibt, das haben wir mittlerweile ohne Zweifel nachgewiesen. Wir wisse aber NICHT, ob da irgendwo wirklich eine Singularität ist. Denn wenn sich ein schwarzes Loch bildet, kommt irgendwann der Punkt, an dem die Dichte und die Krümmung der Raumzeit so groß wird, dass Lichtstrahlen nicht mehr aus ihrer Umgebung entkommen können – und auch sonst nichts. Es bildet sich ein Ereignishorizont um den kollabierenden Stern. Und nur diesen Ereignishorizont können wir von außen beobachten. Da von dahinter kein Licht entkommen kann, sehen wir auch nicht, was dort passiert. Das was dahinter passiert kann den Rest des Universums auch nicht beeinflussen, denn nichts – kein Licht, keine Materie, keine Kraft, gar nichts – kann von innerhalb des Ereignishorizontes nach außen dringen. Es ist fast so, als wüsste das Universum, dass wir ein Problem mit Singularitäten haben und verhindert durch die Existenz eines Ereignishorizontes, dass wir irgendwas davon mitbekommen und nicht einmal wissen, ob da jetzt wirklich eine Singularität ist, oder nicht. Und tatsächlich hat Roger Penrose – der u.a für seine Arbeit am Singularitätentheorem den Physik-Nobelpreis bekommen hat – diese Idee unter dem Begriff „Kosmische Zensur“ bekannt gemacht.

Wir könnten uns jetzt also damit abfinden, dass die Frage nach den Singularitäten durch die Naturgesetze quasi zensiert wird und wir uns die Arbeit sparen können, darüber nachzudenken. Aber natürlich haben wir darüber nachgedacht, insbesondere über die Frage, ob es auch „nackte Singularitäten“ geben kann. Damit ist eine Singularität gemeint, bei deren Entstehung sich KEIN Ereignishorizont ausbildet. Das klingt erstmal unmöglich, aber man hat schon in den 1970er Jahren zeigen können, dass es das nicht unbedingt ist. Hat man zum Beispiel einen unendlich langen Zylinder, der nicht rotiert und würde DER in sich zusammenfallen, dann würde man eine Singularität bekommen, aber keinen Ereignishorizont. Ok, es gibt keine unendlich langen Zylinder im Universum. Aber man kann auch zeigen, dass manche schwarze Löcher ihren Ereignishorizont verlieren oder gar nicht erst bekommen, zum Beispiel wenn sie sehr, sehr schnell rotieren. Warum das so ist, ist ohne viel Mathematik nicht so einfach zu erklären. Es kommt unter anderem darauf an, ob so ein Kollaps in alle drei Raumrichtungen gleichzeitig erfolgt oder ob die Materie in bestimmten Richtungen nicht oder langsamer kollabiert.

Wenn es tatsächlich nackte Singularitäten gibt, wäre das natürlich super. Denn dann könnten wir – zumindest theoretisch – einfach nachschauen, was da denn jetzt wirklich los ist, wenn die Raumzeit sich scheinbar ohne Grenze immer weiter krümmt und krümmt. Und ich habe jetzt deswegen „scheinbar“ gesagt, weil es am Ende ja sehr wahrscheinlich doch so sein muss, dass wir da irgendwas übersehen haben. Es ist offensichtlich, dass wir zwar sehr gut verstanden haben, wie die Gravitation funktioniert, aber wir sie noch ein bisschen besser verstehen müssen. Wenn es um Singularitäten geht, also um Phänomene, bei denen ja nicht nur bestimmte Parameter unendlich groß werden, sondern andere – wie die Ausdehnung – unendlich klein, dann braucht man auch die Quantenmechanik. Wir haben es aber immer noch nicht geschafft, die Beschreibung des Allerkleinsten mit der Beschreibung der Gravitation vernünftig zusammen zu bringen. Beide Theorien widersprechen einander in genau den Bereichen, die wir verstehen müssten, wenn wir verstehen wollen, wie das mit den Singularitäten wirklich ist. Erst wenn wir eine echte Quantentheorie der Gravitation haben, werden wir auch wissen, ob es wirklich Singularitäten im Universum gibt – und ob sie dabei nackt oder angezogen sind.

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