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Sternengeschichten Folge 577: Der Krieg zwischen Sonne und Mond und die erste Science-Fiction-Geschichte der Welt

Science Fiction ist keine Wissenschaft, aber sie hat die Wissenschaft immer schon beeinflusst. Lange bevor die ersten Raketen ins Weltall geflogen sind, haben sich Menschen schon vorgestellt, wie es sein könnte, durchs Weltall zu reisen. Mal realistischer, wie zum Beispiel Jules Verne in seinem Roman „Von der Erde zum Mond“, mal weniger realistisch, wie Johannes Kepler in seinem Werk „Somnium“, von dem ich in Folge 472 der Sternengeschichten ausführlich erzählt habe. H.G. Wells hat sich in „Krieg der Welten“ vorgestellt, wie das Leben auf dem Mars aussehen könnte, Arthur C. Clarke hatte die Idee zu geostationären Satelliten und einem Weltraumlift in seinen Büchern entwickelt und zumindest eine davon ist später Realität geworden. Und so weiter – kurz gesagt: Die Science Fiction inspiriert die Wissenschaft dazu, die dort gezeigten Visionen umzusetzen und die Wissenschaft inspiriert die Science Fiction, die Realität kreativ weiterzudenken.

Die klassische Science Fiction mit den Werken von H.G. Wells, Jules Verne oder Mary Shelley beginnt im 19. Jahrhundert, die moderne Science Fiction in der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Aber natürlich haben Menschen auch schon früher entsprechende Ideen gehabt. Die Science Fiction ist ein so vielfältiges Genre, dass sie sich schwer abgrenzen lässt und ebenso schwer ist es, die „erste“ Science-Fiction-Geschichte der Welt zu identifizieren. Aber es ist vermutlich nicht völlig falsch, wenn man bei dem Buch „Wahre Geschichten“ anfängt. Geschrieben wurde es vor fast 2000 Jahren, im 2. Jahrhundert von Lukian von Samosata. Die Stadt Samosata lag damals in der römischen Provinz Syrien und ihre Ruinen heute unter dem Wasser des Atatürk-Stausees in der östlichen Türkei. Über das Leben von Lukian weiß man nicht sehr viel, aber er hat vermutlich als Redner und Autor gearbeitet und es sind knapp 70 seiner Werke bekannt. Eines davon ist „Wahre Geschichten“ und darin findet man die früheste bekannte Darstellung einer Reise durch den Weltraum und von außerirdischen Lebewesen.

Bild: gemeinfrei)

Lukian wollte aber keine klassische Science Fiction schreiben; so etwas gab es damals in dem Sinne ja auch nicht. Sein Reisebericht ist eher eine Parodie auf die damalige Geschichtschreibung. Und „Geschichtsschreibung“ hat damals wenig mit dem zu tun, was wir heute darunter verstehen. Diese Berichte waren im Wesentlichen frei erfundene Geschichten über das, was angeblich tatsächlich in fernen Ländern beziehungsweise der Vergangenheit passiert ist. In seiner Einleitung schreibt Lukian zum Beispiel „So hat Ctesias, Ctesiochus Sohn, aus Cnidus, in seinem Buche über Indien Dinge geschrieben, die er weder selbst gesehen, noch von irgend Jemand erzählen gehört hatte.“ Und fährt fort: „Viele Andere haben sich, in demselben Geiste, zur Aufgabe gemacht, uns ihre weiten Reisen, ihre Irrfahrten zu beschreiben, und von ungeheuren Bestien, wilden und grausamen Menschen, seltsamen Sitten und Gebräuchen zu erzählen.“

Auch Lukian will so einen Bericht verfassen und beendet seine Einleitung mit den Worten: „So erkläre ich denn feierlich: ‚Ich schreibe von Dingen, die ich weder selbst gesehen, noch erfahren, noch von Andern gehört habe, und die eben so wenig wirklich, als je möglich sind.‘ Nun glaube sie, wer da Lust hat!“

Was sollen wir also glauben, wenn wir Lust dazu haben? Die Reise von Lukian beginnt bei den Säulen des Herakles, also in Gibraltar, wo er mit 50 Kameraden ein Schiff besteigt. Sie segeln hinaus in den Atlantik, um „neue Dinge kennen zu lernen und zu erfahren, wo der Ocean aufhöre, und was wohl das für Leute seyn mögen, die jenseits desselben wohnen“. Als erstes finden sie eine Insel, auf der ein Fluss aus Wein fließt. Auch die Fische darin bestehen aus Wein und müssen mit normalen „Wasserfischen“ gemischt werden, um beim Essen nicht zu betrunken zu werden. Und Lukian findet auch ganz besondere Weinreben: „Unten am Boden bestanden sie aus einem sehr kräftigen und dicken Stamme, weiter aufwärts aber waren es Mädchen, die bis auf die Hüften herab an allen Theilen vollkommen ausgebildet waren“. Diese Wesen, halb Wein, halb Frau haben Haare aus Weinblättern und Weintrauben und sind den Männern anscheinend durchaus freundlich gesinnt. Aber Achtung: „Zwei meiner Gefährten, die sich verführen ließen, konnten sich nicht wieder losmachen, sondern wuchsen und wurzelten dergestalt mit ihnen zu einem Gewächse zusammen“.

Die restlichen Männer, die den Weinfrauen entkommen sind, besteigen ihr Schiff, das aber sofort von einem Sturm in die Luft gehoben wird. Dort oben segelt es dann weiter, sieben Tage und sieben Nächte. Am achten Tag erreichen sie „eine Art von Erde in der Luft […] gleich einer großen, kugelförmigen, von hellglänzendem Lichte erleuchteten Insel“. Als sie dort anlegen, erkennen sie tief unter sich eine andere Erde, die sie als ihre eigene erkennen. Lukian stellt fest, dass er auf dem Mond gelandet ist und dort geht es wild zu. Er wird sofort von einer Truppe Ritter, die auf riesigen Vögeln reiten festgenommen und zum König des Mondes gebracht. Der erklärt, dass er ursprünglich auch von der Erde kommt, jetzt aber gerade Krieg mit den Bewohnern der Sonne führt. Der Mondkönig wollte nämlich den unbewohnten Morgenstern kolonialisieren, was dem Sonnenkönig aber nicht gepasst hat. Es gab Krieg und Lukian ist gerade rechtzeitig zur großen Schlacht gekommen. Dort kämpfen jede Menge seltsame Wesen. Zum Beispiel die „Krautflügler“, „eine außerordentlich große Gattung von Vögeln, die, anstatt mit Federn, über und über mit Krautblättern bewachsen sind“. Es gab auch „Knoblauchstreiter“ und „Hirsenschießer“, außerdem auch „Flohspringer“, die auf Flöhen reiten die so groß wie zwölf Elephanten sind. Und die „Luftspringer“, „die aus der Ferne Rettiche von entsetzlicher Größe auf den Feind schleuderten. Wer von einem solchen Rettiche getroffen ward, starb gleich darauf, indem die Wunde augenblicklich in eine abscheulich riechende Fäulniß übergieng“.

Illustration zu Lukians Buch aus dem Jahr 1894 (Bild: gemeinfrei)

Trotz all des grässlichen Gemüses gewinnt der Mond die Schlacht. Alle feiern, bis auf einmal die „Wolkenzentauren“ auftauchen, gigantische fliegende Wesen halb Mensch, halb Pferd, die für die Sonne kämpfen und zu spät aufgetaucht sind. Jetzt aber greifen sie an, der Krieg bricht erneut aus und die Sonne gewinnt die Oberhand. Eine Mauer wird zwischen Mond und Sonne errichtet, „aus einer gedoppelten Reihe dichter Wolken gebildet, wodurch eine vollkommene Mondsfinsterniß entstand“. Der Mondkönig ist gar nicht froh über die Finsternis, aber am Ende gibt es dann doch einen Friedensvertrag.

Bevor Lukian wieder weiter reist, verfasst er noch einen kurzen Bericht über die Lebensweise der Mondbewohner. Es sind übrigens wirklich Mondbewohner und nicht auch Mondbewohnerinnen, denn Frauen gibt es dort nicht. Kinder werden dort, wie Lukian schreibt, „von Männern geboren, mit denen man hier in der Ehe lebt, indem jeder bis zum fünf und zwanzigsten Jahre der Geheirathete ist, nach dieser Zeit aber selbst heirathet. Sie tragen die Frucht nicht in der Bauchhöhle, sondern in der Wade: sobald nämlich das Empfängniß geschehen ist, wird die Wade dick und immer dicker; nach einiger Zeit aber schneidet man sie auf und zieht ein todtes Kind heraus, das nun mit offenem Munde dem Winde ausgesetzt und so zum Leben gebracht wird.“

Es gibt aber auch Baummenschen, deren Entstehung ein bisschen anders läuft. Lukian erklärt: „Man schneidet einem Manne den rechten Hoden ab, und pflanzt ihn in die Erde: aus diesem wächst nun ein ungeheurer, fleischerner Baum, in Gestalt eines Phallus, mit Zweigen und Blättern. Die Frucht, die er trägt, ist eine Art ellenlanger Eicheln, aus welchen, wenn man sie reif werden läßt und sodann auseinander schlägt, die Menschen genommen werden.“

Nun ja. Lukian weiß auch, was die Mondwesen essen: Den Dampf, der von gebratenen Fröschen aufsteigt. Es gibt am Mond auch Weinreben, die aber keine Weintrauben haben, sondern welche aus Wasser. Lukian vermutet, hier den Ursprung der Hagelkörner gefunden zu haben, die ab und zu auf die Erde fallen. Auf dem Mond gilt man übrigens nur als schön, wenn man eine Glatze hat und die Bewohner können ihre Augen herausnehmen: „Wer also Lust hat, nimmt sie aus und hebt sie auf, bis er etwas zu sehen braucht, alsdann setzt er nur seine Augen wieder ein und sieht.“

Auf der Rückreise macht Lukian zuerst beim Morgenstern halt, auf dem aber nicht viel los ist. Dann gelangt er zur „Lampenstadt“, die „etwas unterhalb des Thierkreises zwischen der Luftregion der Pleiaden und der der Hyaden“ liegt, wie Lukian schreibt. Diese Stadt wird tatsächlich ausschließlich von Lampen bewohnt, die in Laternen leben und Lukian trifft sogar seine eigene Hauslampe von der Erde. Auf der landen sie dann auch endlich wieder, werden aber sofort von einem gigantischen Walfisch verschluckt, in dem über tausend Menschen leben und gegeneinander Krieg führen. Nach dem Aufenthalt im Fisch gelangen sie in ein Meer aus Milch und auf eine Insel aus Käse, treffen danach diverse tote Prominente auf der Insel der Seligen, bis sie endlich wieder auf eine größere Landmasse treffen, „von welchem wir vermutheten, daß es der, unserm Erdtheil gegenüber liegende, Continent seyn möchte“.

Hier endet der Bericht von Lukian und es ist klar, dass das alles erstmal wenig mit Science Fiction der Art zu tun hat, die wir heute gewöhnt sind. Aber es wäre auch höchst überraschend, wenn sich jemand vor 2000 Jahren Raumschiffe mit Laserkanonen oder ähnlicher Technik ausgedacht hätte. Die Fiction in Science Fiction kann nur auf der verfügbaren Science basieren und zu Lukians Zeit wusste man nichts über den Weltraum. Warum sollte der Mond nicht einfach mit einem Schiff erreichbar sein, dass durch die Luft fliegt? Warum sollten dort keine Menschen leben? Natürlich hat Lukian sich einfach irgendeinen lustigen Quatsch ausgedacht, das war ja auch Ziel seines Werks, wie er in der Einleitung geschrieben hat. Aber allein die Tatsache, dass er sich für seine Reise eben nicht eine beliebige Reise ausgedacht hat, sondern eine Reise zum Mond, zur Sonne und zum Morgenstern; eine Reise über die Grenzen der Erde hinaus, zeigt, dass die Menschen auch damals schon darüber nachgedacht haben müssen, wie es denn wäre, auf diesen leuchtenden Himmelskörpern zu leben, die man in der Nacht sehen kann. Wie es sein könnte, zu diesen unerreichbaren Orten zu reisen und was man dort erleben könnte. Lukian hat sich die selben Gedanken gemacht, die sich nach ihm unzählige Menschen gemacht haben und die am Ende dazu geführt haben, dass wir tatsächlich und in echt zum Mond gereist sind.

Die „Wahren Geschichten“ von Lukian sind eine Parodie die man nur wirklich verstehen kann, wenn man die Zeit versteht in der sie geschrieben wurden und den Zweck kennt, zu dem sie verfasst worden sind. Trotzdem bleibt die Tatsache, dass Lukian in seiner Fantasie durchs Weltall und zu anderen Himmelskörpern gereist ist und man kann sie deswegen durchaus zur Science Fiction zählen. Lukian hätte seine Kritik an den zeitgenössischen Reiseberichten ja auch ebenso gut anbringen können, wenn er von Reisen in ferne Regionen der Erde geschrieben hätte. Hat er aber nicht; er ist zum Mond, zur Sonne und zu den Sternen gereist!

Und wer weiß, was er auf dem unbekannten Kontinent alles erlebt hat, mit dessen Entdeckung die „Wahren Geschichten“ enden. Der letzte Satz dort lautet: „Was ich nun weiter auf dem festen Lande sah und erlebte, soll in den nächsten Büchern erzählt werden“. Leider ein falsches Versprechen; diese Bücher gibt es nicht. Aber wie sonst sollte ein Autor eine Geschichte voller Lügen beenden, als auf diese Weise…

3 Gedanken zu „Sternengeschichten Folge 577: Der Krieg zwischen Sonne und Mond und die erste Science-Fiction-Geschichte der Welt“
  1. Sehr amüsant. Lukian war ein kreativer und kritischer Geist.
    Interessant, dass er schon von der Kugelgestalt der Erde ausgeht.
    Wurde die Fortsetzung tatsächlich nicht geschrieben oder ist sie vielleicht vom Herrscher des Mondes zensiert worden?

  2. Also, das hört sich alles nach einem ziemlich hohen Dopaminpegel an… ist bekannt, ob Lukian (vom Verfasser
    der Johannesoffenbarung wird das ja auch vermutet…) ein Freund gewisser Pilze oder sonstiger damals verfügbarer Psychedelika (Mutterkorn oder auch der bei den Indoariern als Soma bekannte vergorene Wolfsmilchsaft) war?

  3. @Yadgar: Man muss nicht überall Konsum von gewissen Substanzen sehen ;).
    @article: Echt interessant zu sehen, dass die Gedanken zu etwas Unbekanntem sich auch über die Jahrtausende ähneln. Heutige Kinder würden solche Fantasien auch noch zustande bringen, natürlich nur, solange sie es nicht wissen. Schon famos, was wir in den letzten Jahren an Wissen anhäuften.

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