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Sternengeschichten Folge 615: Astronomische Poesie
Die Beschäftigung mit den Sternen, den anderen Himmelskörpern, den Galaxien und dem Rest des Universums ist nicht nur Wissenschaft. Von Anfang an war der Himmel und das, was dort passiert, auch etwas, was Kunst, Literatur, Religion und so gut wie alle anderen Bereiche des menschlichen Lebens beeinflusst hat. Ich habe in früheren Folgen schon öfter über die Mythen des Sternenhimmels oder über die religiösen Aspekte der Astronomie gesprochen. Und natürlich auch über Science Fiction, den Bereich, wo Astronomie und Literatur bzw. Film am direktesten aufeinandertreffen. Aber heute möchte ich ein Blick auf die Poesie werfen. Wer nach Gedichten mit astronomischen Hintergründen sucht, wird schnell fündig werden. Nehmen wir zum Beispiel das, was Friedrich Schiller im Jahr 1797 unter dem Titel „An die Astronomen“ veröffentlicht hat. Was hat der große Dichter und Denker der Astronomie zu sagen? Das hier:
„Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und Sonnen,
Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen euch gibt?
Euer Gegenstand ist der erhabenste freilich im Raume,
Aber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht..“
Gut – ich will hier jetzt keine Gedichtinterpretation machen. Aber natürlich muss ich da dem guten Schiller schon ein wenig widersprechen. Wenn es nach mir geht, kann gar nicht genug von Nebelflecken und Sonnen geschwatzt werden. Aber immerhin hat er recht damit, wenn er sagt, dass unser Gegenstand, die Astronomie, „der erhabenste im Raume“ ist. Die Astronomie IST die beste Wissenschaft, was sonst. Wenn ich vermuten wollen würde, was Schiller damit meint, dann etwas in der Art von: Die wissenschaftliche Erforschung der Welt ist das eine, aber über diese materielle Forschung hinaus gibt es das „Erhabene“, dass von der Wissenschaft nicht erfasst werden kann. Oder so irgendwie. Das geht in eine ähnliche Richtung wie der Teil des Gedichts „Lamia“ des britischen Autors John Keats. 1819 hat er dort geschrieben:
„Denn flieht nicht aller Zauber vor den Tücken
Nüchterner Denkungsart? Da war einmal
Ein Regenbogen hehr am Himmelssaal:
Jetzt kennt man sein Gewebe, seinen Bau,
Die Wissenschaft erklärte ihn genau
Und rubrizierte ihn wie andre Dinge.
Philosophie wirft ihre kecke Schlinge
Um Engelsschwingen und um Zauberpracht
In Luft und Bergesschoß und Meeresnacht,
Zerreißt die Wunder.“
Keats beschwert sich darüber, dass die Welt weniger spannend wird, wenn die Wissenschaft sie nüchtern erklärt. Aber ich denke, da irrt er sich und sowohl Keats als auch Schiller würden die Sache vermutlich anders sehen, wenn sie heute leben würden und sehen könnten, was wir für fantastische Dinge herausgefunden haben. Ja, es gilt immer noch, das die Wissenschaft die Wissenschaft ist und die Kunst die Kunst. Und die Vermittlung von Wissenschaft muss noch viel aufholen. Aber dass das Universum da draußen nicht nur wissenschaftlich erforscht sondern auch schlicht und einfach wunderbar gefunden werden kann, sollte heute klar sein. Ebenso klar ist es meiner Meinung nach auch, dass die Wunder nichts von ihrer Faszination verlieren, wenn man sie verstanden hat. Oder, um den Physiker Richard Feynman zu zitieren: Es kommt immer nur Schönheit dazu!
Aber eigentlich soll sich diese Folge ja nicht mit Wissenschaftskritik in Gedichtform beschäftigen, sondern mit astronomischer Poesie. Schillers Freund Johann Wolfgang Goethe war nicht nur ein großer Dichter sondern auch Naturforscher. Er hat den Mond mit dem Teleskop betrachtet (unter anderem gemeinsam mit Schiller) und natürlich auch Gedichte darüber geschrieben. 1778 sogar eines, das den Titel „An den Mond“ trägt; mir ein bisschen besser gefällt sein Werk aus dem Jahr 1828 mit dem Titel „Dem aufgehenden Vollmond“, das mit folgenden Zeilen beginnt:
„“Willst du mich sogleich verlassen?
Warst im Augenblick so nah!
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da.“
Da kann man natürlich viel hinein interpretieren, auch nicht-astronomische Themen. Aber alle, die sich schon mal auf die astronomische Beobachtung gefreut haben und dann vor einem wolkigen Himmel gestanden sind, können nachvollziehen, was Goethe da schreibt.
Es gibt aber auch Gedichte, die wissenschaftliche Erkenntnisse sehr direkt widerspiegeln. Zum Beispiel den schönen Text „Der Mondberg-Uhu“ von Christian Morgenstern:
“Der Mondberg-Uhu hat ein Bein,
sein linkes Bein, im Sonnenschein.
Das rechte Bein jedoch des Vogels
bewohnt das Schattenreich des Kogels.Bis hundertfunfzig Grad im Licht
gibt Herschel ihm (zwar Langley nicht),
im Dustern andrerseits desgleichen
dasselbe mit dem Minuszeichen.Sein Wohl befiehlt ihm (man versteht),
daß er sich stetig ruckweis dreht.
Er funktioniert wie eine Uhr
und ist doch bloß ein Uhu nur.”
Ein Uhu, der auf einem Berg am Mond steht, scheint nicht viel mit Wissenschaft zu tun zu haben. Morgenstern schreibt aber über die Temperatur auf dem Mond. Das war eine Frage, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als das Gedicht erschien, noch nicht ganz geklärt war. Denn wie soll man das aus der Ferne messen? Der britische Forscher John Herschel hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts probiert, die Infrarotstrahlung des Mondes zu beobachten. Also die Wärme, die vom Mond abgestrahlt wird, woraus man seine Temperatur berechnen kann. Das ist gar nicht so einfach, aber Herschel kam zu dem Schluss, dass Mondgestein im direkten Sonnenlicht enorm heiß sein muss, weit über 100 Grad. Der amerikanische Wissenschaftler Samuel Pierpont Langley war anderer Meinung, seine Messungen legten nahe, dass die Mondoberfläche nur wenig über Null Grad Celsius warm ist.
Genau das sind die Positionen, die in Morgensterns Gedicht auftauchen: Bis hundertfünfzig Grad im Licht, gibt Herschel ihm (zwar Langley nicht). Heute wissen wir, dass Herschel Recht hatte. Die Höchsttemperatur des Mondes im Sonnenlicht liegt bei circa 130 Grad, in der Nacht kann es auf -160 Grad abkühlen.
Die Verbindung zwischen Poesie und Astronomie funktioniert aber auch andersrum. Anstatt wissenschaftliche Erkenntnisse in Gedichtform zu packen, kann man auch probieren, astronomisches Wissen aus der Poesie zu extrahieren. Das hat man zum Beispiel bei der antiken Dichterin Sappho probiert, die vor mehr als 2500 Jahren auf der griechischen Insel Lesbos gelebt hat. Es sind nur wenige ihrer Gedichte erhalten, aber in einem davon wird es definitisch astronomisch:
„Untergegangen sind der Mond
Und die Plejaden. Es ist Mitternacht,
Die Stunden vergehen.
Ich aber schlafe allein.“
Das ist der Anfang des „Mitternachtsgedichts“ und wie es weitergeht, wissen wir nicht – mehr ist nicht erhalten. Und das ist natürlich nur die deutsche Übersetzung des originalen Textes und es gibt viele Möglichkeiten, das zu übersetzen. Trotzdem ist klar: Sappho erzählt hier nicht nur darüber, dass sie in besagter Nacht alleine schlafen muss, sondern hat davor auch zum Himmel geschaut. Vielleicht hat sie auf die Person gewartet, die sie gerne in ihrem Schlafzimmer gehabt hätte und dabei Mond und Sterne betrachtet? Das werden wir nicht herausfinden, Forscherinnen und Forscher haben aber probiert, ob sie vielleicht rauskriegen können, wann Sappho in der Nacht gewartet hat. Immerhin gibt es ja ein paar halbwegs konkrete Angaben: Es ist Mitternacht, der Mond war zu sehen, ist es jetzt aber nicht mehr und gleiches gilt für den Sternhaufen der Plejaden. Das Ergebnis: Irgendwann zwischen dem 25. Januar und dem 31. März. In dem Zeitraum kann man den Himmel auf der Insel Lesbos so sehen wie in Sapphos Gedicht. Das Jahr kann man damit natürlich nicht bestimmen und genaugenommen ist der Rest auch ein wenig zweifelhaft.
Das, was in der deutschen Übersetzung „Mitternacht“ heißt, muss zum Beispiel überhaupt nichts damit zu tun haben, was wir heute unter dem Begriff verstehen. Es war damals nicht unüblich, die Nacht in drei Abschnitte zu unterteilen und das, was Sappho im Original meint, wäre besser mit „im zweiten Drittel der Nacht“ übersetzt anstatt mit „Mitternacht“. Am Ende ist es ein Gedicht über Einsamkeit und kein astronomisches Beobachtungsprotokoll und genau so sollte man meiner Meinung nach ingesamt mit dem Thema der astronomischen Poesie umgehen.
Die Sterne, die Nacht, der Mond und die Sonne: All das ist nicht nur Wissenschaft, sondern auch Inspiration. Wir wollen das Universum verstehen, aber wir wollen uns davon auch verzaubern lassen. Je nach persönlicher Einstellung können verstehen und verzaubern identisch sein oder nicht. Aber wenn wir Gedichte schreiben, dann wollen wir meistens unsere Emotionen ausdrücken. Und manchmal kann man dafür eben auch die Astronomie verwenden, so wie es der deutsche Dichter Friedrich Rückert in seinem wunderbaren Gedicht „Du bist mein Mond“ getan hat, mit dem ich diese Folge auch beenden möchte:
„Du bist mein Mond, und ich bin deine Erde;
Du sagst, du drehest dich um mich.
Ich weiß es nicht, ich weiß nur, daß ich werde
In meinen Nächten hell durch dich.Du bist mein Mond, und ich bin deine Erde;
Sie sagen, du veränderst dich.
Allein, du änderst nur die Lichtgeberde,
Und liebst mich unveränderlich.Du bist mein Mond, und ich bin deine Erde;
Nur mein Erdschatten hindert dich,
die Liebesfackel stets am Sonnenherde
Zu zünden in der Nacht für mich.“
Das mit dem Erdschatten in dem letzten Gedicht ist witzig . Das ist bis heute, glaube ich, das am weitesten verbreitete Fehlurteil über die Phasen des Mondes, oder meint das Gedicht hier eine Mondfinsternis? Ich glaube, eher nicht.
Interessant wäre noch, wann das geschrieben ist bzw. von wem!