Wenn es um die Klimakrise geht, dann gibt es viel über das man sich aufregen kann. Zum Beispiel, dass es seit fast 700 Tagen (seit dem 1.1.2021) kein Klimaschutzgesetz in Österreich gibt. Oder dass auf der 27. Klimakonferenz schon wieder nix beschlossen wurde, dass uns wirklich vorwärts bringt. Oder dass wir die fossile Industrie immer noch mit ein paar hundert Milliarden pro Jahr (global) fördern. Die Liste kann man endlos fortsetzen, leider. Aber das, worüber sich alle gerade wirklich aufzuregen scheinen, sind Klimaaktivist:innen, die Straßen blockieren oder die Schutzscheiben vor Kunstwerken in Museen beschmieren.

Und man kann die Aktionen der „Letzen Generation“, von „Just Stop Oil“ und so weiter ja durchaus kritisieren. Man kann sich zum Beispiel fragen, ob man jetzt unbedingt in Museen demonstrieren muss, anstatt zum Beispiel in Autohäusern oder Tankstellen. Oder ob man die Blockaden lieber auf Flugplätzen statt auf Straßen durchführen soll. Und so weiter. Was aber meistens gefragt bzw. behauptet wird: Diese Art des Protests ist kontraproduktiv, weil man dadurch die Bevölkerung gegen sich und damit gegen die wichtige Sache des Klimaschutzes aufbringt. Die radikalen Aktionen führen dazu, dass auch die legitimen Proteste von Gruppen wie „Fridays for Future“ nicht mehr ernst genommen werden. Die Bevölkerung wird dem Klimaschutz immer negativer gegenüberstehen und am Ende sind wir schlechter dran als vorher.

So oder so ähnlich lautet die Argumentation. Und es klingt ja durchaus plausibel. Wer mit dem Auto nicht zur Arbeit kommt, weil die Letzte Generation die Straße blockiert, wird verärgert sein. Und kann, als Individiuum, ja nicht einmal wirklich was für die Klimakrise; kann daran, als Individium, auch nichts ändern. Das müssen Politik, die großen Firmen, und so weiter erledigen. Warum müssen die „normalen“ Menschen leiden, die nichts dafür können? Warum müssen die Museen dran glauben, die ja auch nicht unbedingt zu den großen CO2-Schleudern der Welt gehören?

Aber nur weil etwas plausibel klingt, muss es nicht plausibel sein. Genau für solche Fälle gibt es die Wissenschaft und die hat sich durchaus auch mit der Erforschung von Protestformen und Aktivismus beschäftigt. Ich habe daher probiert, mir einen Überblick über relevante Forschungsergebnisse zu verschaffen.

Aktivismus im IPCC-Report

Wenn man etwas zum Stand des Wissens in Sachen Klimakrise wissen will, dann lohnt sich immer ein Blick in den jeweils aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC). Da ist der Forschungsstand zusammengefasst und das auf knapp 10.000 Seiten. Im Podcast-Projekt „Das Klima“, das ich gemeinsam mit Claudia Frick seit letztem Jahr betreibe, tun wir genau das: Wir lesen den kompletten IPCC-Bericht und erzählen im Podcast, was drin steht. Und tatsächlich sind wir dabei immer wieder auf die Erwähnung von Klimaaktivismus gestoßen. Zum Beispiel in Kapitel 5.2.3 von Teil 3 des Berichts. Dort steht:

„Indigenous resurgence (activism fuelled by ongoing colonial social /environmental injustices, land claims, and deep spiritual/cultural commitment to environmental protection) not only strengthens climate leadership in many countries, but also changes broad social norms by raising knowledge of Indigenous governance systems which supported sustainable lifeways over thousands of years.“

Dazu muss man erstens anmerken, dass solche Aussagen nicht einfach so im IPCC-Bericht stehen. Das IPCC forscht nicht selbst, sondern fasst nur den Stand der Forschung zusammen. Wenn da nun also steht, dass Aktivismus indigener Gruppen die „climate leadership“ der Länder stärken kann, dann ist das keine Vermutung und kein ideologischer Wunsch, sondern Resultat entsprechender Forschung (und sämtliche Quellen findet man im Bericht natürlich auf hunderten von Seiten gelistet). Und zweitens ist das was an dieser Stelle erwähnt wird, nicht die Art des Klimaaktivismus, um die es geht, wenn wir von den Aktionen in den Museen und den Straßen reden.

Aber das war ja noch nicht alles, was im IPCC-Report steht. In Kapitel 5.4.2 findet man diese Stelle:

„Climate social movements advocate new narratives or framings for climate mitigation (e.g. climate ‘emergency’) (della Porta and Parks 2014); criticise positive meanings associated with high emission technologies or practices (see Diet and Solar PV Case Studies, Box 5.5 and 5.7); show disapproval for high emission behaviours (e.g. through ‘flight shaming’); model behaviour change (e.g. shifting to veganism or public transport – see Case Study on Mobility in Kolkata, Box 5.8); demonstrate against extraction and use of fossil-fuels(Cheon and Urpelainen 2018); and aim to increase a sense of agency amongst certain social groups (e.g. young people or indigenous communities) that structural change is possible. Climate strikes have become internationally prevalent, for example the September 2019 strikes involved participants in more than 180 countries (Rosane 2019; Fisher and Nasrin 2020; Martiskainen et al. 2020). Enabled by digitalisation, these have given voice to youth on climate (Lee et al. 2020) and created a new cohort of active citizens engaged in climate demonstrations (Fisher 2019). Research on bystanders shows that marches increase positive beliefs about marchers and collective efficacy (Swim et al. 2019)“

Ich hab diesmal alle Referenzen auf Forschungsarbeiten im Zitat gelassen; dann liest es sich vielleicht nicht mehr so flüssig, aber man sieht, dass diese Aussagen nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern auf konkreten wissenschaftlichen Studien basieren, die vom IPCC be- und ausgewertet worden sind. Ich möchte jetzt nicht alle Stellen auflisten, in denen Klimaaktivismus im IPCC-Bericht erwähnt wird (wie gesagt, alle drei Teile machen zusammen knapp 10.000 Seiten aus…). Hier sind ein paar exemplarische Stellen:

„The failure to deliver inclusive and sustainable adaptation contributes to a collective inability to mobilise the power of creative community
vision (…) Social movements can be powerful sources of such alternative visions of the future, as exemplified by recent Youth Climate Strikes and Extinction Rebellion. Community protest such as Youth Climate Strikes have influenced urban climate policy agendas including the declaration of climate emergency in municipalities worldwide, fostering a new debate on climate change, although their impact on local policy is ambiguous. (Teil 2, Kapitel 6.4.3.6.)“

„The knowledge and awareness of climate change as a threat have been increasing since AR5 due to the increasing frequency and magnitude of extreme weather events in the region, information available and climate justice activism (high confidence). (Teil 2, Kapitel 12, Executive Summary)“

„Political activism provides windows of opportunity for climate adaptation. (Teil 2, 17.4.5.2.)“

In Teil 3 des Berichts ist sogar ein eigener Abschnitt (Box 13.7) dem „School strike movement“ und Greta Thunberg gewidmet. Nach einer Beschreibung dessen, was die Ziele von Fridays for Future sind, folgt allerdings die Feststellung „its consequences in terms of political outcomes and emissions reductions have yet to be fully understood“.

Fridays for Future haben Einfluss! (Bild: Anders Hellberg, CC-BY-SA 4.0)

Zu wenig neue Forschung

Dieser Hinweis zieht sich durch den ganzen Bericht. Es gibt noch zu wenig konkrete Forschungsergebnisse die die Arbeit von Klimaaktivist:innen untersucht haben. Ein Grund dafür ist natürlich, dass es sich dabei um ein vergleichsweise neues Phänomen handelt; Fridyas for Future etwa gibt es erst seit 2018. Und andererseits ist es in der kurzen Zeit auch schlicht nicht möglich, die Auswirkungen des Klimaaktivismus auf etwa die Menge an CO2-Emissionen seriös zu erforschen. Das muss sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Aber die Zitate aus dem IPCC-Bericht zeigen, dass es zumindest ein paar Erkenntnisse gibt. Klimaaktivismus kann Themen setzen; den Druck auf die Politik erhöhen, das Bewusstsein für die Klimakrise in der Bevölkerung verbreiten und so weiter. Wer mehr zur bisherigen Erforschung des Klimaaktivismus (und den Forschungslücken) wissen möchte, kann diesen sehr interessanten Text über die Arbeit der Soziologin Dana Fisher lesen, die auch an den entsprechenden Teile des IPCC-Berichts mitgearbeitet hat.

Aber eigentlich sind es ja gerade nicht Fridays for Future & Co, die uns interessieren – sondern die „radikalen“ Gruppen wie die Letzte Generation und deren Aktionen. Über die hat der IPCC-Bericht natürlich nichts zu sagen. Dort ist der Forschungsstand der letzten Jahre zusammengefasst; der Bericht ist letztes Jahr bzw. Anfang 2022 erschienen und kann daher gar keine Forschungsergebnisse zu Klimaaktionen in Museen o.ä. enthalten. Und das, was für die Forschung zu Fridays for Future gilt, gilt hier noch mehr: Es ist bis jetzt schlicht zu wenig Zeit vergangen, um die Auswirkungen dieser konkreten Protestformen zu untersuchen. Das heißt aber nicht, dass die Wissenschaft diesem Phänomen völlig ratlos gegenüber steht.

Die radikale Flanke

Schauen wir zuvor aber noch einmal in den IPCC-Bericht, also auf das, was die Wissenschaft zur Klimakrise festgestellt hat. Hier sind drei Aussagen aus der „Summary for Policymakers“ des 3. Teils des Berichts:

„Without a strengthening of policies beyond those that are implemented by the end of 2020, GHG emissions are projected to rise beyond 2025, leading to a median global warming of 3.2°“

„Reducing GHG emissions across the full energy sector requires major transitions, including a substantial reduction in overall fossil fuel use, the deployment of low-emission energy sources, switching to alternative energy carriers, and energy efficiency and conservation. The continued installation of unabated fossil fuel infrastructure will ‘lock-in’ GHG emissions.“

„Accelerated and equitable climate action in mitigating, and adapting to, climate change impacts is critical to sustainable development.“

Kurz gesagt: Wenn wir nichts deutlich ändern, dann steuern wir auf eine massiv erwärmte Erde mit all den daraus resultierenden katastrophalen Folgen zu. Um etwas zu ändern, braucht es nicht einfach nur hier und dort kleine Änderungen im System, sondern eine Transformation des Systems. Und das muss schnell passieren.

Das sagt die Wissenschaft. Das was in der Realität passiert ist aber quasi das Gegenteil davon. Es passiert wenig, es passiert nicht umfassend genug und es passiert zu langsam. Radikale Änderungen zu fordern ist also auf Basis der wissenschaftlchen Erkenntnisse durchaus angebracht. Aber was fordert die Letzte Generation denn nun mit ihren Aktionen? Eigentlich gar nichts, was so enorm radikal ist. In Österreich ein Fracking-Verbot und keine neuen Öl- und Gasbohrungen. Und Tempo 100 auf der Autobahn. Und in Deutschland sind es ein 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr und ebenfalls ein 100km/h-Limit auf der Autobahn.

Angesichts der Aussagen im IPCC-Bericht könnte man der Letzten Generation also eher vorwerfen, dass sie zu wenig radikal sind. Stattdessen werden sie von den Boulevard-Medien und manchen Politiker:innen als „Terroristen“ oder „Grüne RAF“ bezeichnet. Oder sie werden medial diskreditiert wenn etwa der Tod einer Radfahrerin instrumentalisiert wird, um den Klimaktivist:innen vorzuwerfen, sie würden den Tod von Menschen in Kauf nehmen (was in diesem Fall nachweislich nicht korrekt ist). Das alles ist absurd, beantwortet aber immer noch nicht die Frage, ob diese Form des Aktivismus kontraproduktiv für die Sache ist.

Schauen wir mal in die Studie mit dem vielsagenden Titel „Radical flanks of social movements can increase support for moderate factions“, die im Juli 2022 erschienen und damit noch recht frisch ist. Der Titel enthält schon die Hauptaussage: Eine „radikale Flanke“ kann die Unterstützung für den moderaten Teil einer Bewegung erhöhen. Wenn also Gruppen wie die Letzte Generation „radikale“ Aktionen durchführen und (unter Umständen) den Unmut der Menschen auf sich ziehen, dann führt das nicht dazu, dass auch die moderaten Klimaschützer:innen darunter leiden. Die Studie stellt auch fest, dass es die Nutzung von radikalen Taktiken ist, die diesen Effekt hat und nicht die von radikalen Forderungen: Wenn ein Teil einer Bewegung radikalen Taktiken einsetzt, wird das, was der moderate Teil macht, als weniger radikal angesehen, auch wenn sich dort gar nichts geändert hat. Das hat in den Experimenten die bei der Studie durchgeführt worden sind, dazu geführt, dass die Versuchspersonen größere Unterstützung für die moderate Fraktion entwickelten als vorher. Oder, um die Autoren der Studie selbst zu zitieren:

„These results suggest that activist groups that employ unpopular tactics can increase support for other groups within the same movement, pointing to a hidden way in which movement factions are complementary, despite pursuing divergent approaches to social change.“

Dieses Phänomen der „radikalen Flanke“ einer Bewegung ist natürlich nicht neu. Man kennt es zum Beispiel aus der Sufragetten-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts oder der Bürgerrechtsbewegung in den USA

Was nützt festkleben? (Bild: Stefan Müller (climate stuff, 1 Mio views), CC-BY 2.0)

Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie aus dem Jahr 2020: „Disrupting the System Constructively: Testing the Effectiveness of Nonnormative Nonviolent Collective Action“. Dort wurden drei unterschiedliche Arten von Aktionen untersucht. Erstens „normative nonviolent action“, also alles, was sozial akzeptiert, gewaltfrei und innerhalb der legalen Normen der Gesellschaft ist. Friedliche Demonstrationen zum Beispiel oder Petitionen. Zweitens hat man „nonnormative nonviolent action“ untersucht, also Aktionen die nicht sozial akzeptiert sind, Normen und Gesetze verletzen (können), aber gewaltfrei sind. Ein Beispiel dafür wären Straßenblockaden oder Besetzungen. Der dritte Fall sind die „nonnormative violent actions“, also alles was tatsächlich nicht gewaltfrei ist: Ausschreitungen, Zerstörung von Eigentum, etc.

Die Aktionen der Letzten Generation kann man vermutlich der nonnormativen gewaltfreien Aktionen zuordnen, es sei denn man definiert das Beschmieren von Glasscheiben mit abwaschbaren Flüssigkeiten als „Zerstörung von Eigentum“ (was aber eine sehr umfassende Definition von „Gewalt“ wäre). Am Ende kommt die Studie jedenfalls zu einem ähnlichen Schluss wie die aus dem Jahr 2022:

„Taken together, we show that nonnormative nonviolent action can be an effective tactic for generating support for concessions to the disadvantaged among those who are most resistant because it generates constructive disruption.“

Eine weiter Studie aus dem Jahr 2020 ( „Does Climate Protest Work? Partisanship, Protest, and Sentiment Pools“) hat friedliche Protesformen mit zivilem Ungehorsam verglichen und dabei auch untersucht, inwieweit die Auswirkungen des Protests auf die Bevölkerung mit deren politischen Einstellung zusammenhängt (Demokraten vs. Republikaner in den USA). Das Ergebnis: Die Auswirkungen der friedlichen Demonstrationen sind in beiden Lagern gleich; ziviler Ungehorsam erreicht die Demokraten, aber nicht die Republikaner. Aber, und auch das ist eine interessante Erkenntnis, es konnte nirgendwo ein „backfire effect“ beobachtet werden, egal bei welcher Gruppe und Protestform; ziviler Ungehorsam hat der Bewegung also mindestens nicht geschadet. Das Fazit der Studie:

„This study (1) lends supports to the use of tactical diversity within the climate movement and (2) demonstrates how the broader forces of partisanship interact with protest to shift the pool of supporters available to movements, extending our nascent collective knowledge of how partisanship shapes the outcomes of social movements and protest.“

Auch hier wird also der Wert von „taktischer Diversität“ im Aktivismus gezeigt; ein Phänomen das ebenfalls nicht neu ist.

Man muss natürlich festhalten, dass es sich hier nicht um „harte“ Naturwissenschaft sondern um psychologische und soziologische Forschung handelt, die deswegen nicht per se schlechter ist, aber naturgemäß mit sehr viel mehr Unsicherheiten zu kämpfen hat. Die Aussagen sind also nicht unbedingt eindeutig (und die Forschungslücke habe ich ja weiter oben schon erwähnt). Der Artikel „The Activist’s Dilemma: Extreme Protest Actions Reduce Popular Support for Social Movements“ aus dem Jahr 2020 hat einen sehr eindeutigen Titel, fasst aber unter „extreme protest“ nicht nur Aktionen wie Straßenblockaden sondern auch definitive Sachbeschädigung und die Zerstörung von Eigentum. Die Aussage des Titels wird im Text außerdem noch ein wenig relativiert:

„Taken together with prior research showing that extreme protest actions can be effective for applying pressure to institutions and raising awareness of movements, these findings suggest an activist’s dilemma, in which the same protest actions that may offer certain benefits are also likely to undermine popular support for social movements.“

Was will die Letzte Generation?

Womit wir uns jetzt auch mal fragen können, ob Aktivismus wie ihn die Letzte Generation & Co durchführen überhaupt das Ziel hat, die Masse der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen? Wenn das tatsächlich so wäre, dann müsste es sich bei den Aktivist:innen ja eigentlich um ziemlich dumme Leute handeln. Denn dass einem nicht die Herzen der Menschen zufliegen wenn man sie auf dem Weg zur Arbeit blockiert etc, dürfte klar sein. Man kann aber durchaus davon ausgehen, dass die meisten der Aktivist:innen sich durchaus gut überlegen, was sie machen und wie sie es machen. Und ihnen dürfte ebenso bewusst sein, dass sie auf Kritik aus der Bevölkerung stoßen werden. Aber erstens geht es eben – siehe oben die Zitate aus dem IPCC-Bericht – darum, radikale Änderungen durchzuführen und wer so etwas fordert ist selten populär. Und zweitens erreichen die Aktivist:innen ja durchaus Menschen. Einerseits können sie mit ihren Aktionen Sympathisant:innen aus der eigenen Szene motivieren. Und andererseits erreichen sie die Medien. Dafür braucht es keinen wissenschaftlichen Beleg; man kann sich ja derzeit Tag für Tag ansehen, wo Vertreter:innen der Letzten Generation medial auftreten. In Talkshows, in Zeitungsinterviews, in Gesprächen mit Politiker:innen, und so weiter. Und auch das kann man als Erfolg definieren.

Ich zitiere dazu den sehr lesenswerten Essay „Warum die ‚Letzte Generation‘ alles richtig macht“ von Friedemann Karig, der auf uebermedien.de erschienen ist (Paywall):

„Genau das wird durch eine radikale Flanke erreicht: Die Systeme gesellschaftlicher Organisation (Politik, Medien, Zivilgesellschaft) können ihr Anliegen nicht länger ignorieren. Und die folgende Diskussion zwingt viel mehr Menschen als zuvor, die Widersprüche nicht nur zu hören, sondern zu fühlen.“

Wir setzen uns mit den Aktionen der Letzten Generation auseinander. Mal mehr, mal weniger; mal sinnvoller, mal sinnfreier. Mal vernünftig, mal boulevardesk. Und sehen den Effekt um den es geht: Das, was viele sanftere Formen des Protestes nicht erreicht haben, haben diese Aktionen erreicht. Man kann gerne fordern, dass man weiter „lieb sein“ soll. Friedlich demonstrieren. Und so weiter. Das läuft aber alles auf die Forderung „Bitte nicht stören“ hinaus und so verständlich es ist, nicht gestört werden zu wollen: Irgendjemand oder irgendwas muss gestört werden, denn sonst ändert sich nichts. „Lieb sein“ hat ja offentlich nicht funktioniert. Die wissenschaftliche Basis ist seit Jahren bekannt. Seit Jahren sind auch die notwendigen Maßnahmen bekannt. Die Forderungen sind bekannt. Man kann noch ein paar Jahre lang die Straßen auf und ab spazieren und niemanden stören. Dann wird vermutlich auch nichts passieren. Oder man kann die Straßen blockieren. Und die Verantwortlichen zu der Auseinandersetzung mit dem Thema zwingen, die sie bisher meiden. Man muss ja mit Protest auch gar nicht alle Menschen überzeugen. Das kann man sowieso nicht. Es reicht ein kleiner Teil der Bevölkerung, ein paar Prozent um ausreichend viel Wirkung zu entwickeln, die dann auch die Politik nicht mehr ignorieren kann.

Momentan tun wir so, als wäre es schlimm, wenn Menschen für kurze Zeit die Straßen blockieren. Wir regen uns über die „Zerstörung“ oder „Geringschätzung“ von Kultur auf, wenn doch nur ein paar Glasscheiben schmutzig sind. Was ich dagegen tatsächlich schlimm finde, sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Dinge tun, die man von der Wissenschaft eigentlich nicht gewöhnt ist. Eine Klimaforscherin und IPCC-Autorin, die eine Straße blockiert und dafür in Polizeigewahrsam kommt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die sich auf der Straße festkleben, weil sie alle anderen Methoden des Protests schon ausgeschöpft haben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eigene Aktivismusgruppen gründen um die Politik dazu zu bringen, die Klimaforschung nicht weiter zu ignorieren. Das alles ist schlimm. Denn wenn sich die Wissenschaft dazu gezwungen sieht, auf diese Weise zu handeln, dann ist die Lage wirklich ernst.

Man muss die Aktionen nicht kritiklos hinnehmen; soll man auch gar nicht. Protest lebt von Austausch und Diversität. Aber die Forderung bitte nur noch so zu protestieren, dass sich niemand davon gestört führt, ist nicht nur kontraproduktion sondern wissenschaftlich mindestens zweifelhaft. Die Wissenschaftler:innen, also die Menschen, die dank ihres Berufs am besten über die Auswirkungen der Klimakrise Bescheid wissen, sind die, die gemeinsam mit den Aktivist:innen am lautesten und deutlichsten darauf hinweisen, dass es fatal wäre, untätig zu bleiben: Das sollte uns Sorgen machen!

11 Gedanken zu „Kleben, Kunst und Klimaschutz: Sind die Aktionen der „Letzen Generation“ kontraproduktiv?“
  1. Find ich toll, dass du dir die Mühe gemacht hast, dazu in der Forschung zu „wühlen“!
    Als Anmerkung, ich find den folgenden Absatz etwas missverständlich formuliert:

    Was ich dagegen tatsächlich schlimm finde, sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Dinge tun, die man von der Wissenschaft eigentlich nicht gewöhnt ist. Eine Klimaforscherin und IPCC-Autorin, die eine Straße blockiert und dafür in Polizeigewahrsam kommt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die sich auf der Straße festkleben, weil sie alle anderen Methoden des Protests schon ausgeschöpft haben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eigene Aktivismusgruppen gründen um die Politik dazu zu bringen, die Klimaforschung nicht weiter zu ignorieren.

    Das klingt für mich so als würdest du die Aktionen per se schlimm finden. Ich vermute aber, dass es für dich erschreckend ist, dass selbst die Wissenschaft zu solch drastischen Mitteln greifen muss, wie man sie von diesen Personen eher nicht gewöhnt ist.

    Liebe Grüße, Michi

  2. Es ist sicher gut, Proteste und Protestformen wissenschaftlich zu untersuchen. Sehr gut ist es, das hier so objektiv zu veröffentlichen.

    Nur wundern mich die Ergebnisse nicht. Ich frage mich vielmehr, wieso die Politik so wenig tut, dass die Klimakatastrophe nicht verhindert werden kann, so dass sich (nicht nur) Aktivisten genötigt sehen, hier zu schärferen Maßnahmen zu greifen – und sich immer noch nichts tut, keine weltweite Einigung in Sicht ist. Die einzige dumme Reaktion der Politik ist ein Terrorvorwurf und die Forderung nach schärferen Gesetzen wenn sich jemand an die Straße klebt.

    Folglich überlege ich nun, ob Studien über den Zusammenhang von Psychopaten und Macht und deren Realitätsverlust nicht mehr Klarheit bringen könnten. Siehe etwa Wikipedia ab https://de.wikipedia.org/wiki/Psychopathie#Unterform_1:_interpersonell-affektiv

    Ich meine, bislang noch etwas ironisch, vielleicht sollte man könnte einfach Geisteskranke aus Wirtschaft und Politik entfernen und sie entsprechend behandeln und betreuen. Das gebietet schon die Menschlichkeit und die Menschenrechte. Dann könnten sich die G20 einigen und aus den Protesten wieder ein demokratisches „wir“ entstehen.

    Statt dessen sperren wir Kritiker ohne Gerichtsverhandlung für maximal zwei Monate ein. Ehrlich, dazu fällt mir nur ein, „wie verrückt ist das?“ und so komme ich also auf meinen ironischen Gedanken. Das, wo wir angeblich so auf europäische Werte achten und stolz auf die Demokratie sind. Anspruch und Wirklichkeit?

    Aus dieser Sicht sind die Klimaaktivisten noch viel zu nett. Leider ist die Klimakatastrophe noch wesentlich weniger nett für sehr sehr viele Menschen auf der ganzen Welt. Nur superreiche und/oder supermächtige Psychopaten stört das natürlich überhaupt nicht. Denn das ist ja gerade die Diagnose.

  3. Hihi.

    Was aber meistens gefragt bzw. behauptet wird: Diese Art des Protests ist kontraproduktiv, weil man dadurch die Bevölkerung gegen sich und damit gegen die wichtige Sache des Klimaschutzes aufbringt. Die radikalen Aktionen führen dazu, dass auch die legitimen Proteste von Gruppen wie „Fridays for Future“ nicht mehr ernst genommen werden. Die Bevölkerung wird dem Klimaschutz immer negativer gegenüberstehen und am Ende sind wir schlechter dran als vorher.

    So oder so ähnlich lautet die Argumentation.

    Klar. Wer „argumentiert“ denn so? Ich kenne so ein paar Kandidaten, die solche „Argumentationen“ raushauen: die von der „Weiter so!“-Fraktion. Die, die bitteschön bloß nicht von irgendwelchen Sachen betroffen werden wollen, die ihnen unbequem sind.
    Nun ja.
    Wenn euch die Aktionen der Klimaaktivisten und -innen so ankotzen, dann wartet erstmal mal drauf, wie euch die Resultate des Klimawandels ankotzen werden. Und natürlich eure Kinder …

  4. Nun sind es bereis 6 Jahre (2017-2022), in denen kein neuer weltweiter durchschnittlicher Temperaturrekord vermeldet wurde. Die Werte von Dezember liegen noch nicht vor, werden aber dem gesamten Jahr zu keinem Spitzenwert verhelfen.

    1. Na und? Gleiches Argument was die klimaskeptiker bei der letzten Pause genommen haben. Das Gedächtnis der Leute ist anscheinend sehr kurz. Guckst du Dir mal an wie die Temperaturkurven separiert nach ENSO (el Nino, la nina) aussehen, siehst Du dass du quatsch schreibst. War bei der letzten Pause genauso.

  5. Und noch etwas: die Rohstoffe werden weniger, die Proteste sind also eher ein Verteilungswettkampf zwischen jung und alt.
    Allgemein beobachtet man, dass die Jüngeren das Konsumverhalten ihrer Eltern vollständig übernehmen.

    1. Stimmt auch nicht. Die Rohstoffe werden nicht weniger, wir schmeissen sie nur weg. Gutes Beispiel: Batterien. Etwa 60 % der Handybatterien landen im Hausmüll und werden nicht recykelt. Aludosen sind ein anderes gutes Beispiel. Bei uns in Schweden landen die sehr gerne im Strassengraben statt im Pfand. Woanders auch.
      In unseren alten Müllkippen liegen 5 Jahresverbräuche an Eisen.

  6. Hallo Folke Kelm,
    nehmen wir als Beispiel Kupfer. Das ist in Fahrleitungen von Eisen- und Straßenbahnen enthalten und zerfällt durch Abrieb zu Staub. Und verfeuerte Kohle lässt sich nicht wieder zurückgewinnen, außer mit sehr, sehr großem Aufwand, der sich nur lohnt, wenn Strom überflüssig (negative Strompreise) ist.

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