Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 569: Galaktische Gezeiten
Wenn man von Gezeiten spricht, denkt man zuerst an den Mond. Kein Wunder, denn die Gezeiten, die wir hier auf der Erde erleben sind ja auch höchst beeindruckend. Ebbe und Flut an den Küsten der Meere haben im Laufe der Geschichte großen Einfluss auf unsere Kultur gehabt, auf den Handel, die Schifffahrt, und so weiter. Und diese Gezeiten werden vom Mond verursacht.
Oder besser gesagt: Sie werden auch vom Mond verursacht. Für ein Drittel der Gezeitenwirkung die wir beobachten, ist die Sonne verantwortlich. Denn die Gezeiten sind nichts, was speziell mit dem Mond zu tun hat. Gezeitenkräfte sind ein viel umfassenderes Phänomen. Gezeiten sind eine spezielle Auswirkung der Gravitationskraft. Jeder Körper mit Masse übt eine Gravitationskraft auf jeden anderen Körper mit Masse aus und zwar umso stärker, je größer die beteiligten Massen sind und je geringer der Abstand zwischen ihnen ist. Bei den Gezeiten kommt es aber nicht auf die Stärke der Gravitationskraft an, sondern auf den Unterschied zwischen Gravitationskräften.
Das bedeutet, dass es um einen Gradient in der Gravitationskraft geht und DAS bedeutet, dass die Gezeiten etwas sind, was entsteht, wenn an unterschiedlichen Orten unterschiedlich starke Gravitationskräfte wirken. Ich habe in Folge 161 der Sternengeschichten schon sehr ausführlich erklärt, wie die Gezeiten auf der Erde verursacht werden und wir haben festgestellt, dass das im Detail eine ziemlich knifflige Angelegenheit ist. Aber die Grundlage des Phänomens besteht darin, dass unterschiedliche Orte der Erdoberfläche unterschiedlich weit vom Mond entfernt sind. Und weil die Stärke der Gravitationskraft eben auch vom Abstand abhängt, ist auch die Gravitationskraft, die der Mond auf diese unterschiedlichen Orte ausübt, unterschiedlich stark – selbst wenn es nur um ein paar tausend Kilometer Unterschied im Abstand zum Mond geht. Diese Unterschiede sind natürlich trotzdem gering, aber sie können sich in den Ozeanen der Erde so auswirken und verstärken, dass am Ende Ebbe und Flut entstehen.
Dass der Mond für den Großteil der Gezeitenwirkung verantwortlich ist, liegt nur daran, dass er der Erde so nahe ist. Die Sonne ist deutlich weiter entfernt, hat aber auch eine viel größere Masse. Insgesamt reich das aus, dass auch sie noch eine relevante Gezeitenkraft ausüben kann, weil eben auch unterschiedliche Orte der Erde unterschiedlich weit von der Sonne entfernt sind. Sie sind auch unterschiedlich weit von der Venus weg, dem Mars, und so weiter. Aber abseits von Sonne und Mond sind alle anderen Himmelskörper des Sonnensystems entweder zu klein, zu weit entfernt oder beides, so dass die von ihnen ausgeübte Gezeitenkraft vernachlässigbar gering ist.
Aber wir müssen im Sonnensystem ja nicht halt machen. Wie gesagt: Gezeiten sind ein ganz allgemeines Phänomen. Womit wir jetzt bei den galaktischen Gezeiten sind. Wenn wir eine Galaxie wie unsere Milchstraße in ihrer Gesamtheit betrachten, dann übt sie natürlich ebenfalls eine Gravitationskraft aus. All die Sterne, die Gaswolken, die dunkle Materie und der Rest aus dem sie besteht hat Masse und mit dieser Masse erzeugt sie eine Gravitationskraft mit der sie zum Beispiel andere Galaxien in ihrer Umgebung beeinflusst. Die Masse in der Galaxis ist aber nicht gleichmäßig verteilt. Im Zentralbereich der Milchstraße sind die Sterne dicht gedrängt; dort finden sich auch sehr viel mehr Sterne als weiter außen und auch das supermassereiche schwarze Loch sitzt dort. Im Gegensatz zu den dünn besiedelten äußeren Regionen der Milchstraße übt die Zentralregion also eine starke Gravitationskraft aus.
Unser Sonnensystem liegt ungefähr 25.000 Lichtjahre von dieser Zentralregion entfernt. Wenn wir jetzt also eine Linie durch die Sonne zum Zentrum der Milchstraße ziehen, dann wird die Gravitationskraft entlang dieser Linie in Richtung Zentrum immer stärker und in die andere Richtung immer schwächer. Stellen wir uns vor, dass die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne gerade an dem Punkt angelangt ist, der dem galaktischen Zentrum am nächsten ist. Dann wird sie eine stärkere Gravitationskraft spüren als wenn sie sich auf dem genau gegenüberliegenden Punkt befindet. Sie ist also Gezeitenkräften ausgesetzt, die vom Zentrum der Galaxis ausgeübt werden. Hat das irgendwelche Auswirkungen und wenn ja, welche?
Nun: Der Abstand zwischen Erde und Sonne beträgt 150 Millionen Kilometer. Der Abstand zwischen zwei einander gegenüberliegenden Punkten ihrer Bahn beträgt das doppelte, also 300 Millionen Kilometer. Das ist nichts im Vergleich zu den 25.000 Lichtjahren Abstand zum galaktischen Zentrum. Das ist 800 Millionen mal weiter entfernt! Die Gravitationskraft der nahen Sonne ist der absolut dominierende Einfluss auf die Erde; ob sie 300 Millionen Kilometer näher oder weiter weg vom galaktischen Zentrum ist, spielt für sie absolut keine Rolle. Die galaktischen Gezeiten sind für die Erde irrelevant.
Aber das bedeutet nicht, dass man diese galaktischen Gezeiten komplett ignorieren könnte. Bleiben wir noch ein wenig im Sonnensystem. Die Erde ist der Sonne relativ nahe, aber es gibt auch Himmelskörper, die weiter entfernt sind. Die Asteroiden im Kuipergürtel hinter der Neptunbahn zum Beispiel. Oder die noch weiter entfernten Objekte in der Oortschen Wolke. Da kann der Abstand zur Sonne bis zu einem Lichtjahr betragen und das ist eine ganz andere Situation. In diesen fernen Regionen ist die Gravitationskraft der Sonne so schwach, dass die Kometen und Asteroiden der äußeren Oortschen Wolke ebenfalls nur extrem schwach an die Sonne gebunden sind. Sie bewegen sich nahe der Grenze, an der es überhaupt keine Bindung mehr gibt und der gravitative Einfluss der anderen Sterne in der Nachbarschaft überwiegt. Das ist das Konzept der Hill-Sphäre das ich in Folge 257 der Sternengeschichten schon ausführlich erklärt habe. Die Hill-Sphäre um einen Körper herum ist der Bereich, in dem seine eigene Gravitation dominiert. Der Mond befindet sich zum Beispiel in der Hill-Sphäre der Erde; wäre er weiter weg, würde er sich unabhängig von uns um die Sonne bewegen und nicht noch zusätzlich um die Erde kreisen.
Und die Objekte in der Oortschen-Wolke sind eben gerade noch so innerhalb der Hill-Sphäre der Sonne. Das bedeutet, dass schon geringste Störungen reichen können, um sie der Sonne zu entreißen. Und die galaktischen Gezeiten können genau so eine geringe Störung sein. Wie genau der Einfluss der galaktischen Gezeiten auf die Oortsche Wolke des Sonnensystem ist, wissen wir allerdings nicht. Wir können das in Computersimulationen untersuchen und wissen daher, dass es möglich ist. Wir gehen davon aus, dass die Störungen durch die galaktischen Gezeiten einer der Prozesse ist, durch den es dort draußen immer wieder mal unruhig wird und wodurch dann zum Beispiel auch Kometen ins innere Sonnensystem abgelenkt werden. Aber beobachten können wir das natürlich nicht; dafür ist die Oortsche Wolke viel zu weit entfernt.
Wir wissen aber, dass die galaktischen Gezeiten auch anderswo Einfluss haben. Es gibt zum Beispiel Doppelsterne, wo die beiden Sterne sehr weit voneinander entfernt sind; bis zu 10.000 mal weiter entfernt als die Erde von der Sonne. Galaktische Gezeiten können dazu führen, dass diese Systeme instabil werden. Und es gibt auch Planeten, die andere Sterne in enorm großer Entfernung umkreisen. Auch hier können die galaktischen Gezeiten dafür sorgen, dass solche Planetensysteme instabil werden.
Auch auf noch größerer Ebene zeigt sich der Einfluss: Wenn sich zwei Galaxien nahe kommen, dann sorgen die Gezeitenkräfte, die sie aufeinander ausüben, für enorme Verformungen. Galaxien können so ihre Spiralarme verlieren; interstellare Gaswolken können so durcheinander gewirbelt werden, das auf einen Schlag jede Menge neue Sterne entstehen, und so weiter.
Und vielleicht sind die galaktischen Gezeiten am Ende sogar für das Leben auf der Erde verantwortlich. Gut, das ist ein wenig weit hergeholt. Aber wir wissen, dass die chemischen Bausteine aus denen sich das Leben auf der Erde entwickelt hat, vermutlich durch die Einschläge von Asteroiden und Kometen gekommen sind. Einschlagen tun diese Objekte auch ohne galaktische Gezeiten – aber es gibt auch die Panspermie-Hypothese, von der ich in Folge 123 erzählt habe: Die Bausteine oder vielleicht sogar primitive Mikroorganismen selbst könnten anderswo im Weltall entstanden und mit Asteroiden und Kometen von Stern zu Stern gereist sein. Das ist, wie gesagt, eher unwahrscheinlich aber es ist nicht unmöglich. Und ein Mechanismus, der dafür sorgen kann, dass ein Stern Kometen und Asteroiden verliert, so dass sie sich auf den Weg zu anderen Sternen machen können, sind die galaktischen Gezeiten. Vielleicht verdanken wir unsere Existenz also einer großen kosmischen Abfolge von Ebbe und Flut.