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„Dem Volk aufs Maul schauen…“

von Epikouros

Der Titel dieser kleinen Abhandlung mag bei dem einen oder anderen Leser Stirnrunzeln ausgelöst haben: Wird hier etwa dem Populismus das Wort geredet? Hat Scienceblogs denn noch kein Löschteam? Muß jetzt „Correctiv“ eingreifen?

Gemach. Mir ist es hier keineswegs um einen Beitrag zur aktuellen Wahldebattenschlacht zu tun und die Frage was und wie böse der Populismus eigentlich sei wollen wir für diesmal – Wahljahr hin oder her – auf sich beruhen lassen. Dieser Blogbeitrag verfolgt eigentlich nur zwei Ziele: 1. zu erklären wo das im Titel zitierte geflügelte Wort eigentlich herkommt und 2. daran noch ein paar ganz nebensächliche aber nicht uninteressante Betrachtungen anzuschließen.

Diese Zielsetzung erscheint unspektakulär, und das ist sie auch. Aber wer Internetpräsenzen wie scienceblogs.de besucht der verfügt zum ersten über einige freie Zeit und zum zweiten über eine gute Portion gesunde Neugier. Letztere hoffe ich hiermit geweckt zu haben… 😉

Es ist hinlänglich bekannt, daß viele „geflügelte Worte“, auch und gerade jene, die sich prononciert volkstümlich geben, ihren Ursprung in der sogenannt hohen Literatur haben, oder doch zumindest auf diesem Wege eigentlich erst popularisiert worden sind. Der ungeschlagene Champion in dieser Disziplin ist (im deutschen Sprachraum) Schiller. Die Axt im Hause, welche den Zimmermann erspart; die hohle Gasse, durch die einer kommen muß; der Mann, dem geholfen werden kann; nicht minder auch die Weiber, welche da zu Hyänen werden; desweiteren seine Pappenheimer, die einer zu kennen meint – sie gehen alle auf das Konto des Autors des „Tell“, der „Räuber“, der „Glocke“, des „Wallenstein“. Des „Pudels Kern“, die „Gretchenfrage“ sowie die Feststellung, der Name sei Schall und Rauch hingegen hat uns Goethe beschert, alle drei im „Faust“.

Die Liste ließe sich fortsetzen, wenn mir die fraglos noch zahlreich vorhandenen Beispiele nur gerade einfielen… Darum rasch zurück zur Ausgangsfrage: Wer riet uns denn nun als erster, „dem Volk aufs Maul zu schauen“?

Auch das war natürlich ein „Promi“ der deutschen Literaturgeschichte und kein geringerer als der Reformator Martin Luther (womit wir beiläufig doch noch einen Bezug zum laufenden Jahre 2017 hergestellt hätten…)

Besagte Aufforderung erging im Jahre des Herrn 1530, in einer Postille betitelt „Ein sendbrieff D.M. Lutthers. Von Dolmetzschenn“ und lautet dort wie folgt:

„[…] den man mus nicht die buchstaben inn der lateinischen sprachen fragen / wie man sol Deutsch reden / wie diese esel thun / sondern / man mus die mutter jhm hause / die kinder auff der gassen / den gemeinen man auff dem marckt drumb fragen / vnd den selbigen auff das maul sehen / wie sie reden / vnd darnach dolmetzschen / so verstehen sie es den / vnd mercken / das man Deutsch mit jn redet.“

„Die Kinder auf der Gasse“? Der „gemeine Mann“ gar? Sollte hier nicht am Ende doch so etwas wie Populismus avant la lettre im Spiel sein…?

Ach iwo. Der eigentliche Hintergrund ist ein ganz anderer, und hier wird es jetzt interessant. Luther hatte bekanntlich schon 1522, fünf Jahre nach den 95 Thesen, acht Jahre vor dem „Sendbrief“, seine deutsche Übersetzung des Neuen Testaments veröffentlicht, das sogenannte „Septembertestament“. Das war zwar nicht, wie immer noch oft kolportiert wird, die erste deutsche Bibelübersetzung, sollte aber für Jahrhunderte die einflußreichste ihrer Art werden.

Wirkung entfaltete das Septembertestament sowohl direkt, wie auch auf eine eher indirekte Weise. Die katholische – oder besser: die romtreue kirchliche Partei, denn eine protestantische Kirche gab es noch nicht und Luther war selbstverständlich Katholik, wenn auch aus Sicht des Römischen Stuhles ein ganz verflucht ketzerischer – fühlte sich nämlich durch Luthers Vorstoß in Zugzwang gesetzt und einer der romtreuen Landesfürsten, Georg der Bärtige, Herzog von Sachsen-Meißen, hatte seinerseits bei Hieronymus Emser eine „unreformierte“ deutsche Bibel in Auftrag gegeben.

Das Neue Testament von Emser erschien 1527, war indes keine wirklich eigenständige Übersetzungsleistung sondern eher eine Überarbeitung des Septembertestaments – in der Vorrede erklärte Emser gewunden, er habe den Text des NT „emendirt […] vnd widerumb zu recht gebracht“. Gleichzeitig warf Emser dem Verfasser seiner Vorlage vor, dieser habe nicht getreu der Vulgata (d.h. der als verbindlich geltenden lateinischen Übersetzung des Kirchenvaters Hieronymus) übersetzt und das auch sonst fehlerhaft.

In der Tat hatte Luther nicht die lateinische Vulgata als Vorlage genommen, sondern die griechisch-lateinische Ausgabe des Erasmus von 1516, welche damals textkritisch „state of the art“ war. Das war aus moderner Sicht die richtige Entscheidung, mußte den Traditionalisten aber sauer aufstoßen. Was uns aber im Zusammenhang mit Volk und Mund interessiert ist der Vorwurf der Falschübersetzung, und hier genauer der „Fall“ Römer 3,28: die Frage der Rechtfertigung des Christen durch den Glauben.

Diese Causa war in besonderem Maße delikat und zwar aus folgendem Grund: Luther hatte seit 1517 ein dogmatisches System ausgearbeitet, das auf drei Säulen ruhte. Sola scriptura (nur durch die [heilige] Schrift), sola gratia (nur durch die [göttliche] Gnade) sowie sola fide (nur durch den Glauben), so lehrte der doctor theologiae aus Wittenberg, konnte die göttliche Wahrheit erkannt bzw. der Christ „gerechtfertigt werden“ (iustificari). Diese „Rechtfertigung“ war für die Christen des Mittelalters und der frühen Neuzeit keine Kleinigkeit: hier ging es für die unsterbliche Seele um jenseitiges Heil oder Fegefeuer, wo nicht gar ewige Verdammnis – kurz gesagt: ums Ganze.

Luther lehrte nun, wie gesagt, daß die Rechtfertigung des Christen ganz alleine durch den Glauben an Christus bewirkt werde; gute Werke seien löblich, ja notwendig für den Erhalt der diesseitigen Welt – aber ohne jeden Einfluß auf das Seelenheil. Die „goldene Clubkarte“, welche den hochbegehrten Einlaß ins Paradies gewährte, die konnte man sich weder erkaufen noch erarbeiten. Heil war allein bei Gott und nur durch den Glauben allein zu erlangen.

In diesem Sinne hatte Luther denn auch Röm 3,28 übersetzt:

„So halten wyrs nu / das der mensch gerechtfertiget werde / On zuthun der werck des gesetzes / alleyn durch den glawben“

Und um das Maß voll zu machen hatte er dazu folgende eigene Randbemerkung gesetzt:

„Denn hie ligt darnyder aller werck verdienst und rhum […] vnd bleybt alleyn lautter [= nur] gottis gnad vnd ehre.“

Und das, nur um kurz darauf in einer Randglosse zu Röm 4,4 nochmals im gleichen Sinne nachzusetzen:

„Hie beweyset er mit zweyen exempel / das verdienst nichts sey / sondern alleyn gottis gnade.“

Das war freilich ein starkes Stück – und obendrein inhaltlich vollkommen daneben. Denn im Kontext des dritten Kapitels des Römerbriefes ging es lediglich um die Frage der Weitergeltung spezifisch jüdischer Gebote – wie der Beschneidung oder der Speisegesetze – für „Judenchristen“ (also getaufte vormalige Juden), von denen etliche z.B. die Tischgemeinschaft mit „Heidenchristen“ unter Hinweis auf jüdische Reinheitsgebote ablehnte. Gegen diese Auslegung bezieht Paulus hier Stellung, die jüdischen Religionsgesetze hatten für Christen keine Bedeutung, auch nicht für getaufte Juden. Weshalb in Röm 3 denn auch ausdrücklich von opera legis, bzw gut Griechisch érga nómou die Rede ist, von „Werken des [jüdischen Religions-]Gesetzes“.

Auch kommt wirklich in keiner erhaltenen Fassung, weder des griechischen noch des lateinischen Bibeltextes an diese Stelle das Wort „nur“ oder „allein“ (solus, mónos o.ä.) vor.

Beides hatte sich Luther von Emser und anderen sagen lassen müssen. Und man kann nicht behaupten, daß diese Kritik unberechtigt war.

Inzwischen aber schreiben wir das Jahr 1530; Emser war bereits 1527 gestorben, dennoch – oder vielleicht: deshalb – beschloß Luther, jetzt in der Angelegenheit Röm 3,28 nochmals nachzutreten. Er verfaßt zu diesem Zweck eine Art Responsum, vorgeblich in Beantwortung zweier an Luther gerichteter theologischer Fragen an einen Gesinnungsgenossen in Christo, Wenzeslaus Linck, gerichtet – doch von diesem umgehend der Öffentlichkeit gewissermaßen „über Bande“ zugespielt (wie Luther es ihm in dem natürlich nicht veröffentlichten Begleitschreiben vorgeschlagen hatte). Passenderweise war der Gegenstand der ersten Frage just Luthers Übersetzung vom Röm 3,28, was diesem Gelegenheit zu einer Apologie in eigener Sache gab.

Wie ging Luther dabei zu Werke? Nun ja, ein wenig so wie Norman Lewis im fünften Kapitel von Tom Wolfes „Back to Blood“, nur einige Grade gröber; nicht ironisch scheinbar anbiedernd sondern immer feste druff. Seine rhetorische Strategie läßt sich auf zwei griffige Formeln bringen: 1. Angriff ist die beste Verteidigung und 2. rede über alles mögliche, nur möglichst wenig über die Sache selbst.

Und so geht er denn gleich zu Anfang in die Vollen: Er erklärt die „Papisten alle auff einen hauffen“ für unfähig, die Bibel zu übersetze; erklärt dann weiter, er könne ja wohl seine eigene Übersetzung nach seinem eigenen Gusto gestalten und wem die nicht gefalle, der möge doch bitte seine eigene machen. Den Papisten aber stehe in der Sache ohnehin kein Urteil zu, da sie dazu „zu lange ohren“ hätten und davon weniger verstünden „denn des Mülners [=Müllers] thier“, d.h. er erklärt seine Gegner kurzerhand zu Grautieren mit vier Buchstaben, um dem Leser gleich zu verstehen zu geben, daß sich damit eigentlich jede weitere Diskussion erübrigt.

Was aber nicht heißt, daß die Diskussion damit beendet ist. Luther beklagt wortreich, alle Welt wolle ihm dreinreden („Wer am wege bawet / der hat viel meister“) ohne vom Übersetzen das mindeste zu verstehen, wie dies ja schon dem Kirchenvater Hieronymus widerfahren sei. Dann knöpft er sich den unlängst verstorbenen Emser vor und bezichtigt ihn nicht minder wortreich des Plagiats (ein Vorwurf an dem, wie wir gesehen haben, immerhin einiges dran war).

Dann kommt er doch kurz auf den eigentlichen Gegenstand, seine Wiedergabe von Röm 3,28, zu sprechen, geht aber auf den Streitpunkt gar nicht ein sondern erklärt vollmundig, er wolle es nunmal so haben und die Papisten seien halt alle Esel. Und er zitiert Juvenal. [1]

Darauf folgt dann noch ein reichlich hyperbolischer Katalog all der Bildungsgüter, über die er, Luther, „ein Doctor vber alle Doctor jm gantzen Bapstum“ gebiete, ganz im Gegensatz zu „Doctor Schmidt / vnd doctor Rotzlöffel“ und all den anderen papistischen – Sie ahnen es bereits: Eseln.

Was dem Kaiser Vespasian der Erlös aus der Toilettenbenutzungsgebühr, das war dem Doctor Luther offenbar das Eigenlob (in dem zumindest insofern ein Körnchen Wahrheit steckte, als Luther im Gegensatz zu den meisten Theologen seiner Zeit Griechisch und Hebräisch lesen und seine Übersetzung so mit dem Urtext abgleichen konnte) – sachliche Argumente scheint der Herr Doktor aber nicht wirklich zur Hand zu haben.

Doch halt! Diese ganze polemische Diatribe, welche alleine ein gutes Viertel des Gesamttextes ausmacht – sie enthielt, wie Luther zu Anfang kurz erwähnte und jetzt erneut betont, doch nur das, was seine getreuen Anhänger den „Papisten“ entgegnen sollten („wöllet solchen Eseln ja nicht anders noch mehr antworten auff yhr vnnütze geplerre vom wort Sola“): krude Beschimpfungen und Selbstlob nämlich. Seine romtreuen Gegner, das will der große Reformator in spe hier sagen, sind vernünftige Argumentation einfach nicht wert.

Nachdem er so der Herabwürdigung seiner Kontrahenten rhetorisch die Krone aufgesetzt hat – die Zeiten waren aufgeregt, der Einsatz um den gepokert wurde hoch und man schenkte sich nichts – kommt er aber doch noch auf den Punkt, auch wenn er vorgeblich nur zu seinen Anhängern spricht und will ihnen, und nur ihnen („Euch aber vnd den vnsern wil ich anzeigen“) erklären warum er in Röm 3,28 das Wort „alleine“ eingefügt hätte, obwohl es keine Entsprechung im Urtext habe.

Seine Argumentation läuft darauf hinaus, daß die Einfügung nötig sei, um den Sinn des griechischen bzw. lateinischen Textes angemessen wiederzugeben. Nun ist es in der Tat eine Binsenweisheit, daß eine wörtliche Übersetzung von einer Sprache in die andere den Sinn u.U. erheblich verfälschen kann. So bedeutet, um mal ein plakatives Beispiel aus der Gegenwartssprache herzunehmen, der englische Ausdruck „it’s a shame“ heutzutage so gut wie nie „es ist eine Schande“ sondern fast immer „das ist schade“ (der ursprüngliche Sinn von shame hat sich in dieser Floskel abgeschliffen). Will man im Englischen unmißverständlich ausdrücken, daß etwas eine Schande sei, dann muß man schon „it’s a crying shame“ sagen (oder „it’s a disgrace“), womit wir ein schönes Beispiel für einen Fall hätten, wie Luther ihn für sich bei Röm 3,28 reklamiert.

Sein eigenes Beispiel aber wirkt schon etwas weniger überzeugend:

„Das ist aber die art vnserer deutschen sprache / wenn sie ein rede begibt / von zweyen dingen / der man eins bekennet / vnd das ander verneinet / so braucht man des worts solum (allein) neben dem wort (nicht oder kein) Als wenn man sagt / Der Baür [=Bauer] bringt allein korn und kein geldt“

Also „der Bauer bringt Korn, kein Geld“ sei kein gutes Deutsch, man müsse schon „der Bauer bringt nur Korn, kein Geld“ sagen. Denn so sprächen nun mal die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gasse und der gemeine Mann auf dem Markt, denen man aufs Maul schauen müsse, wenn man gutes Deutsch schreiben wolle.

Ich kann nicht behaupten, in der deutschen Sprache des 16. Jahrhunderts hinlänglich bewandert zu sein um mir hierzu ein sicheres Urteil bilden zu können (und verweise hierzu und zu Luthers anderen Beispielen auf einen sehr lesenswerten Aufsatz von Hans-Wolfgang Schneiders[2], dem dieser Blogbeitrag auch sonst einiges verdankt).

Daß Luther seine Übersetzung damit angemessen verteidigt hätte wird man aber kaum behaupten können, umso mehr, als der eigentliche Skandal ja in den, wie wir sahen, sachlich in keiner Weise begründeten Randglossen seines „Septembertestaments“ lag. Das dürfte auch Luther klar gewesen sein und so ergeht er sich in einer Fülle weiterer Beispiele, die man mit einigem guten Willen als Plädoyer für eine zieltextorientierte Übersetzungsmethodik lesen kann, welche aber im vorliegenden Kontext hauptsächlich der Ablenkung von dem eigentlichen Streitpunkt dienen. Denn da ist Luthers Argumentation wie wir sahen mehr als schwach.

So erweist sich sein „Sendbrief vom Dolmetschen“ als ein geradezu sophistisches Meisterwerk manipulativer Rhetorik. Luther war eben – wie alle erfolgreichen Religionsstifter – einerseits fest, tief und ehrlich von seiner Sache überzeugt und zugleich bei der praktischen Durchsetzung derselben von wenig Skrupeln angekränkelt.

Das also ist des Pudels Kern, das steckt hinter Luthers Aufforderung, dem Volk aufs Maul zu schauen. Mir will im übrigen – dieser kleine Exkurs sei noch erlaubt – scheinen, daß sich in der Wahl des Beispiels „der Bauer bringt nur Korn und kein Brot“ eine weitere versteckte Bosheit verbirgt. Denn diese Sentenz spricht genau ein wesentliches Hauptproblem an, mit dem die Feudalherren des Mittelalters und der frühen Neuzeit seit dem hohen MA zu kämpfen hatten: das liebe Geld.

Dieses hatte im frühen MA, als sich das Feudalsystem herauszubilden begann, wirtschaftlich noch eine eher untergeordnete Rolle gespielt. Die Ökonomie war überwiegend lokal und auf Austausch von Sachgütern ausgerichtet, der ganze zivilisatorische Luxus des römischen Reiches weitgehend dahingeschwunden. Das Korn, das Gemüse, Milch, Fleisch und andere Lebensmittel, welche die abgabenpflichtigen Bauern den Feudalherrn liefern mußten, bildeten zusammen mit den Arbeitsverpflichtungen der Frohn eine hinreichende Grundlage für den Bestand vom weltlichen wie geistlichen Herrschaften.

Das änderte sich, als Europa seit der Zeit der Kreuzzüge sukzessive wieder mit jenen zivilisatorischen Errungenschaften des Römischen Reiches vertraut wurde, welche im Orient überlebt hatten. Exotische Gewürze, feine Gewandstoffe, kostbare Möbel und Geschirre und was dergleichen Luxusgüter sonst noch waren – das konnten die einfachen Bauern nicht liefern. Und als sich in Europa lansam eine Produktion von vielen dieser begehrten Güter herauszubilden begann, da entstand sie in den Städten, nicht auf dem Land, wo die fron- und abgabenpflichtigen Bauern lebten, auf deren Ausbeutung sich das Feudalsystem im wesentlichen stützte.

Und so entstand das klassische Dilemma des Feudalismus: die Kosten für den Repräsentationsaufwand auf den Burgen und später an den Höfen stiegen munter immer weiter an – man wollte und mußte ja zeigen wer man war; auch die Kriege wurden mit der Entwicklung der Waffentechnik tendentiell teurer. Fernhändler, städtische Handwerker und Söldner wollten Bares sehen – doch der Bauer brachte noch immer (bloß) Korn und kein Geld!

Die Ablaßkrämerei der Kirche die dagegen gerichtete Polemik von Luther sind natürlich in diesem Kontext zu sehen. Denn was brachte der Käufer von Ablaßbriefen? Richtig: Geld. Bares Geld. Klingende Münze. Und was war Luthers Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben, ganz ohne „Werkgerechtigkeit“ denn anderes als – massive Schädigung des Geschäftes.

So war etwa der Ablaßprediger Tetzel, dessen Umtriebe einer der Anlässe für die 95 Thesen gewesen waren, nicht zuletzt für den Kardinal Albrecht von Mainz tätig. Dem hatte die Kurie nämlich großmütig gestattet, die Hälfte der Einnahmen aus dem Petersablaß einzubehalten, damit er den Fuggern jenen Kredit zurückzahlen konnte, mit welchem er den Kauf eben jener Mainzer Bischofswürde finanziert hatte… (was Luther damals aber wohl nicht wußte).

Und wenn die Durchsetzung eines „Kreuzzugsablasses“ zur Finanzierung eines Abwehrkrieges gegen die von Südosten gegen Europa herandrängenden Türken 1518 gescheitert war, dann hatte das der Pabst nicht nur, aber eben auch, Luther zu verdanken. (Wesentlicher dürfte freilich das finanzielle Eigeninteresse der deutschen Fürsten gewesen sein, die von den Türken einstweilen nicht unmittelbar bedroht waren).

Und so reibt, so will mir scheinen, Luther mit dem Satz „Der Bauer bringt Korn und kein Geld“ auch noch genüßlich Salz in die Wunden, die er dem Pabsttum geschlagen hatte.

Das also waren die eingangs versprochenen, ganz nebensächlichen Bemerkungen zu Volkes Mund und Luthers Sendschreiben. Ich hoffe sie waren nicht langweilig.

[1] „So will ich’s, so befehle ich, statt einer Begründung (gelte mein) Wille“.

[2] Hans-Wolfgang Schneiders, „Luthers Sendbrief vom Dolmetschen. Ein Beitrag zur Entmythologisierung“, trans-kom 5[2] (2012), S. 254 ff. https://www.trans-kom.eu/ihv_05_02_2012.html

38 Gedanken zu „Dem Volk aufs Maul schauen…“
  1. hat mir gut gefallen, auch wenn Germanistik und Geschichte nicht so meine richtung ist.
    schön finde ich dazu, dass die alt-dtsch texte so mit hereingenommen wurden.
    wichtig an Luthers arbeit war sicher, dass er sowohl hebräisch als auch griechisch konnte.
    die grundlage für eine gute übersetzung ist natürlich das verstehen des ursprungs, auch wenn in dieser zeit wohl nicht immer versucht wurde ‚werteneutral‘ zu schreiben. aber das ist dann mehr im politischen hintergrund zu sehen. …. und passiert heute wohl noch oft genug. Gut gemacht.

  2. Das war kein bißchen langweilig und wirklich gut geschrieben. Ich habe den Text mit Interesse gelesen und dabei auch wieder ein paar Sachen gelernt.
    Und wie passend, haben wir ja morgen sogar mal ausnahmsweise einen freien Tag. Ich wünsche noch einen schönen Brückentag (allen, die ihn nehmen konnten)!

  3. Schöner Text, nur an einer Stelle ist was durcheinander geraten:
    „scheinen, daß sich in der Wahl des Beispiels “der Bauer bringt nur Korn und kein Brot” eine weitere versteckte Bosheit verbirgt.“
    Hier müsste „Geld“ stehen anstatt „Brot“, oder?

  4. Sehr interessant und flüssig zu lesen. Dass manchmal Rätsel aufgegeben werden anstatt klar und deutlich zu sagen, worum es geht, müsste meiner Meinung nach nicht unbedingt sein. „Bei Grautieren mit vier Buchstaben“ weiß wohl jeder, was gemeint ist, aber warum nicht gleich „Esel“ sagen? Mit Kaiser Vespasians Erlös aus der Toilettenbenutzungsgebühr kann wohl nicht jeder was anfangen, und ich zum Beispiel habe keine Ahnung was Norman Lewis im fünften Kapitel von Tom Wolfes “Back to Blood” macht.

    Persönlich halte ich ja recht wenig von Martin Luther. Hier im großteils katholischen Österreich geht der Rummel zum Luther-Jahr ja Gott sei Dank an mir weitgehend vorüber. Der Artikel beleuchtet einige interessante Facetten seiner Persönlichkeit, die bei der offiziellen Luther-Beweihräucherung wohl eher weniger zur Sprache kommen.

  5. Ja, sehr schön und verständlich!

    …aber: wo stammt denn nun die Überschrift her (aufs Maul schauen) – wenn es im Original als: „aufs Maul sehen“ zitiert wird?!

  6. @lanzu (#6): Oops, das stimmt auffällig. Es muß natürlich „nur Korn und kein Geld“ heißen!

    @Lercherl(#7): Als „Rätsel“ waren die angeführten „intertextuellen Bezüge“ (wie Germanisten wohl sagen würden) gar nicht gemeint sondern einfach als Anspielungen. Das „Grautier mit vier Buchstaben“ z.B. spielt auf einen, zumindest in meiner Generation ziemlich bekannten, Sketch von Emil Steinberger an. („Ich Esel! … ‚Esel’…? Vier senkrecht!!“). Was den Verweis auf Tom Wolfe angeht, so war der eher als diskrete, aber mit dem hier verhandelten Sachverhalt gar nichts zu tun habende, Lektüreemfehlung gedacht 😉

    @irma (#8): Die Verben „schauen“ und „sehen“ sind im betrachteten Zusammenhang völlig synonym. Ich kenne das gefügelte Wort heute eben in der Form mit „schauen“, Luther hatte „sehen“ geschrieben – einen Unterschied in der Bedeutung macht das nicht.

    Allen anderen bisher: Danke für die Blumen 🙂

  7. Nein , langweilig bestimmt. Im Gegenteil höchst interessant.
    Der Interpretation des Wörtchens “ nur“ oder “ allein“ im Sinne von nur vermag ich mich nicht anschließen , obgleich ausschließen mir ebenso widerstrebt.
    Vor allem zum Schluss besagtes Wörtchen enteilte, was mich gar verwirrte( vorletzter Absatz).

    Sei’s drum. Zur kurzweiligen Lektüre war es ein treffliches Vergnügen.

    P.S. Okay , den gestelzten Ton habe ich nur ausnahmsweise und soll nicht negativ gedeutet werden.

  8. @Epikouros #9:
    Uhhh!!
    In der Philosophie ist zwischen „sehen“ und „schauen“ ein immenser Unterschied! Und lexikalisch synonym hin oder her – in einem solchen (sprach)wissenschaftlichen Artikel finde ich es durchaus wert, die Diskrepanz zu klären! Irgendwo muss sich ja irgendwer irgendwas dabei gedacht haben, das Verb zu ändern!

    Es heisst ja auch nicht: „Die Axt im Hause bewahrt dich vor dem Zimmermann“ „Dem Manne könnte/ sollte/ müsste geholfen werden“ „Durch diese hohle Passage muss er kommen“

    Also ich muss nicht alles auf „die Goldwaage“ legen.

    Aber die Überschrift!

  9. @irma (#11): Es kommt auf den Kontext an! In der Juristerei ist ein himmelweiter Unterschied zwischen „Besitz“ und „Eigentum“, was aber außerhalb der Gerichte und juristischen Seminare niemanden davon abhält, vom „Besitzer“ z.B. eines Autos oder eines Hauses zu reden wenn *juristisch* der Eigentümer gemeint ist.

    Haben Sie ein Küchen- oder Autoradio? Und hat das Gerät womöglich einen Lautstärkeregler? „Hat es nicht!“ sagt der Ingenieur. (Es sei denn es wäre ein Dynamikkompressor eingebaut.) Dieser Knopf oder Schieber ist für ihn nämlich bloß ein Steller, es gibt da keinen Regelkreis! (Dem Rest der Menschheit ist die Unterscheidung im Alltag aber schnuppe…)

    Ist Ihnen manchmal kalt? Trösten Sie sich: physikalisch gesehen gibt es keine Kälte! Was Sie als „Kälte“ spüren wird nur verursacht durch einen höher als für sie optimal ausfallenden Nettowärmeabfluß!

    Fachsprachen treffen oft Unterscheidungen oder legen Definitionen zugrunde, die im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutungslos sind.

    Wenn Sie den Ehrgeiz haben zu zeigen, daß es im Kontext des Luther-Zitates und seiner Rezeptionsgeschichte irgend einen Unterschied macht, ob man jemandem „aufs Maul schaut“ oder „sieht“, dann obliegt es Ihnen zu beweisen, daß Luther hier bewußt eine Unterscheidung getroffen hätte. Was Ihnen angesichts des betont umgangssprachlichen Tonfalls des „Sendschreibens“ (oder „Sendbriefes“, aber auch das macht hier keinerlei Unterschied) und des hier vorliegenden ohnehin metaphorischen Gebrauches des Verbs einigermaßen schwer fallen dürfte.

    Die von Ihnen angeführten Beispiele treffen im übrigen alle nicht. „Ersparen“ und „bewahren vor“ sind schon im allgemeinen Sprachgebrauch nicht synonym, genauso wenig wie „können“, „sollen“ und „müssen“.

    Auch ist eine „Passage“ nicht *ganz* dasselbe wie eine „Gasse“, obwohl das Wort rein vom Sinngehalt her an der berühmten Stelle im „Tell“ schon stehen könnte – falls es denn stilistisch passen und sich in den Blankvers einfügen würde, was aber nicht der Fall ist.

  10. Ins blaue rein vermute ich, dass „aufs Maul schauen“ wegen der drei au halt gut klingt. Ausserdem ist „schauen“ eher das selbe register wie das (heute) derbe „maul“, als das neutrale „sehen“. Klingt einfach besser und auch noch passender. Und da die Vorlage weit weniger gelesen worden sein dürfte, als der Tell oder Faust, hat wohl die (leicht „falsche“) mündliche Überlieferung Oberhand gewonnen.

    So hätte ich mir das zumindest zusammengereimt.

  11. Gut dargelegt. Gerade das Römer-Zitat ist auch ein echter Knackpunkt gewesen: für paulus damals und für luthers glaubensverständnis. Was der eine kollektiv bezog (=heidenChristen müssen nicht Juden werden um Christen zu sein, die jüdischen Gesetze sind nicht mehr pflicht), verstand Luther individualistischen als persönliche Befreiung. Dieses „Turmerlebnis“ vom luther ist berühmt. So konnte er diese Stelle gar nicht anders verstehen und übersetzen als mit dem extra-Wort „allein“. Übrigens war er nicht der einzige: sogar schon zu Zeiten paulus ging die Diskussion, wie denn der Satz gemeint sei: sind die Gesetze gar nicht mehr relevant – oder nur nicht mehr „allein“?

  12. Also irgendwas stimmt hier nicht (mehr): dauernd verschwinden meine Kommentare – und wenn ich sie wieder Posten will, heißt es :doppelt gepolstert etc. ? Woran liegt das? An der Textlänge? An Verwendung von smilies?

  13. 3. Versuch.
    Gut dargelegt. Gerade das Römer-Zitat ist auch ein echter Knackpunkt gewesen: für paulus damals und für luthers glaubensverständnis. Was der eine kollektiv bezog (=heidenChristen müssen nicht Juden werden um Christen zu sein, die jüdischen Gesetze sind nicht mehr pflicht), verstand Luther individualistischen als persönliche Befreiung. Dieses „Turmerlebnis“ vom luther ist berühmt. So konnte er diese Stelle gar nicht anders verstehen und übersetzen als mit dem extra-Wort „allein“. Übrigens war er nicht der einzige: sogar schon zu Zeiten paulus ging die Diskussion, wie denn der Satz gemeint sei: sind die Gesetze gar nicht mehr relevant – oder nur nicht mehr „allein“.
    Zudem – der Auspruch Luthers bezieht sich nun so gar nicht auf diesen besonderen Aspekt seines Übersetzers. Damit argumentierte Luther eher, dass Formulierungen Metaphern Redewendungen „dem einfachen Mann auf der Straße“ verständlicher sein sollten. (Er selbst gibt dafür das schöne Beispiel von dem – deutschsprachen (!) – Satz „Maria voll der Gnaden“, welches doch zu sehr danach klinge wie „ein Fan voller Bier“ – statt sie ist schwanger mit dem Heiland :-).

    Ah –  wie man merkt, interessiert mich das Thema und der Artikel regte mich weiter an 🙂

  14. Hat mir gut gefallen, eine schöne Auflockerung nach den beiden doch sehr mitdenkintensiven Beiträgen gestern und vorgestern.

    Illustriert sehr gut die Instrumentalisierbarkeit religiöser Texte, bloß an einer Stelle ein kleines Wörtchen dazuübersetzt, schon kann man sich eine neue Glaubensrichtung basteln.

  15. @Epikouros #12:
    sorry – aber ihre Antwort ist lahm!

    „ersparen“ und „bewahren vor“ sind lexikalisch synonym – und die „hohle Gasse“ ist eine „Passage“ – folglich synonym.
    Gemeint allerdings ist hier ein Eigenname…

    Ist zwar ein schöner Artikel insgesamt – aber definitiv Abzüge für die Nicht-Erklärung der Überschrift – und nochmals Abzüge im Umgang mit Nachfragen!!
    Für mich dadurch leider nicht in den Favoriten…

  16. Zur Überschrift – das Sprichwort heute lautet nun mal „aufs Maul schauen“, das eigentliche Zitat Luthers eben bissl anders. Wo ist da das Problem? 🙂 allerdings stimmt es, dass man gerade hierbei als Argument eben nicht mit dem juristischen/semantischen zerflücken von schauen=sehen oder Gasse/Passage kommen braucht. (Vorallem wenn man damit sein eigenes Argument diskreditiert).
    Jedenfalls interessantes Thema (Wort für Wort oder sinngemäß übersetzen)..

  17. Epilouros,
    …..es kommt auf den Kontext an….
    und der Kontext ist das Religionsverständnis (Glaubensverständnis) ?, wie Luther es hatte.
    Meiner Meinung nach hat Luther die Bibel sinngemäß richtig übersetzt und allen Wortgläubigen eine Abfuhr erteilt.
    Nur in einem Punkt habe ich Zweifel, ob Luther „neutral“ geblieben ist.“Luther lehrte nun, wie gesagt, daß die Rechtfertigung des Christen ganz alleine durch den Glauben an Christus bewirkt werde; gute Werke seien löblich, ja notwendig für den Erhalt der diesseitigen Welt – aber ohne jeden Einfluß auf das Seelenheil. “
    Ob das der gemeine Landmann noch akzeptiert??
    Auf jeden Fall ist das noch eine offene Baustelle für Katholiken.

  18. @Epikouros

    Als “Rätsel” waren die angeführten “intertextuellen Bezüge” (wie Germanisten wohl sagen würden) gar nicht gemeint sondern einfach als Anspielungen […]

    Und genau solche “intertextuelle Bezüge” halte ich meistens für entbehrlich, insbesondere, wenn ein breiteres Publikum angesprochen werden soll. Es wirkt etwas snobistisch, Kenntnisse vorauszusetzen, die mit dem Thema des Artikel gar nichts zu tun haben, und die ein beträchtlicher Teil des Publikums nicht hat, und so zu tun, als wäre das selbstverständlich.

    Ja, es kann einen Text auflockern, ihn mit Anspielungen und Zitaten anzureichern. Aber dann sollte man darauf achten, dass er nicht unverständlich wird, wenn man die Anspielungen und Zitate nicht erkennt: ansonsten sind es nämlich Rätsel für die Leser. Ein gelunges Beispiel findet sich etwa in „The Ancestor’s Tale“ von Richard Dawkins. Im Kapitel über Molche versieht er den Satz „The various species of salamander colloquially known as ’newts‘ have an especially revealing life history“ mit der gelehrt aussehenden Fußnote „† A. Fink-Nottle, in litt.“ Wer Augustus Fink-Nottle nicht kennt, kann die Fußnote einfach ignorieren, und alle anderen freuen sich darüber.

  19. Zu Kommentar #17

    “’ersparen‘ und ‚bewahren vor‘ sind lexikalisch synonym“ – man wird es mir hoffentlich nachsehen, wenn ich mir eine detaillierte Widerlegung dieser steilen These vorbewahre…

    Aber Spaß beiseite – natürlich sind „sehen“ und „schauen“ im allgemeinen Fall nicht synonym, schon alleine weil der transitive Gebrauch von „schauen“ heute allenfalls noch im poetischen Ausdrucksregister bzw. in bestimmten feststehenden Ausdrücken wie dem umgangssprachlichen „Fernsehen schauen“ möglich ist.

    Hier aber geht es um einen Ausdruck, der analog zu „jmd. auf die Finger sehen/schauen“ gebildet ist und ich kann zwischen den beiden Varianten beim besten Willen keinen relevanten Bedeutungsunterschied ausmachen, weder bei den Fingern noch beim Mund.

    Und bis mir jemand mit guten Gründen das Gegenteil beweist betrachte ich diese Frage hiermit als abgeschlossen.

  20. @Robert (#18): Was die Korrektheit von Luthers Übersetzung des Verses Röm 3,28 betrifft: ich fürchte da werden wir uns nicht einig… belassen wir es dabei.

    Interessant fand ich Ihre Bemerkung über die „Neutralität“ Luthers. Meine Ansicht dazu: Man wird in Deutschland wohl nur wenige historische Persönlichkeiten finden, die weniger „neutral“ aufgetreten sind als Luther. Luther war eine echte Kämpfernatur und überdies ungern zu Kompromissen bereit, ein „Steher“ eben. Und er konnte bei aller Buchgelehrsamkeit in seinem Ausdruck of grob, ja vulär werden. (Seine Fäkalsprache ist berühmt-berüchtigt, auch wenn wir in Rechnung stellen müssen, daß das 16. Jahrhundert in solchen Sachen noch nicht so penibel war.)

    In den Kämpfen, die er ausgefochten hat, ging es ja auch um viel, wo nicht um alles: Um das ewige Seelenheil natürlich, sein persönliches nicht minder als das der gesamten Christenheit. Gott oder Teufel: so jedenfalls sah er es. Und das Ende war nah! Luther glaubte gleichsam „ins letzte Gefecht“ zu ziehen, ein Gefecht das aber nicht das Ende der „Vorgeschichte“ bringen und ein neues Kapitel in der Geschichte der Menschheit aufschlagen würde sondern das Ende aller Zeit überhaupt einleiten würde.

    Und ganz nebenbei wurde auch noch um die politische Zukunft Deutschlands gefochten. Der Pabst und die Habsburger wollten, jeder auf seine Art und zu eigenem Nutz und Frommen, die transnationale Einheit Europas; Deutschlands Fürsten aber wollten die „deutsche Libertät“ – ihre eigene größtmögliche Unabhängigkeit von Kirche und Reich. Und einigen von ihnen kam der rebellische, polternde, volksnahe Doctor Theologiae aus Wittenberg, der so wirkungsvoll gegen den Pabst wettern konnte, dabei gerade recht. Ohne diese fürstliche Protektion wäre die Reformation wohl spätestens 1521 beendet gewesen – Luther wäre es dann nicht besser ergangen als Wycliffe und Hus vor ihm. Das war ihm bewußt und entspechend erklärt sich seine Parteinahme im Reichsritteraufstand und im Bauernkrieg.

    Diese Dichotomie zwischen tiefer persönlicher Frömmigkeit und Höllenangst einerseits und nüchternem politischem Kalkül andererseits durchzieht das gesamte Wirken Luthers. Und auch seine Theologie. Die Beiseiteschiebung der Werkgerechtigkeit war für ihn ein Akt persönlicher Befreiung – und sie war nützlich im Kampf gegen Rom. Kompromisse hat er nicht gemacht, nicht mit dem Pabst und nicht mit dem „gemeinen Landmann“. Auch später nicht – etwa beim Abendmahlsstreit, welcher der protestantischen Sache in Deutschland so geschadet hat.

  21. @Lercherl (#19): Auch wir werden uns heute wohl kaum einig werden. Aber was soll’s: wat den Eenen sin Uhl, is den Annern sin Nachtigall. Für mich war die Suche nach dem Sinn mir unbekannter Wörter und Wendungen, die mir bei der Lektüre hier und da so unterkamen, immer ein Spiel, das einen Heidenspaß gemacht hat. Und – Hand aufs Herz – wer kann denn heute etwa im „Faust“ (v.a. im zweiten Teil) oder im „Zauberberg“ schon auf Anhieb alle externen Bezüge und Anspielungen erkennen? Wer ist denn dem Wortschatz eines Arno Schmidt ohne den Beistand eines guten Lexikons gewachsen?

    Immerhin braucht man heute ja meist kein vielbändiges Konversationslexikon mehr um sich das Hintergrundwissen zu verschaffen – vieles findet man fast auf Anhieb im Internet. Und manchmal braucht man auch einfach „Mut zur Lücke“. Alles versteht man sowieso nicht: Wissen ist endlich – Nichtwissen ist unendlich!

    So jedenfalls sehe ich das – mancher sieht es anders und das ist jedermanns gutes Recht.

  22. #24 u.a.
    @Epikouros

    Schön, daß Luther für den Tatbestand des Sehens tatsächlich auch das Wort „sehen“ verwendet hat; das heute mehr und mehr stattdessen verwendete furchtbare Wort „schauen“ bezieht sich ja wohl auf „zeigen“.
    Die seltsame und durch und durch gruslige Fehlkomposition „einen Unterschied machen“ gibt es in der deutschen Sprache nicht, dreist wenn sie nicht selten benutzt wird. Es heißt immer noch „es ist (k)ein Unterschied“.
    Und der Papst ist natürlich der Papst und sonst nichts.
    Was ist eigentlich eine „Herabwürdigung“ ??
    Gehört nicht direkt zum Thema, aber interessiert mich im Zusammenhang mit tendenziöser Bibelübersetzung ebenfalls: weiß jemand, wer die falsche Übersetzung „Jungfrau“ sowie dein „Nächster“ in die Bibel hineingebracht hat, war das Luther oder bereits Hieronymus ?
    Der Artikel war sehr erhellend und hat mir trotz einer nicht unerheblichen Anzahl von Interpunktionsfehlern sehr gefallen, ich danke dafür !

  23. Interessanter Beitrag.
    Norman Lewis im fünften Kapitel von Tom Wolfes “Back to Blood” sagt mir auch nichts, aber ich wills auch gar nicht wissen. :

    Zur Überschrift hätte ich aber eine Frage: Woher weiß man, dass die Floskel nicht bereits vor Luther ein geflügeltes Wort war?

  24. @Stephan
    Zumindest bei der Fehlübersetzung „Jungfrau“ kann ich weiterhelfen.
    https://www.welt.de/kultur/article3100214/Uebersetzungsfehler-machte-Maria-zur-Jungfrau.html

    Zitat:

    Im (älteren) hebräischen Bibeltext heißt es noch beim Propheten Jesaja im 7. Kapitel: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: siehe, die junge Frau wird schwanger werden und einen Sohn gebären. Und sie wird ihn Immanuel nennen.“
    In der Septuaginta ist unter Jesaja 7 zu lesen: „Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: sie, die Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären. Und du wirst ihm den Namen Emmanuel geben.“
    Der Unterschied sticht ins Auge. In der hebräischen Textfassung spricht der Prophet von einer „jungen Frau“, die einen Sohn gebären wird. In der Septuaginta wird die „junge Frau“ mit dem griechischen Wort „parthenos“ übersetzt – es steht für „Jungfrau“.

  25. @Stephan(#26),RPGNo1(#28): Das ist in der Tat eine interessante (und nicht „undornige“) Fragestellung. Das Hauptproblem ist m.E.: wie scharf wurde in der Antike zwischen den Begriffen „junge Frau“ und „Jungfrau“ denn eigentlich unterschieden? Wir dürfen ja nicht Verhältnisse voraussetzen, wie sie heute in entwickelten Industrieländern herrschen. In der Antike wurden Frauen i.d.R. jung verheiratet und der Entjungferung folgte die Mutterschaft alsbald auf dem Fuße.

    Ich habe daheim leider weder den Gensenius noch den Köhler-Baumgartner (bibl.-hebr. Standardwörterbücher) und auch keine AT-Konkordanz, nur das kleine Taschenwörterbuch von Fohrer; dazu die BHS (Biblia Hebraica Stuttgartensia), die einbändige Rahlfs-Septuaginta und den Pape (gr.-dt. Wörterbuch).

    Auf dieser (zugegebenermaßen etwas schmalen Basis) ergibt sich wrt Jes 7,14 vorläufig folgender Befund:

    `almah wird bei Fohrer mit „junge Frau (bis zur Geburt des ersten Kindes)“ übersetzt; für párthenos (die Übersetzung der Septuaginta) bietet der Pape die Übersetzungen „Jungfrau, Mädchen“ sowie „jedes jugendliche Frauenzimmer“, wobei der einzige Beleg für letztere ÜS allerdings homerisch ist.

    Lt. BHS übersetzen Aquila, Symmachus und Theodotion `almah in Jes 7,14 abweichend mit neánis, wofür Pape wiederum die ÜS „das junge Mädchen, die Jungfrau“ bietet.

    Wie ist dieser vorläufige Befund zu interpretieren? Aquila, Symmachus und Theodotion waren jüdische Gelehrte des 1. und 2. Jhd. n.Chr.; wenn alle drei `almah abweichend von der Septuaginta mit neánis übersetzen dürfte darin wohl eine bewußt antichristliche
    Stoßrichtung liegen – für sie klang neánis anscheinend weniger nach biologischer Jungfrauenschaft als párthenos.

    Andererseits ist ja auch die Septuaginta von jüdischen Gelehrten verfaßt, allerdings zum größten Teil in vorchristlicher Zeit und da wurde die Gleichung `almah = párthenos offenbar nicht als anstößig empfunden.

    Meine Vermutung: die Begriffe „Mädchen“, „junge Frau“ und „Jungfrau“ wurden in der Antike nicht so scharf getrennt wie es bei uns heute üblich ist, da der Übergang „Jungfrau“ -> „junge Frau“ -> „Mutter“ i.A. in jungen Jahren und in einem vergleichsweise kurzen Zeitraum erfolgte. Das würde bedeuten Jes 7,14 konnte so oder so verstanden werden und strittig wurde die Interpretation erst als die Jungfrauengeburt für die christliche Dogmatik bedeutsam wurde.

    Das ist, wie gesagt, eine *Vermutung*. Wenn ich die Tage noch Zeit für eine ausführlichere Recherche finde, poste ich vielleicht noch mehr dazu.

  26. danke @RPGNo1 für den link
    und @Stephan

    „“… interessiert mich im Zusammenhang mit tendenziöser Bibelübersetzung „“

    da kann, muss man aber nicht, niht nur die bibel anschauen.
    bei Übersetzungen generell muss/sollte sowohl der politische, geschichtliche und soziale hintergrund einbezogen werden.
    dann ist es nochmal ein unterschied, ob es eine klare ‚technische‘ beschreibung ist, die erst mal nur etwas beschreibt, frei von idealisierung und glaubenssätzen.

    nun können wir heute – zum glück – ohne (grossen) einfluss der kirche auf viele ursprungstexte, ersten übersetzungen und übers. von übers. zurückgreifen, kennen oft die geschichtlichen und politischen gegebenheiten der zeiten und den politischen einfluss, wenn übersetzungen manchen nicht gefallen.
    gerade im zusammenhang mit der bibel sind in den letzten jahren viele dokumente neu verfasst worden.
    es ist heute leichter sowas unter experten auszutauschen und zu veröffentlichen ohne einer besonderen zensur zu unterliegen – natürlich nicht immer zum wohlgefallen der ‚oberen‘.
    in der bibel sind einige texte ja noch in anderem kontext als der wortwörtlichen übers. zu sehen. wenn es gleichnisse oder fabeln oder ähnliches in den texten gab, wusste man/frau zu der zeit oft sehr genau, was oder wer damit gemeint ist. sowas geht im laufe der zeit und durch den verlust ganzer sprachen natürlich verloren (z.b. auch übersetzungen der Maja)
    oder wenn das wort – wie im hebräischen – auch noch einen zahlenwert bekommt, der evt wieder einen anderen kontext ergibt.

  27. @user unknown (#27): Woher man weiß, daß das geflügelte Wort nicht schon vor Luther geprägt war? Gar nicht, ich wüßte ehrlich gesagt nicht, wie man das beweisen oder widerlegen könnte, außer durch mühseliges Wälzen von Bergen alter Folianten (so man Zugang bekommt), ohne Erfolgsgarantie.

    Ich habe gerade eben spaßeshalber mal das DWDS (www.dwds.de) konsultiert und zwar das Korpus „deutsches Textarchiv“ im Zeitraum 1472 (weiter reicht es nicht zurück) bis 1530.

    Für „Maul“ findet die Suche gerade mal einen(!) Beleg, für „Mund“ immerhin 87. Ich habe die Ergebnisseite mal nach den Strings „seh“, „sih“ und „sieh“ durchsuchen lassen und nichts passendes gefunden. Aber was beweist das? Genau gar nichts, dafür ist das Korpus zu wenig repräsentativ.

    Darum hatte ich auch vorsichtshalber geschrieben: „Es ist hinlänglich bekannt, daß viele ‚geflügelte Worte‘ […] ihren Ursprung in der sogenannt hohen Literatur haben, /oder doch zumindest auf diesem Wege eigentlich erst popularisiert worden sind/.“ Aber selbst letzteres kann ich nicht zu 100% garantieren…

  28. Nachtrag zu meinem Kommentar #29:

    OMG, an das Offensichtlichste denkt man oft nicht: der Gesenius ist ja längst gemeinfrei und jemand hat tatsächlich die englische Ausgabe ins Netz gestellt!

    Und dort findet sich unter dem Stw. `almah u.a.:

    „*a girl* of marriable age […] Used *of a youthful spouse recently married*, Isa. 7:14 (compare betulah Joel 1:8). […] The notion of unspotted virginity is not that which this word conveys, for which the proper word is betulah (see Cant. 6:8, and Prov. loc. cit.; so that in Isa. loc. cit. the LXX have incorrectly rendered párthenos)“

    Meine Vermutung war also offenbar falsch, ich nehme alles zurück und behaupte das Gegenteil…

  29. Epikouros,
    ……junge Frau….
    Meiner Meinung nach müsste es junge Frau heißen. Die Verklärung des Christentums hat erst um das Jahr 1000 eingesetzt. Man hat sich vorher ja auch gescheut , den Gekreuzigten als Symbol der Christen zu verwenden.
    Und eine uneheliche Frau als Mutter von Jesus, das geht nicht. Wobei dieser Gedanke gerade die Rolle der Frau in der Kirche gestärkt hätte. aber das wollte man nicht. Heute auch noch nicht!

  30. Statt „Nächster“, also Mensch gleich welcher Art, der zu lieben ist, steht im Original meines Wissens nach „Mann deines Stammes/Volkes“.
    Weiß jemand darüber etwas genaueres ?

  31. #1 (Klugscheissermodus an) Die Sprache ist nicht Alt-Deutsch, sondern frühneuhochdeutsch. Altdeutsch (ca. 750-1050), genauer Althochdeutsch, versteht man im Allgemeinen ohne germanistische oder ähnliche Ausbildung gar nicht mehr (Klugscheissermodus aus)

  32. Stephan,
    das Christentum war ursprünglich die Religion der Juden. Erst Paulus hat sich für die „Heidenchristen “ eingesetzt. Ich denke, Nächster im Sinne von Mann deines Volkes ist richtig.

  33. Mars #30
    Die ev Kirche in Deutschland gibt keine verbindliche Bibelübesetzung bzw. Interpretation der Gleichnisse heraus. Trotzdem werden alle 4 Jahre von einer Kommission die Bibeltexte nach Verbesserungen durchsucht, wobei die Verbesserungen Jahre später wieder zurückgenommen werden können.
    Die Formulierung junge Frau oder Jungfrau stellt dabei schon einen Knackpunkt dar. Dahinter verbirgt sich ein Rattenschwanz von Umdeutungen. Wer will schon alle Gesangsbücher umtexten wollen. Wer will lieb gewordene Gewohnheiten aufgeben?

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