Dieser Artikel ist Teil einer Serie über naturwissenschaftliche Experimente. Entsprechende Artikel werden hier im Blog bis Ende Juli erscheinen. Alle Artikel der Serie könnt ihr hier finden.
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Bis jetzt habe ich in dieser Serie nur Experimente aus der Physik (und Astronomie) vorgestellt. Aber natürlich gibt es auch andere Wissenschaften in denen experimentiert wird und wo man mit überraschend simplen Methoden zu äußerst tiefsinnigen Erkenntnissen über die Natur kommen kann. So wie in den 1960er Jahren, als der Zoologe Robert Paine Seesternen massiv auf die Nerven ging und dabei ein grundlegendes Prinzip der Ökologie entdeckt hat.

Ich bin kein Ökologe und kann daher nur schwer beurteilen wie sich diese Disziplin im Laufe der Zeit entwickelt hat. Aber bei meinen Recherchen war ich wieder einmal überrascht wie wenig wir noch vor gar nicht allzu langer Zeit gewusst haben. Wir haben zum Beispiel erst in den 1990er Jahren herausgefunden, dass die Dinosaurier durch einen Asteroideneinschlag ausgestorben sind und dass solche Ereignisse regelmäßig für Massensterben sorgen. Wir haben erst in den 1960er Jahren im Detail verstanden wie unsere Sonne funktioniert und wie sie ihre Energie produziert! Und auch in der Ökologie war man zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch am Anfang.

Eine offene Frage betraf die Art und Weise wie Lebewesen wechselwirken. Robert Paine wurde 1933 geboren und zu den vielen Fragen die er sich im Laufe seines Studiums stellte gehörte auch: Warum ist die Erde so grün? Tiere fressen Pflanzen. Warum fressen die Tiere nicht einfach alle Pflanzen auf? Was kontrolliert die Anzahl der pflanzenfressenden Tiere? Die damalige Meinung war, dass das alles quasi von unten nach oben funktioniert. Die Menge an Pflanzenfutter bestimmt die Menge der Pflanzenfresser und die Menge der Pflanzenfresser wird durch die fleischfressenden Raubtiere bestimmt. Deren Anzahl wiederum hängt von äußeren Umständen wie dem Wetter ab.

Paine war anderer Meinung und suchte nach einem Weg das zu testen. Die Raubtiere die er sich aussuchte waren Seesterne. Die fallen zwar nicht in das Bild das wir normalerweise von „Raubtieren“ haben. Aber in dem kleinen Ökosystem das Paine untersuchte waren sie die Spitze der Nahrungskette. An der Küste des Bundestaats Washington gab es jede Menge kleine Gezeitenbecken in denen Muscheln, Schnecken und anderes Getier (und Pflanzen) lebten. Und „Pisaster ochraceus“, ein ziemlich großer Seestern, dessen Arme bis zu 25 Zentimeter lang werden können und der sehr gerne Miesmuscheln isst.

Fetter Seestern! (Bild: Gemeinfrei)

Über Jahre hinweg entfernte Paine systematisch alle Seesterne aus bestimmten Gezeitenbecken. Was gar nicht so einfach war, weil die Viecher sich fest an die Steine gesaugt hatten. Aber er hebelte sie runter und warf sie ins Meer. Was die Seesterne davon hielten ist nicht überliefert. Aber die wissenschaftliche Auswertung der Seesternnerverei war revolutionär. Schon nach drei Monaten konnte Paine beobachten, wie sich die Artenvielfalt im seesternfreien Gezeitenpool veränderte. Eine bestimmte große Muschelart – die, die der Seestern gerne aß – breitete sich massiv aus. Ein Jahr später kamen aber jede Menge kleinere Muschelarten und verdrängten die große Muschel. Algen, Krebse: Alles veränderte sich. Manche Spezies verschwanden komplett, andere breiteten sich aus. Am Ende waren von den ursprünglichen 15 Arten im Gezeitenpool nur noch 8 übrig.

Was Paine da entdeckt hat, nennt man heute „Schlüsselart“. Also eine Art in einem Ökosystem die, obwohl sie nicht unbedingt häufig ist, trotzdem einen überproportionalen Einfluss auf die gesamte Artenvielfalt ausübt. Weil diese eine Art von oben herab einen starken „Fraßdruck“ auf den Rest der Arten ausübt, sinkt zwischen denen die Konkurrenz und sie können zusammen überleben. Aber sobald die Schlüsselart verschwindet, ist der erzwungene Friede vorbei und die Artenvielfalt sinkt.

Schlüsselarten können die Paineschen Seesterne sein, aber auch komplett andere Tiere wie der Wolf oder Haie. Und angesichts der Tatsache, dass wir sowohl Wölfe als auch Haie nicht unbedingt nett behandeln sondern mehr oder weniger schnell aus dem Ökosystem entfernen muss man sich nicht wundern, wenn die Biodiversität des Planeten den Bach runter geht. Und dass wir überhaupt mit Begriffen wie „Biodiversität“ hantieren können, ist unter anderem der Arbeit von Paine zu verdanken der uns gezeigt hat, dass die Artenvielfalt eben auch von oben nach unten reguliert wird, entgegen dem was man dachte, als er mit seiner wissenschaftlichen Arbeit angefangen hat und Seesternen auf die Nerven gegangen ist…

P.S. Hier gibt es noch einen schönen langen Bericht über Paines Arbeit.

9 Gedanken zu „Seesterne nerven für die Wissenschaft! (Die spannendsten Experimente der Naturwissenschaft 05)“
  1. Wenn man sich jetzt vor Augen hält, dass derzeit 150 Arten pro Tag auf dem Planeten aussterben und einen großen Anteil daran der Mensch inkl. des von ihm verursachten Klimawandel, kann man sich nicht mal ansatzweise ausmalen, was das für die unzähligen Ökosysteme dieser Welt bedeutet.

  2. Eine grandiose Leistung des Wissenschaftlers Paine,
    wenn man bedenkt dass er mit seiner empirischen Herangehensweise ohne die Kenntnis der Lotka-Volterra Gleichungen (1925/26) und ohne Analyse von Differentialgleichungssystemen auskam.

  3. hm.
    ich kenne paine nicht und habe nur grobe kenntnisse der biologie…
    d-land ist jetzt sehr lange sehr gut ohne „schlüsseltiere“ wie wolf oder bär ausgekommen… ich lebe ja am und im wasser – habe meine privaten wave-pools, stehe auf du und du mit den darin befindlichen krebsen und jungfischen – und auf kriegsfuss mit seeigeln – die scheinbar auch predatoren sind.
    ich habe einen garten mit sowohl geckos als auch eidechsen – und dem „schlüsseltier“ Katze.
    bei schnecken war ich das schlüsseltier – und habe weit übers ziel hinaus geschossen!
    ich weiss nicht, wie ich den artikel betrachten soll… aber was „der mensch“ über jedwedes ökosystem herausgefunden haben will – ist bislang noch immer nach hinten losgegangen…
    alles empirisches hörensagen meinerseits…

  4. @bruno:

    hm.
    ich kenne paine nicht und habe nur grobe kenntnisse der biologie…
    d-land ist jetzt sehr lange sehr gut ohne “schlüsseltiere” wie wolf oder bär ausgekommen…

    […]

    Ist es das tatsächlich? Um die Artenvielfalt steht es in Deutschland doch nun auch nicht gerade zum Besten, oder? Man hat sich an so manches gewöhnt, das bei wilderer Natur eher nicht vorkäme, etwa Rothirsche, die im Wald leben.

  5. @Captain E.: Ich sag doch – ich habe keine Ahnung davon… und nichts Evidenzbasiertes – nur persönliche Anekdoten…
    Bei den Schnecken muss ich mich auf jeden Fall entschuldigen. Für die Katze kann ich nichts, die gehört nicht mir.

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