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Sternengeschichten Folge 533: Die Bauernastronomen der frühen Neuzeit
Wer Astronomie betreiben will, muss dafür an der Universität studieren. Das ist richtig, denn immerhin ist die Astronomie eine ausgewachsene Naturwissenschaft. Man muss jede Menge mathematische und physikalische Grundlagen lernen; man muss all das verstehen lernen, was die Forscherinnen und Forscher in den letzten Jahrhunderten rausgefunden haben und erst dann kann man anfangen, eigene Beiträge zum astronomischen Wissen zu leisten. Aber die Astronomie ist eine spezielle Wissenschaft. Man kann den Himmel auch völlig ohne wissenschaftlichen Anspruch beobachten, einfach nur weil es Spaß macht. Und dabei, trotz allem, ab und zu auch der wissenschaftlichen Forschung helfen. Zum Beispiel wenn es darum geht, die Bahnen von Himmelskörpern wie Asteroiden und Kometen zu bestimmen. Je mehr Beobachtungen man hat, desto genauer ist die Bahnbestimmung und man braucht zwar schon ein wenig Ahnung und entsprechende Instrumente, kann aber Asteroiden und Kometen auch beobachten, ohne zuvor an der Uni studiert zu haben.
Dass man Wissenschaft überhaupt als echten Beruf betreiben kann, ist eine vergleichsweise neue Sache. Vor ein-, zweihundert Jahren war das nur etwas für Leute, sich keine Sorgen darum machen mussten, wie sie ihr Geld verdienen. Weil man entweder zum Beispiel sowieso in einem Kloster gelebt und keinen Bedarf an Geld gehabt hat. Oder weil man anderweitig reich genug war. Man konnte studieren und man konnte danach an einer Universität arbeiten. Aber die Forschungsinfrastruktur die wir heute haben, war früher in der Form nicht vorhanden. Und deswegen gab es auch sehr unkonventionelle Wege zur Astronomie. Zum Beispiel die der sogenannten „Bauernastronomen“. So wird eine Gruppe von Menschen genannt, die im 17. und 18. Jahrhundert astronomische Arbeit geleistet haben, obwohl sie Bauern waren.
Natürlich ist man nicht prinzipiell unfähig, den Himmel zu erforschen, nur weil man als Landwirt arbeitet. Aber im 17. und 18. Jahrhundert war es nicht immer einfach, an Bildung zu kommen. Wer nicht lesen oder schreiben konnte; wer nicht das Geld oder die entsprechenden Bekannten hatte, hatte wenig Chancen auf ein Studium und eine Karriere an der Universität. Und wer aus einer Bauernfamilie stammte, wurde im Allgemeinen selbst ein Bauer und kein Astronom. Um so spannender sind die Lebensläufe der „Bauernastronomen“.
Der erste, der so genannt wurde, ist Nikolaus Schmidt. Obwohl man darüber streiten kann, ob er wirklich „Bauernastronom“ genannt werden sollte. Schmidt wurde 1606 im heutigen Thüringen in Deutschland geboren, also zu einer Zeit, als die moderne Wissenschaft und die moderne Astronomie gerade erst entstanden. Johannes Kepler sollte sein berühmtes Werk „Astronomia Nova“ erst 1609 veröffentlichen; die revolutionären Arbeiten von Galileo Galilei und Isaac Newton waren ebenfalls noch nicht erschienen. Teleskope zur Himmelsbeobachtung waren noch unbekannt. Und die Grenzen zwischen Astronomie und Astrologie damals sehr fließend. Nikolaus Schmidt jedenfalls war das Kind einer Bauernfamilie und hatte keine Möglichkeit, eine Schule zu besuchen. Ein Knecht auf dem Hof konnte aber lesen und schreiben und von ihm lernte Nikolaus – als Teenager – nicht nur ebenfalls lesen und schreiben sondern schnell auch Latein aus der Bibel. Durch seinen Onkel, der Schreiber war, kam er mit weiteren Büchern in anderen Sprachen in Kontakt, die er ebenfalls schnell lernte. Der junge Schmidt legte sich eine große Büchersammlung zu und war insbesondere von der Astronomie fasziniert. Sterne und Planeten konnte er ja auch selbst beobachten, was er auch tat und darüber Aufzeichnungen anfertigte, wie über das Wetter. 1633 wurde der Herzog im nahen Weimar auf Schmidt aufmerksam und dadurch Fürsten, Geistliche und andere einflussreiche und gelehrte Menschen. Sein im Selbststudium angesammeltes Wissen verwendete Schmidt vor allem um Kalender zu verfassen. Das mag aus heutiger Sicht nicht sonderlich wichtig klingen. Aber die Astronomie IST die Grundlage des Kalenders und im 17. Jahrhundert musste man die entsprechenden Daten mit dem nötigen astronomischen und mathematischen Wissen berechnen. So ein Kalender war auch mehr als nur eine Auflistung der Tage eines Jahrs. Er enthielt Daten über Auf- und Untergang des Mondes, die Mondphasen, die Länge des Tages, und so weiter – all das musste berechnet werden und das war die Arbeit eines Kalenderastronomen wie Schmidt. Und natürlich gab es dazu damals immer auch noch jede Menge astrologische Daten, Berechnungen und Prognosen. Jedes Jahr veröffentlichte Schmidt einen neuen Kalender und nach seinem Tod veröffentlichte sie sein Sohn weiter, bis weit in das 18. Jahrhundert hinein.
Schmidt starb 1671 – da war Christoph Arnold schon 21 Jahre alt. Auch er war der Sohn einer Bauernfamilie aus Sommerfeld bei Leipzig. Und so wie Schmidt war auch Arnold ein sehr wissbegieriges Kind, dass schon früh und schnell lesen und schreiben lernte. Seine Schulbildung war kurz, sein Selbststudium dafür umso intensiver. Den Sternenhimmel konnte er bei seiner Arbeit auf den Feldern und Weiden gut beobachten. Bücher fand er im nahegelegenen Leipzig und dort lernte er auch Gottfried Kirch kennen, einen der führenden deutschen Astronomen der damaligen Zeit. Von ihm lernte Arnold jede Menge, vor allem über Kometen. 1680 war einer davon hell am Himmel über Deutschland zu sehen; entdeckte hatte ihn Gottfried Kirch, aber auch Arnold beobachtete ihn von seiner kleinen Sternwarte, die er sich am elterlichen Hof eingerichtet hatte. Und nur wenig später, am 15. August 1682 entdeckte Arnold selbst einen Kometen. Acht Tage später wurde er auch vom berühmten Astronom Johannes Hevelius beobachtet und dass der Amateur Arnold früher dran war, hat die Aufmerksamkeit der damaligen Fachwelt auf ihn gelenkt. Arnold veröffentlichte seine Beobachtungen des Kometen und auch wenn sich dann herausstellte, dass er doch nicht der erste war, der ihn gefunden hatte, war es sein Einstieg in die offizielle Welt der Astronomie. Und 1686 fand er dann – diesmal wirklich als erster in Europa – einen weiteren Kometen. Arnold beobachtete die Verfinsterungen der Jupitermonde, Doppelsterne, den Merkurdurchgang und als er 1695 mit nur 45 Jahren starb, war er ein durchaus angesehener Astronom.
Wir werden uns den Kometen aus dem Jahr 1682, über den Arnold seine erste Arbeit geschrieben hat, noch genauer ansehen. Aber zuerst gehen wir ins Jahr 1715 in die Nähe von Dresden. Dort, im Dorf Cossebaude, wurde Johann Ludewig geboren. Auch er war der Sohn einer Bauernfamilie, auch er war schon als Kind wißbegierung und „empfand einen großen Appetit zum Bücherlesen“, wie er selbst schrieb. Zuerst war er aber noch mit lesen beschäftigt und Ludewig las alles, was er kriegen konnte. Religiöse Bücher, aber auch welche über Astronomie und Philosophie. Und vor allem Mathe-Bücher. Denn Ludewig arbeitete nicht nur als Bauer, sondern auch als Steuereintreiber. Und damit er sich nicht dauernd zu seinen Ungunsten verrechnete, brachte er sich im Selbststudium neben seiner Arbeit auch noch die Mathematik bei: „Ich habe diese Lektionen unter all grobe Bauernarbeit einmischen müssen und nur hin und wieder eine Stunde oder etliche dazu anwenden können“, schreibt Ludewig. Neben der Astronomie und Mathematik interessierte er sich auf für Philosophie und Logik und entwickelte daraus seine eigenen Gedanken über den Aufbau der Welt. 1753 lernte er den Finanzbeamten und Privatgelehrten Christian Gotthold Hoffmann kennen, der so beeindruckt von Ludewigs Wissen war, dass er ihn dazu ermuntert hat, ein Buch über sein Leben zu schreiben. Das tat Ludewig und er schrieb außerdem noch eine mathematisch-astronomische Analyse der Sonnenfinsternis die am 26. Oktober 1753 stattfand. Später schrieb er noch eine Abhandlung mit dem schönen Titel „Versuch, ob man behaupten könne, daß zu einer wahren Gelehrsamkeit viel Bücherlesen eben nicht nötig sey“ in der er zu dem Schluss kam, dass man nicht unbedingt viele Bücher lesen muss, solange man die richtigen Bücher nur ordentlich genug liest. Alle drei Werke wurden 1756 unter dem Titel „Der gelehrte Bauer“ zusammengefasst und als Buch veröffentlicht.
Dieses Buch über den außerordentlich gebildeten Bauer aus dem Dresdner Umland verbreitete sich in ganz Europa. In Österreich las es der damalige Direktor der Universitätssternwarte Wien: Maximilian Hell – der nicht nur Astronom war, sondern auch Jesuit. Und als Katholik war es ihm gar nicht so recht, dass da ein sächsischer Bauer so prominent dargestellt wurde. Denn Ludewig kam aus einer protestantischen Gegend und wenn jemand von der Überlegenheit der katholischen Bildung überzeugt war, dann die Jesuiten. Also veröffentlichte Hell selbst ein kurzes Werk in seinem astronomischen Jahrbuch um auf die wissenschaftliche Leistung eines österreichischen Bauern hinzuweisen, der aus dem eindeutig katholischen Tirol stammte. Das war Peter Anich, geboren am 22. Februar 1723 in Oberperfuss in der Nähe von Innsbruck. Wie die bisher beschriebenen Bauernsöhne bekam auch Anich wenig organisierte Bildung. Aber er lernte ein bisschen was vom örtlichen Pfarrer, er war fasziniert von den Sternen und von seinem Vater bekam er diverse handwerkliche Kenntnisse vermittelt. Im Selbstudium brachte er sich bei, wie man eine Sonnenuhr baut und die entsprechenden mathematischen Berechnungen dafür durchführt. Solche Uhren waren auch im 18. Jahrhundert noch relevant, denn es gab zwar Kirchturmuhren, die aber regelmäßig neu justiert werden musste und dafür brauchte man eine möglichst genaue Sonnenuhr als Basis. 1751 wollte Anich es dann genau wissen und ging nach Innsbruck zu Ignaz Weinhart, Jesuit und damals Professor für Mathematik und Physik an der Universität. Weinhart gab Anich Privatunterricht für den der Bauer an seinen freien Tagen zu Fuß nach Innsbruck gehen musste; ein mehrstündiger Marsch in jede Richtung.
Am Ende seiner Ausbildung sollte Anich für Weinhart einen Himmelsglobus bauen. Mit seinem astronomisch-mathematisch Wissen führte Anich die nötigen Berechnungen durch um insgesamt 1827 Sterne korrekt darstellen zu können. Dank seinem Wissen über Uhren und Mechanik konnte er ein Uhrwerk einbauen, dass den Globus analog zum realen Himmel drehen ließ und das von seinem Vater erlernte Drechslerhandwerk war die Grundlage für den Bau des Globus aus Holz. Das Stück erregte Aufmerksamkeit; Anich baute weitere Globen und Messinstrumente und begann auch sich mit Kartografie zu beschäftigen. Professor Weinhart regte beim kaiserlichen Hof an, dass man Anich mit der Erstellung einer Karte von Tirol beauftragen sollte. Was auch geschah und fünf Jahre lang zog Anich durch das ganze Land um alles genau zu vermessen. Er entwickelte die damaligen kartografischen Verfahren weiter und da er als Bauer auch einen guten Kontakt zu den Menschen hatte, konnte er jede Menge Namen von Bergen, Dörfern, und anderen geografischen Objekten in seine Karte aufnehmen, die bis dahin noch nicht offiziell erfasst worden waren. Der „Atlas Tyrolensis“ wurde erst 1770, vier Jahre nach Anichs Tod veröffentlicht, mit Hilfe von Anichs Schüler und Nachfolger Blasius Hueber, ebenfalls Kind einer Bauernfamilie. Der Atlas von Tirol galt damals als die „bedeutendste angesehene und international bekannteste österreichische Karte“. Sie ist fast fünf Quadratmeter groß, im Maßstab 1: 103.800. Sie ist heute noch von Bedeutung, zum Beispiel für die Gletscherforschung, da Anich die Ausdehnung der Gletscher sehr genau eingezeichnet hat, aber auch für die Erforschung historischer Ortsnamen.
Gehen wir wieder zurück nach Sachsen. Dort wurde, in Tolkewitz bei Dresden, im Jahr 1705 Christian Gärtner geboren. Er war kein Bauer, sondern Sohn eines Zwirnhändlers; ein Beruf in dem er später selbst arbeitete. Dabei kam er immer wieder auch nach Leipzig, wo er Buchhändler, Studenten und vor allem Mechaniker traf. Von ihnen lernte er das Schleifen von Linsen und konnte jetzt endlich selbst Fernrohre bauen und der Leidenschaft nachgehen, die ihn seit seiner Kindheit fasziniert hatte: Die Beobachtung des Himmels. Er machte sich einen Namen als jemand, der Teleskope bauen konnte und Ahnung vom Himmel hatte; baute sich seine eigenen Sternwarte und wurde vom Fürsten in Dresden gebeten, eine Sternwarte zu bauen. Und vor allem war er Lehrer und Förderer von Johann Georg Palitzsch. Der war wieder ein Sohn aus einer Bauernfamilie und wurde ebenfalls in der Nähe von Dresden geboren. Und so wie alle anderen die bisher erwähnt wurden, als Kind an der Wissenschaft interessiert. Astronomie und Physik brachte er sich selbst bei; bis er Christian Gärtner kennenlernte. Dort konnte er das erste Mal durch ein Teleskop schauen; bei ihm fand er auch die Kontakte zur Dresdner Gelehrtenwelt. Palitzsch war oft zu Gast im „Mathematisch-Physikalischen-Salon“, traf andere Forscher und erfuhr dort auch von der Arbeit des Engländers Edmond Halley. Der Zeitgenosse und Freund von Isaac Newton nutzte dessen neue Theorie der Gravitation um diverse Kometenbeobachtungen zu untersuchen. Und fand dabei heraus, dass viele Kometen, die man für unterschiedlich hielt, in Wahrheit wiederholte Sichtungen von dem selben Objekt sind, dass sich auf einer regelmäßigen Umlaufbahn um die Sonne befindet. Das letzte Mal war dieser Komet 1682 in der Nähe der Erde, es war genau das Objekt, dass damals Christian Arnold beobachtet hatte. Und Halley sagte die Wiederkehr dieses Kometen für das Jahr 1758 voraus. Halley selbst starb schon 1742, aber die Welt der Astronomie war gespannt: Würde der Komet wirklich zum vorhergesagten Zeitpunkt kommen? Und vor allem: Wer würde ihn als erster sehen? Es war keiner der professionellen Astronomen an den großen Sternwarten der Welt. Sondern der sächsische Bauernastronom Johann Georg Palitzsch, der mit dieser Beobachtung in ganz Europa berühmt wurde.
Die Geschichten dieser Astronomen zeigen vor allem eines: Wenn man wirklich von den Sternen fasziniert ist, dann findet man auch einen Weg, sich damit zu beschäftigen. Wenn man aus einem bildungsfernen Umfeld stammt, ist es zwar ein wenig schwerer. Am Ende findet man seinen Weg zu den Sternen.
Moin. Was für’n schöner Artikel. Von wegen „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“
Übrigens gibts auch in der Geologie so schöne Geschichten über völlig fachfremde Experten. Rudolf Schlegelmilch ist so einer. Er war zwar kein Bauer sondern Physiker und Astronom (sollte vielleicht hier eine Sternengeschichte wert sein?) Aber bekannt geworden, bzw. berühmt, ist er durch seine paläontologischen Monographien über die Ammoniten des süddeutschen Jura. Bessere Arbeiten als die von Schlegelmilch darüber gibts nicht.
Nicht Astronomie aber immerhin Elektrotechnik und Physik: Michael Faraday. Der war doch auch ein Autodidakt und Seiteneinsteiger.
Und dann beschweren wir uns immer über diese Einstein-widerlegenden Ingenieure……
Hab ich mal an meinen Cousin gleichen Nachnamens durchgereicht – der arbeitet nach einem innernamlichen Seitenwechsel allerdings nicht mehr als -eintreiber, sondern als -berater 😉
Ich kann Folke nur beipflichten: ein schöner und spannend zu lesender Text!
Es fällt auf, dass von den sechs erwähnten Bauernastronomen (bzw. Zwirnhändlerastronomen) vier aus Sachsen und einer aus Thüringen stammen. Gab es das Phänomen der Bauernastronomen vor allem in dieser Gegend (wenn ja, warum?), oder ist das ein Auswahleffekt (möglicherweise bedingt dadurch, dass FF selbst lange dort lebte)?