Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video. Und den ganzen Podcast findet ihr auch bei Spotify.
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Sternengeschichten Folge 574: Extreme transneptunische Objekte
In der heutigen Folge der Sternengeschichten geht es um extreme transneptunische Objekte. Das sind Objekte, die sich hinter der Umlaufbahn des Neptun befinden, aber das extrem! Aber natürlich wollen wir uns das genauer ansehen, also: Die Objekte um die es geht, sind Asteroiden. Das sich davon hinter der Umlaufbahn des Neptuns jede Menge befinden, wissen wir. Pluto ist das prominenteste Mitglied – er befindet sich im Kuiper-Asteroidengürtel, von dem schon die komplette Folge 174 gehandelt hat. Der Kuipergürtel beginnt bei circa 30 Astronomischen Einheiten, als dem 30fachen Abstand zwischen Erde und Sonne. 30 Astronomische Einheiten ist auch der mittlere Abstand des Neptun von der Sonne; seine Umlaufbahn ist also die innere Grenze des Kuipergürtels. Die äußere Grenze befindet sich circa 50 Astronomische Einheiten von der Sonne entfernt. Hinter dem Kuipergürtel geht es aber noch weiter. Es folgt die „gestreute Scheibe“ von der ich in Folge 320 mehr erzählt habe und irgendwann die Oortsche Wolke, die das Thema von Folge 321 war. Dahinter ist dann aber wirklich Schluss.
Wenn es also heute um extreme transneptunische Objekte geht, dann ist auf jeden Fall mal klar, dass wir von Asteroiden sprechen, die sich hinter der Umlaufbahn des Neptun befinden. Und es ist klar, dass wir es nicht mit dem Kuipergürtel zu tun haben, denn wir wollen von Objekten sprechen, die sich extrem weit von der Sonne entfernt befinden. Ihr mittlerer Abstand von der Sonne liegt bei mindestens 150 Astronomischen Einheiten, was aber nicht heißt, dass sie immer so weit entfernt sind. Viele Asteroiden und insbesondere die extremen transneptunischen Objekte befinden sich auf stark elliptischen Umlaufbahnen. Das heißt, dass sie am sonnenfernsten Punkt ihrer Umlaufbahn extrem weit von der Sonne entfernt sind; am sonnennächsten Punkt aber sehr viel näher sein können. Den sonnennächsten Punkt nennt man „Perihel“ und das Perihel kann man auch benutzen, um die extremen transneptunischen Objekte einzuteilen. Wenn sie ein Perihel haben, das zwischen 38 und 45 Astronomischen Einheiten liegt, nennt man sie ESDOs. Das steht für „extrem scattered disc objects“ oder „extreme Objekte der gestreuten Scheibe“. Sie befinden sich vermutlich deswegen dort wo sie sich befinden, weil sie von der Gravitationskraft des Neptuns dorthin geschleudert worden sind. Sie haben sich also früher sehr viel näher an der Sonne befinden; dort wo sich heute auch noch die ganzen Asteroiden des Kuipergürtels befinden. Irgendwann sind sie aber ein bisschen zu nahe an Neptun geraten und dessen Gravitationskraft hat ihre Umlaufbahn gestört. Von ihren ursprünglich kreisförmigen Bahnen sind sie auf stark elliptische Bahnen geraten, die sie nun weit aus dem äußeren Sonnensystem hinaus führen. Weil sie aber am Perihel immer noch vergleichsweise nahe an Neptun herankommen, ist ihre Bahn immer noch ein wenig unter dem Einfluss des Gasriesen.
Die Asteroiden, deren Perihel weiter von der Sonne entfernt ist als 45 Astronomische Einheiten, nennt man EDDOs, was für „extreme detached disc objects“ oder „extrem losgelöste Scheibenobjekte“ steht. Sie sind kaum noch von Neptun beeinflusst und wenn das Perihel der Asteroiden größer als 50 bis 60 Astronomische Einheiten ist, dann kann Neptun überhaupt keinen Einfluss mehr auf ihre Umlaufbahn nehmen und man nennt diese Gruppe die „Sednoiden“, nach dem Asteroid Sedna, den wir uns gleich noch ein wenig genauer ansehen werden.
Sedna gehört mit einem Durchmesser von gut 1000 Kilometern zu den größten bekannten extremen transneptunischen Objekten. Der Asteroid hat einen mittleren Abstand zur Sonne von 540 Astronomischen Einheiten. Sein Perihel liegt bei 76 Astronomischen Einheiten und das Aphel, also der sonnenfernste Punkt der Umlaufbahn bei über 1000 Astronomischen Einheiten! Das ist schon ziemlich extrem, es geht aber noch extremer. Da ist zum Beispiel der Asteroid mit dem schönen Namen Leleākūhonua. Er wurde am 13. Oktober 2015 entdeckt, hat einen mittleren Abstand von der Sonne von 1100 Astronomischen Einheiten und entfernt sich auf seiner Bahn bis zu 2000 Astronomischen Einheiten von ihr. Mit einem Durchmesser von circa 300 Kilometern ist er nicht so groß wie Sedna, aber auch kein kleiner Felsbrocken mehr. Es gibt auch Asteroiden, die sich noch weiter von der Sonne entfernen; zum Beispiel 2019 EU5 mit einem Aphel von knapp 2400 Astronomischen Einheiten oder 2014 FE72 mit einem Aphel, dass bei über 3000 Astronomischen Einheiten liegt. Beide werden aber nicht zu den Sednoiden gezählt, weil ihr Perihel zu nahe an Neptun liegt – was gleichzeitig auch bedeutet, dass diese beiden Brocken wirklich sehr extrem langgestreckte Umlaufbahnen haben.
Aber lassen wir die Himmelsmechanik mal beiseite. Ich habe vorhin schon erklärt, dass die ESDOs und EDDOs, also diejenigen extremen transneptunischen Objekte die noch so nahe an Neptun herankommen, um von ihm beeinflusst zu werden, ihren Ursprung aller Wahrscheinlichkeit nach im Kuipergürtel haben, aus dem sie eben durch den Einfluss von Neptun hinausgeschleudert worden sind. Bei den Sednoiden ist die Sache nicht ganz so klar. Sie sind so weit entfernt, dass es schwer ist, ihre Existenz und die Form ihrer Umlaufbahnen durch den Einfluss von Neptun oder den anderen Planeten des Sonnensystems zu erklären. Auch die Sednoiden haben im Allgemeinen sehr stark elliptische Umlaufbahnen und das kann nicht von Anfang an so gewesen sein. Normalerweise entstehen Himmelskörper auf näherungsweise kreisförmigen Bahnen und wenn sie die heute nicht mehr haben, hat etwas dazu geführt, dass das so ist. Bei den Sednoiden werden drei unterschiedliche Hypothesen diskutiert.
Es könnte zum Beispiel sein, dass früher ein anderer Stern vergleichsweise nahe an der Sonne vorbeigeflogen ist. Solche Begegnungen gibt es immer wieder mal; mal mehr und mal weniger nahe. Obwohl „immer wieder“ und „mehr“ und „weniger nahe“ hier nach astronomischen Maßstäben zu verstehen ist. Solche Vorbeiflüge anderer Sterne passieren nicht alle paar Jahre, sondern eher alle paar Millionen Jahre. Und „nahe“ heißt nicht, dass sie bis ins innere oder auch ins äußere Sonnensystem vordringen – dann wären die Planeten schon längst von ihren stabilen Umlaufbahnen gestört worden und es würde uns nicht mehr geben. „Nahe“ heißt, dass ein anderer Stern vielleicht im Abstand von einem Lichtjahr oder auch einem halben Lichtjahr vorbei fliegt. Nahe genug, um Einfluss auf die Asteroiden in den äußersten Bereichen zu nehmen, aber nicht so nahe, um die Bahnen der Planeten durcheinander zu bringen. In der Frühzeit des Sonnensystems könnten solche Vorbeiflüge besonders häufig gewesen sein, denn die Sonne ist ja vermutlich nicht alleine entstanden sondern als Teil eines Sternhaufens, der aus dutzenden oder hunderten Sternen bestand. Damals waren die Sterne alle noch nahe beieinander; erst später haben sie sich überall in der Milchstraße verteilt. Ein nahe Begegnung zwischen der jungen Sonne und einem ihrer Geschwistersterne könnte die Sednoiden auf ihre heutige stark elliptische Bahn gebracht haben.
Es könnte aber auch sein, dass die Sednoiden gar nicht im Sonnensystem entstanden sind, sondern bei einem anderen Stern. Und bei einer nahen Begegnung hat die Sonne einfach ein paar seiner Asteroiden eingefangen.
Oder es gibt hinter der Umlaufbahn des Neptun nicht nur jede Menge Asteroiden sondern auch mindestens einen Himmelskörper, der so groß ist, dass man ihn als Planet bezeichnen kann. Dieser Planet könnte mit seinem gravitativen Einfluss dafür gesorgt haben, dass die Sednoiden ihre heutige Umlaufbahn bekommen haben.
Alle drei Hypothesen sind nicht unplausibel. Die letzte der drei hat im Jahr 2016 jede Menge Aufmerksamkeit bekommen, als die Analyse der Umlaufbahnen der bekannten extremen transneptunischen Objekte Hinweise auf genau so eine Störung durch einen Planeten geliefert hat. Ich habe von diesem hypothetischen „Planet Neun“ in Folge 322 ausführlich erzählt. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in der chaotischen Zeit der Planetenentstehung ein großer Himmelskörper, der eigentlich viel näher an der Sonne entstanden ist, weit hinaus ins äußere Sonnensystem geschleudert worden ist und seitdem dort die Bahnen der fernen Asteroiden durcheinander bringt. Aber solange man so einen Planeten nicht direkt beobachten und seine Existenz damit zweifelsfrei belegen kann, bleiben uns nur indirekte Hinweise.
Und die kriegen wir nur, wenn wir noch mehr extreme transneptunische Asteroiden und vor allem noch mehr Sednoiden entdecken. Was nicht einfach ist! Wir haben nur dann eine Chance, wenn sich so ein Asteroid gerade in den sonnennahen Bereichen seiner Umlaufbahn befindet. Ein Felsbrocken, selbst wenn er ein paar hundert Kilometer groß ist, ist für uns auf der Erde quasi unsichtbar, wenn er sich ein paar hundert oder gar tausend Astronomische Einheiten entfernt befindet. Und leider – das bestimmen die Gesetze der Himmelsmechanik – bewegt sich ein Objekt umso schneller, je näher es der Sonne kommt. Anders gesagt: Ein Asteroid auf einer extrem langgestreckten Bahn verbringt sehr viel Zeit dort, wo wir ihn nicht entdecken können und nur sehr wenig in den Bereichen, wo wir eine Chance haben, ihn zu finden.
Aber wir werden natürlich auch immer besser bei der Beobachtung der fernen Himmelkörper. Wenn wir eine ausreichend große Menge gefunden haben, können wir ihre Umlaufbahnen untersuchen. Und glücklicherweise sagen die drei Hypothesen zur Entstehung der Sednoiden unterschiedliche Eigenschaften der Bahnen voraus. Wenn ein Planet Neun für ihre Bahnen verantwortlich ist, sollten sie alle ähnliche Werte für ihr Perihel haben. Wenn sie von einem anderen Stern stammen, sollten wir das an ihrer Bahnneigung erkennen können und wenn es die Störung eines anderen Sterns war, dann sollte sich gar keine Gemeinsamkeiten bei den Umlaufbahnen der Sednoiden zeigen. Auf jeden Fall ist eines klar: Die Erforschung der extremen transneptunischen Objekte kann uns einiges über die Frühzeit unseres Sonnensystems verraten. Mike Brown, einer der Entdecker von Sedna hat deswegen auch gesagt: „Sedna ist ein Fossil aus der Frühzeit des Sonnensystems“. Und je mehr solcher Fossilien wir finden, desto besser werden wir die Vergangenheit verstehen!