Das ist die Transkription einer Folge meines Sternengeschichten-Podcasts. Die Folge gibt es auch als MP3-Download und YouTube-Video.
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Sternengeschichten Folge 260: Das Nizza-Modell
Die Astronomie ist eine Wissenschaft die einen ganz besonderen Blick auf die Vergangenheit wirft. Wortwörtlich, denn immerhin ist jeder Blick hinaus ins Weltall auch ein Blick zurück in die Zeit. Wir sehen das, was war als sich das Licht aus den Tiefen des Kosmos zu uns auf den Weg gemacht hat. Das ist eine einmalige Möglichkeit heraus zu finden wie alles entstanden ist. Wir können Galaxien beobachten die kurz nach dem Urknall entstanden sind und die letzten Spuren des allerersten Lichts im Universum.
Aber manchmal ist es auch schwierig beziehungsweise sogar unmöglich etwas konkretes über die Vergangenheit zu entdecken. Zum Beispiel wenn es um die Entstehung unseres Sonnensystems geht. Wir sehen die Sonne und die Planeten und all die anderen Himmelskörper des Systems so wie sie jetzt sind. Von den äußeren Regionen des Sonnensystems braucht das Licht zwar auch ein paar Stunden bis zu uns aber das hilft uns nicht großartig weiter wenn wir wissen wollen wie alles vor 4,5 Milliarden Jahren angefangen hat.
Wir haben in diesem Fall nur zwei Möglichkeiten. Wir können entweder andere Planetensysteme beobachten die weit entfernt und gerade in der Entstehung begriffen sind. Dort können wir beobachten wie Planeten entstehen. Allerdings sehen wir immer nur Schnappschüsse bestimmter Phasen; die komplette Entstehung eines Planetensystems dauert viele Millionen Jahre. Und wir sehen eben andere Systeme und nicht unser eigenes. Wir können nur spekulieren dass das was dort passiert im wesentlichen auch bei uns abgelaufen sein muss.
Die andere Möglichkeit besteht in Computersimulationen. Wir kennen die physikalischen Gesetze nach denen Materie miteinander wechselwirkt. Und wir haben eine ziemlich gute Vorstellung von dem was da war als es das Sonnensystem noch nicht gab. Da war nur eine große Wolke aus Gas und Staub die langsam kollabiert ist. Ein Stern entstand – das war das Thema der allerersten Folge der Sternengeschichten – und aus dem restlichen Material bildeten sich die Planeten. Im Prinzip können wir ein Computermodell erstellen in dem genau die gleichen Prozesse ablaufen wie sie auch in der Realität abgelaufen sind. Und wenn am Ende der Simulation das Sonnensystem im Computer genau so aussieht wie das das wir beobachten dann können wir mit einiger Berechtigung davon ausgehen dass das Modell uns das zeigt was damals wirklich passiert ist.
Natürlich ist die Praxis wesentlich komplizierter als die Theorie. Die Computer die wir haben sind nicht gut genug um die Entstehung eines kompletten Sonnensystems ausgehend von einer Wolke aus Gas und Staub über 4,5 Milliarden Jahre hinweg komplett zu simulieren. Aber wir haben zumindest interessante und wichtige Phasen in der Entwicklung unseres Sonnensystems im Modell nachgebaut. Eines davon ist das Nizza-Modell und es beschreibt quasi die wilde Jugend der Planeten.
Das Nizza-Modell wurde 1997 von vier Wissenschaftlern vorgestellt: Rodney Gomes aus Argentinien, Hal Levison aus den USA, Alessandro Morbidelli aus Italien und Kleomenis Tsiganis aus Griechenland. Gearbeitet haben sie am Observatoire de la Côte d’Azur bei Nizza in Frankreich und von dieser Stadt hat das Modell auch seinen Namen bekommen.
Das Modell der vier Wissenschaftler setzt nicht bei der eigentlichen Entstehung des Sonnensystems ein. Sondern ungefähr 500 Millionen Jahre später. Die Sonne ist schon entstanden, ebenso die Planeten. Das Gas und der Staub aus der ursprünglichen Scheibe hat sich verflüchtigt. Aber das Planetensystem sah damals trotzdem anders aus als heute. Das Nizza-Modell beginnt mit Planeten die sich auf nahezu perfekten Kreisbahnen befinden. Es geht außerdem davon aus dass sich die vier großen Planeten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun damals alle viel näher an der Sonne befunden haben als heute. Heute zieht Neptun mit dem 30fachen Abstand zwischen Erde und Sonne als fernster Planet seine Runden im äußeren Sonnensystem. Im Nizza-Modell drängen sich alle acht Planeten in knapp der Hälfte des Raums; die äußerste Umlaufbahn befindet sich im 17fachen Erdabstand von der Sonne.
Außerdem gibt es noch viel mehr Asteroiden als heute. Diese Brocken aus Eis und Gestein sind ja das was von der ganzen Planetenentstehung übrig geblieben ist, all die zusammengeklumpten Brocken aus dem Material der ursprünglichen Gas- und Staubscheibe. Im Laufe der Zeit hat die Zahl dieser Kleinkörper im Sonnensystem abgenommen – und wie das passiert ist wird unter anderem durch das Nizza-Modell erklärt. Damals jedenfalls reichte eine dichte Scheibe aus Kleinkörpern von der äußersten Umlaufbahn der Planeten bis hinaus zum 35fachen Abstand zwischen Erde und Sonne. Zusammen hatten all diese Asteroiden eine Masse die dem 35fachen der Erdmasse entspricht. Heute dagegen haben alle Asteroiden im Sonnensystem zusammen nur etwa die Achtfache Masse des Mondes.
All diese Annahmen sind natürlich nur Annahmen. Es muss nicht so gewesen sein – aber das was wir über die Entstehung von Planetensystemen wissen lässt diese Ausgangssituation zumindest plausibel erscheinen. Damals war es also anders als heute – zumindest im Nizza-Modell. Aber es zeigt uns wie aus diesem System das uns bekannte Planetensystem wurde. Dazu haben die Wissenschaftler jede Menge Simulationen am Computer laufen lassen um zu sehen was passiert.
Zuerst einmal nicht viel. Vereinzelt kommt es zu gravitativen Wechselwirkungen zwischen den vier äußeren Planeten und den Asteroiden. Die kleinen Asteroiden werden aus der Scheibe geworfen und das führt zu winzigen Änderungen in der Bahn der Planeten. Die Gravitation wirkt ja immer in beide Richtungen. Wären damals so wenig Asteroiden vorhanden wie heute dann wäre auch weiterhin nicht viel passiert. Aber es gab in dieser Frühzeit des Sonnensystems viel, viel mehr von ihnen und somit auch viel, viel mehr Interaktionen. Und Kleinvieh macht auch Mist – oder anders gesagt: Die vielen kleinen Änderungen in den Bahnen der Planeten haben dazu geführt dass die langsam ihre Umlaufbahnen vergrößert haben. Zumindest drei davon: Saturn, Uranus und Neptun. Jupiter dagegen verkleinerte seine Bahn ein wenig.
Das ging ein paar hundert Millionen Jahre so weiter. Die Planeten wanderten durchs Sonnensystem und schleuderten Asteroiden durch die Gegend. Aber dann passierte etwas interessantes. Der Abstand zwischen den Umlaufbahnen von Jupiter und Saturn hatte sich genau so verändert das ein Umlauf von Saturn doppelt so lange dauerte wie ein Umlauf von Jupiter um die Sonne. Es gab eine Resonanz (darüber habe ich in Folge 8 der Sternengeschichten schon genauer gesprochen). Die gravitativen Kräfte zwischen den beiden Planeten konnten sich aufschaukeln und das hatte Folgen. Die Bahnen der Planeten wurden immer elliptischer; sie wichen immer mehr von der Kreisform ab. Saturn, Uranus und Neptun hatten langgestrecktere Bahnen als vorher und konnten sich selbst und vor allem den Asteroiden in der Scheibe viel öfter viel näher kommen. Viel mehr Asteroiden als vorher wurden durch die Gegend geschleudert. In astronomisch kurzer Zeit hat sich die große Scheibe quasi aufgelöst; die Asteroiden sind entweder weit hinaus in die allerfernsten Regionen des Sonnensystems geworfen worden oder aber mit den Planeten kollidiert.
Hier bietet sich auch das erste Mal eine Möglichkeit das Nizza-Modell zu überprüfen. Wir sehen nämlich an den Kratern auf Erde, Mond und Mars dass es in der Frühzeit des Sonnensystems eine kurze Phase gegeben hat in der deutlich mehr Asteroideneinschläge stattgefunden haben als davor oder danach. Und zeitlich passt sie genau zu dem was das Nizza-Modell beschreibt. Aber das ist noch nicht alles.
Wie ich in Folge 31 erzählt habe, hat Jupiter sogenannte „Trojaner“-Asteroiden, also Asteroiden die sich mit ihm auf seiner Bahn in einer speziellen stabilen Konfiguration bewegen. Asteroiden die sich in solchen stabilen „Lagrange-Punkten“ befinden bleiben auch dort. Während der Resonanz-Phase von Jupiter und Saturn waren die Regionen um die Langrange-Punkte allerdings dynamisch nicht so abgeschlossen wie heute. Sie waren quasi „offen“, d.h. es war möglich Asteroiden einzufangen. Genau das würde erklären warum Jupiter überhaupt so viele Trojaner hat wie wir heute beobachten.
Aus den Asteroiden die all das überlebt haben ist der Kuiper-Gürtel entstanden, der Asteroidengürtel den wir heute außerhalb der Neptunbahn finden können. Und auch hier passen die Ergebnisse des Nizza-Modells gut zur realen Verteilung der Asteroiden dort.
In all den chaotischen Vorgängen damals könnten auch einige der Monde der äußeren Planeten ihren Ursprung haben. Große Monde wie zum Beispiel Titan beim Saturn oder Europa bei Jupiter sind vermutlich gleichzeitig mit ihren Planeten und auf die gleiche Art entstanden. Aber die Dutzenden kleinen Monde der großen Planeten sind vermutlich eingefangen worden. Allerdings fängt sich ein Planet nicht so leicht einen Mond. Dass ein kleiner Asteroid genau in der richtigen Geschwindigkeit vorbei kommt um eingefangen zu werden ist so unwahrscheinlich das es eigentlich unmöglich ist. Er muss gebremst oder beschleunigt werden und da die Dinger keinen Raketenantrieb haben geht das nur wenn auch noch ein dritter Himmelskörper an der Wechselwirkung beteiligt ist. Nahe Begegnungen von drei Objekten sind heute selten, damals gab es sie aber oft genug um die Existenz der kleinen Monde der großen Planeten erklären zu können.
Das Nizza-Modell macht noch weitere interessante Vorhersagen. In ungefähr der Hälfte der Simulationen haben Uranus und Neptun die Plätze getauscht! Ursprünglich war Neptun näher an der Sonne und ist erst später an Uranus vorbei gezogen – zumindest im Computer. Ob es auch in der Realität so war lässt sich schwer definitiv herausfinden.
Das Nizza-Modell hat noch ein paar andere Schwächen. Zum Beispiel beschäftigt es sich gar nicht mit den vier inneren Planeten Merkur, Venus, Erde und Mars. Ob die sich nach all dem Durcheinander am Ende auch noch dort befinden wo sie heute sind weiß das Nizza-Modell nicht. Es ist auch ein wenig überraschend dass keiner der Planeten ganz aus dem Sonnensystem geflogen ist. So etwas kommt bei solchen Wechselwirkungen normalerweise öfter vor. Und tatsächlich zeigen Erweiterungen des Modells dass alles viel besser funktioniert und passt wenn man am Anfang einen fünften großen Gasplaneten hinzufügt der im Laufe der Entwicklung aus dem System geschleudert wird.
Die Vergangenheit unseres Sonnensystems bleibt weiterhin geheimnisvoll. Aber dank des Nizza-Modells wissen wir dass es sich lohnt, sie auch weiterhin zu erforschen. Selbst wenn das nur im Computer stattfindet.
Coole Sache. Ich finde es faszinierend, dass sich aus einer solchen relativ „einfachen“ Anfangskonfiguration aus einem Stern, einem Staubring und ein paar Planeten eine derart komplexe Geschichte entstehen kann. Irgendwie könnte man denken, dass entweder alles in die Sonne stürzt oder komplett weg fliegt, aber stattdessen entwickelt sich ein langfristig stabiles Planetensystem. So als würde eine geworfene Münze auf dem Rand stehen bleiben.
Mich würde mal interessieren, wie dynamisch dieses Simulationsmodell ist, d.h wie empfindlich reagiert es auf geringfügige Änderungen der Anfangsbedingungen? Angenommen, man setzt den Saturn ein paar Millionen Kilometer näher an die Sonne. Kommen dann ähnliche oder völlig andere Ergebnisse heraus nach ein paar hundert „Simulationsjahren“?
@schlappohr: Das mit der Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen ist DER Knackpunkt bei all den himmelsmechanischen Simulationen. Da die Bewegung von Planeten i.A. chaotisch ist muss man immer viele Simulation mit leicht unterschiedlichen Startbedingungen durchführen und schauen was passiert. Gibts nur kleine Variationen? Ändert sich alles dramatisch? Unter welchen Umständen? In welchen Prozentsätzen? usw.
Das mit Uranus/Neptun ist ein gutes Beispiel: In 50% der Nice-Simulationen haben sie Plätze getauscht. Das ist ein Zeichen dafür das so ein Vorgang in dem dynamischen Modell unseres Sonnensystems möglich und häufig ist. Aber nicht dass es definitiv so abgelaufen ist. Die Interpretation solcher Ergebnisse ist immer knifflig…
Spannend geschrieben. Danke!
Dazu habe ich noch eine Frage, die mir schon lange unklar ist: Die Bahnen der äußeren Planeten sind, nach den Simulationen, größer geworden. Dazu ist aber saumäßig viel Energie nötig, denn alleine Jupiter hat ca. die 300-fache Masse der Erde (Wenn wir Menschen Satelliten auf eine höhere Bahn bringen wollen müssen sie ja auch mit Raketen beschleunigt werden). Aber woher kommt diese zusätzliche Energie der Planeten?
Kommt sie von den Asteroiden, die ins Innere des Sonnensystems abgelenkt werden und dabei Energie verlieren ? Wenn das stimmt hieße es ja auch, dass viel mehr nach innen gelenkt werden, als nach außen, aber warum?
Eine Antwort, die mir dazu einfällt ist die, dass außen eben mehr Asteroiden sind, aber diese Antwort stellt mich nicht zufrieden: Asteroiden, die weiter außen sind können zwar durch die Gravitation der äußeren Planeten in Richtung „Innen“ abgelenkt werden, aber dabei werden sie ja auch beschleunigt, so dass sie letztlich auch bei diesem Vorgang Energie von den anziehenden Planeten bekommen, denen sie diese Energie entziehen.
@Peter Paul: es geht aber auch andersherum: bei Swing-by-Manövern kann man Satelliten auch abbremsen. Damit gewinnt der Planet, an dem man dieses Manöver ausführt, an Energie. Und dann geht der nach außen.
@Florian
Es gibt eine Erweiterung, die genau vorhersagt, dass zwei leichte und zwei etwas schwerere Gesteinsplaneten entstanden sein sollten:
https://www.skyandtelescope.com/astronomy-news/our-new-improved-solar-system/
https://www.usm.uni-muenchen.de/~preibisch/planets2012/talks/uploads/84.pdf
@Florian:
Kann man denn dann überhaupt aus einer Simulation mit einem chaotischen Anfangszustand eine Aussage über die Vergangenheit ableiten? Ich meine, selbst wenn man einen Anfangszustand findet, aus dem sich nach genügend langer Simulationszeit unser jetziges Planetensystem ergibt, bedeutet das nicht, dass dies auch tatsächlich der reale Anfangszustand war. Vielleicht gibt es ganz andere Konfigurationen mit ähnlichem Ergebnis. Und dazu kommen ja noch die ganzen kleinen Einflüsse, die man bei der Simulation nicht berücksichtigen kann, weil man sie nicht kennt.
Aber vermutlich war alleine die Erkenntnis, dass Uranus und Neptun die Bahnen getauscht haben könnten und vielleicht ein weiterer Gasriese damals für Ordnung gesorgt hat, schon den ganzen Aufwand wert.
@Peter Paul
Nach dem Modell in #6 zum Teil von Saturn, aber alle Gasplaneten wandern schließlich nach außen. Wenn ich den Text richtig verstehe, katapultierte Jupiter beim Weg nach außen viele Asteroiden nach innen, das hat ihn (und die anderen Planeten über Resonanzen?) dann wohl angehoben, wie Bullet schon angemerkt hat.
@Alderamin, bullet
O.k., Planeten können auch Asteroiden bremsen, aber dadurch wird´s, glaube ich, auch nicht besser. Meine Frage wäre dann noch zu ergänzen durch die Frage: Warum werden mehr gebremst als beschleunigt?
Ich denke, der reine Zufall kann es nicht sein, bei der Größe des aufsummierten Effekts.
Bezogen auf den heutigen Erde-Sonne-Abstand, oder den von damals?
@nochnFlo: „Bezogen auf den heutigen Erde-Sonne-Abstand, oder den von damals?“
Ist in dem Fall egal da die Erde nicht migriert ist. Das haben nur die äußeren vier Planeten gemacht; die inneren blieben da wo sie waren.
@Peter Paul
Ich mutmaße mal, dass es davon abhängt, wie sich die Geschwindigkeiten von Planet und Asteroid bei der Begegnung verhalten. Wenn der Planet auf einer relativ stark elliptischen Umlaufbahn ist, dann ist er am sonnennächsten Punkt schneller als die dortige Kreisbahngeschwindigkeit unterwegs und im sonnenfernsten langsamer. Durch Resonanzen mit einem anderen großen Planeten kann die Bahn stark elliptisch werden (wenn sich Jupiter und Saturn etwa regelmäßig an der gleichen Stelle ihrer Bahnen begegnen, werden die Bahnen entsprechend verformt, weil es Jupiter nach außen und Saturn nach innen zieht).
Begegnet er den Asteroiden vorwiegend im sonnennächsten Punkt, wird er sie dann wohl eher beschleunigen und selbst langsamer werden (was seinen sonnenfernsten Punkt senkt). Trifft er sie eher in Sonnenferne an, dann wird er sie eher abbremsen und selbst schneller werden (was seinen sonnennächsten Punkt anhebt).
Aber dazu weiß Florian sicher mehr, der hat sich mit dem Thema doch in seinem früheren Job ziemlich intensiv befasst.
@noch’n Flo
Auf den von heute, es geht um die Größe in astronomischen Einheiten.
@Alderamin #11
Ich glaube eigentlich nicht, dass das Bremsen oder Beschleunigen vom Betrag der Geschwindigkeit anhängt (so habe ich deinen Beitrag jedenfalls verstanden), denn das Gravitationsfeld „fragt“ nicht danach.
Ich denke eher: Wenn der Asteroid die Bahn des Planeten „hinter“ (in Flugrichtung des Planeten) dem Planeten kreuzt, dann wird der Planet gebremst; wenn er „vor“ dem Planeten vorbeifliegt wird der Planet beschleunigt, einfach, weil die Gravitationskraft des Asteroiden im ersten Fall entgegen der Bewegungsrichtung, im zweiten Fall in Bewegungsrichtung des Planeten wirkt. Und ich sehe noch immer keinen Grund, warum das Eine häufiger passieren sollte wie das Andere.
@Peter Paul
Hab‘ nochmal ein bisschen gesucht, es bilden sich Dichtewellen in der Scheibe, die den Planeten abbremsen oder beschleunigen können, je nachdem ob sie ihm vorauseilen oder folgen. Der Artikel in der englischen Wikipedia scheint gut zu sein.
Zu dem in #6 genannten Modell gibt’s auch eine Seite, nennt sich „Grand Track Hypothese“, da ist von den Typ-I- und Typ-II-Migrationen die Rede, die im ersten Artikel erklärt werden.
Wenn wir schon in Nizza sind: Wie wäre es mit einem Artikel über den Urca-Prozess?
Mal so als Anregung.
@Peter Paul
In diesem Artikel gibt’s sogar ein Bild, das den Unterschied zwischen Typ-I- und Typ-II-Migration zeigt. Bei Typ-I schafft der Planet es nicht, eine Lücke in die Scheibe zu reissen und die Dichte der Scheibe nimmt nach außen hin kontinuierlich ab. Bei Typ-II reißt der Planet eine Lücke in die Scheibe und die Dichte über den Radius hat eine entsprechende Lücke im Graphen. Man sieht auch die Dichtewellen. Solche Spiralstrukturen kennt man von einigen protoplanetaren Scheiben junger Sterne.
@FF, @ Alderamin
Oder ist es, in dem Zusammenhang so, dass man sich die Größen, Zusammensetzungen,… der äußeren Planeten nur erklären kann, wenn man eine Entstehung an einem weiter innen gelegenen Ort des Sonnensystems vorstellt, von dem aus sie dann ja nach außen gewandert sein müssen, denn dort sind sie ja heute zu finden.
Dieses „Rauswandern“ wäre dann ein Element der Modellvorstellung das notwendig wird, um die Eigenschaften der heutigen Planeten zu erklären. Es hätte dann, jedenfalls bis jetzt , als Ursache keine physikalische Einwirkung. Sondern die Ursache für das Auftauchen dieser Vermutung in der Vorstellung vom Entstehungsprozess unseres Sonnensystems ist einfach die, dass man Versucht eine „etabliertere“ Vorstellung von der Planetenbildung beibehalten zu können, und trotzdem bei den heutigen Bahnparametern anzukommen.
@Peter Paul
Das ist ein Argument für die Migration (Uranus und Neptun können sich eigentlich nicht so weit von der Sonne entfernt gebildet haben), aber nicht das einzige. Dass sie in Simulationen auftritt und man die Strukturen, die sich in der Simulation ergeben (Spiralmuster und Lücken in protoplanetaren Scheiben) auch bei protoplanetaren Scheiben anderer Sterne findet. Heiße Jupiter, die man in großer Zahl gefunden hat, würde es ohne planetare Migration nicht geben können, und das Late (Betonung auf spät! das war 400 Millionen Jahre nach der Entstehung des Sonnensystems) Heavy Bombardment lässt sich am einfachsten damit erklären, dass Jupiter durch das Sonnensystem gedriftet ist und Asteroiden abgeräumt hat (oder Neptun im Kuiper-Gürtel).
Aber das ist doch legitim. Wir finden heute ein bestimmte Anordnung der Planeten vor, die erklärungsbedürftig ist: verschiedene Familien von Asteroiden (innerer Grütel und , Verteilung von kleinen Planeten innen und Gasriesen außen, Uranus und Neptun weit außen). Und versuchen dies mit Hilfe von Simulationen zu replizieren. Ganz ähnlich ging man bei der Theia-Hypothese zur Entstehung des Mondes vor.
Den Satz verstehe ich nicht. In dem Simulationen wird doch genau bekannte Physik verwendet. Man biegt sich ja nicht die Physik zurecht, nur die Anfangskonfiguration. Natürlich muss man dabei Vereinfachungen vornehmen, sonst wird die Simulation nicht durchführbar, was dann auch der Grund ist, warum man immer wieder mal neue Erkenntnisse gewinnt. Aber wenn man die heutige Konfiguration nachstellen kann, hat man offenbar das Wesentliche erfasst.
@Alderamin
Man darf ja viel, dagegen habe ich auch gar nichts gesagt. Ich versuche nur herauszufinden, wie die Zusammenhänge zwischen den Argumenten sind.
Ein Vergleich: Petra sagt: “ Ich habe das Glas fallen gelassen, weil ich Mama ärgern wollte.“ Die „Ursache“ für die Splitter ist , dass Petra sie erzeugen wollte, um Mama zu ärgern, aber das ist nicht die physikalische Ursache. Die physikalische Ursache ist die Gravitation, die das frei gelassene Glas so beschleunigt hat, dass es auf dem Boden zerschellte.
Das „ärgern Wollen“ würde hier auch Ziel-Ursache genannt werden, die Physik wäre die Wirk-Ursache. Das ist absolut nicht das Gleiche, aber beides wird „Ursache“ genannt.
So könnte es Ziel-Ursache für die angenommene Migration sein, dass man etablierte Modellvorstellungen der Planetenbildung beibehalten will. Wirkursache wäre hingegen, dass man sagen kann, welche physikalische Ursache zu dieser Migration führt, z,B; eine größere Häufigkeit von Planetenbeschleunigungen gegenüber Bremsungen. Für diese größere Häufigkeit müsste man aber wieder Wirk-Ursachen angeben. Wenn das gelänge hätte man am Schluss eine physikalische Erklärung der Migration gefunden. Genau die fehlt mir noch!
@Peter Paul
Es gibt ja noch eine zweite Ursache für Planetenwanderung: der Planet fängt einen Asteroiden ein, der dann auf den Planeten fällt. Wenn wir uns vorstellen, dass die Planetenbildung erst im inneren Sonnensystem stattfand und die Planeten durch Aufsammeln nach außen gewandert sind, dann passt es.
Irgendwie müssen die Bahnen von Jupiter und Saturn auch mal wieder auf die geringe Exzentrität , die sie jetzt haben(Saturn jetzt: 0,05648), zurück gekommen sein. Auch das ließe sich mit Asteroideneinfang erklären. Denn in der protoplanetarischen Scheibe werden Kreise geflogen, ziemlich exakt. Alles andere würde zu Kollissionen führen.
@Artur57
Die Planeten machen´s doch nicht so, wie Kinder, die Gänseblümchen pflücken wollen: Die gehen natürlich dahin, wo mehr Gänseblümchen sind. Aber warum sollten das denn die Planeten tun?
@Peter Paul
Na, die Dichtewellen, die durch Lindblad-Resonanzen entstehen, und die man beispielsweise in den Saturn-Ringen wiederfindet. Dabei zusehen, wie ein Objekt durch eine Materialscheibe wandert, werden wir nicht können, dazu müssen wir dann auf Simulationen zurückgreifen.
In der Astronomie hat man es meistens mit irgendeiner „fertigen“ Konfiguration zu tun, die man nachträglich auf irgendeinen Prozess zurückführen muss, und selten geschieht so ein Prozess irgendwo so schnell, dass man dabei zuschauen kann.
@Peter Paul
Tja, Kinder und Gänseblümchen ziehen sich gravitativ an. Mir ist nochmal etwas eingefallen, woran man das sehen kann: wenn ein Asteroid von einer weiter außen liegenden Bahn auf einen Planeten fällt, dann schlägt er auf der Nachtseite ein und erhöht dort den Drehimpuls des Planeten. Das würde die sehr kurze Umdrehungszeit der Giganten Jupiter und Saturn erklären, beide etwa 10 Stunden. (Uranus 17, Neptun 15). Bei der Venus war es demnach umgekehrt: sie hat überwiegend Asteroiden aus weiter innen liegenden Bahnen eingefangen. Diese schlagen auf der Tagseite ein und bremsen den Drehimpuls des Planeten. Weshalb sich die Venus leicht retrograd dreht.
@Alderamin: sehr interessant diese Lindblad-Resonanz. Ausnahmsweise ist hier die deutsche Version wesentlich aussagefähiger, welche ich hiermit verlinkt haben will.
@Alderamin
Na ja? Die Dichtewellen? Vielen Dank für den Link, der wirklich sehr interessant war, aber was das Phänomen nun mit der Vergrößerung der Umlaufbahnen zu tun haben soll habe ich dort auch nicht gefunden.
@Artur57
Wenn die Gänseblümchen eine ringartige Scheibe von Asteroiden sind, dann tun die den weiter innen liegenden Planeten aber auch nichts. Die ziehen sie trotzdem nicht nach außen. Die Asteroiden in der Nähe des Planeten ziehen zwar nach außen, aber auf der anderen Seite der Planetenposition befinden sich insgesamt mehr Asteroiden, die ihn wieder nach innen ziehen. Ich bin mir da bei einer Scheibe zwar nicht ganz sicher, zumindest bei einer Kugelschale ist es aber sicher so, wie schon Newton bewiesen hatte.
@Peter Paul
Siehe Links in #14, da ist erklärt, wie die Migration durch die Dichtewelle ausgelöst wird.
Ist ein wenig so, wie das Wegrücken des Mondes von der Erde von deren länglicher Verformung unter der Gezeitenkraft des Mondes ausgelöst wird, die dem Mond mit ihrer Längsachse wegen der schnellen Erddrehung vorauseilt und ihn abschleppt. Auch eine Art Dichtewelle im Erdkörper.
@Peter Paul
Das war jetzt aber ein grobes Missverstehen. Gemeint ist, dass die Planeten Asteroiden einfangen, wie zuletzt Shoemaker-Levy auf Jupiter. Wenn der Asteroid von einer äußeren Bahn kommt, dann wird die Bahn des Planeten ein klein wenig angehoben.
@Alderamin
Es gibt also bei Galaxien eine scheinbare und tatsächliche Winkelgeschwindigkeit der Massen. Nun stützte sich die Behauptung der Dunklen Materie ja wohl auf die scheinbare Geschwindigkeit. Machen am Ende diese Dichtewellen die DM überflüssig?
@Artur57
Falls Du mit „scheinbare Winkelgeschwindigkeit“ die Drehung der Spiralarme meinst – nein, natürlich stützt sich die Annahme der DM auf die mittels Dopplereffekt gemessene Bewegung der Sterne selbst. Ich wüsste gar nicht, wie man die Rotationsgeschwindigkeit der Spiralarme messen soll, die sind ja nicht massiv und bei der Drehung zuschauen, die so 250 Millionen Jahre für einen Umlauf braucht, kann man auch nicht…
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