Betrachtet man die Krater auf dem Mond, dem Mars und den anderen Himmelskörpern auf denen man Einschlagskrater sehen kann; untersucht man das Gestein das während der Apollo-Missionen vom Mond zur Erde gebracht wurde: Dann zeigt sich, dass es vor circa 3,8 Milliarden Jahren eine Phase in unserem Sonnensystem gegeben hat, in der deutlich mehr Krater entstanden als zuvor und danach. Dieses Ereignis nennt man „Late Heavy Bombardement“ und man ist sich ziemlich sicher, das es tatsächlich stattgefunden hat; aber weniger sicher, was die Ursachen angeht.
Die vielversprechendste Hypothese hat mit der sogenannten planetaren Migration zu tun. Ich habe darüber schon früher ausführlich geschrieben: Als die Planeten vor 4,5 Milliarden entstanden waren vor allem die großen Gasriesen im äußeren Sonnensystem noch ein wenig anders sortiert als heute. Jupiter war der Sonne ein bisschen ferner als jetzt; Saturn ihr ein bisschen näher. Auch Uranus und Neptun waren näher an der Sonne als heute (und vermutlich war damals Uranus auch der sonnenfernste Planet und nicht – so wie jetzt – Neptun). Durch die gravitative Wechselwirkung der großen Planeten mit den Asteroiden des äußeren Sonnensystems begannen ihre Bahnen sich aber langsam zu ändern. Jupiter rückte näher an die Sonne; Saturn entfernte sich von ihr. Und dann kam ein besonderer Moment: Saturn kreuzte die 2:1 Resonanz. Das bedeutet, dass Saturn und Jupiter genau so weit von der Sonne entfernt waren, dass ein Umlauf des Saturns exakt doppelt so lang gedauert hat wie einer des Jupiters. So einen Zustand nennt man „Resonanz“ und wie ich früher schon erklärt habe kann das zu einer äußerst chaotischen Bewegung führen. Das war auch damals der Fall; alles ging ein wenig drunter und drüber und am Ende hatten sich die Planeten so angeordnet wie heute. Außerdem wurden durch das ganze Chaos auch jede Menge Asteroiden aus dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter auf Kollisionsbahnen mit dem Mond, der Erde und den anderen Himmelskörpern gebracht. Das war das Late Heavy Bombardement und die Dynamik der Planeten im frühen Sonnensystem seine Ursache.
Kürzlich ist aber eine Facharbeit erschienen, die das anders sieht. David Nesvorný vom Southwest Research Institute in den USA und seine Kollegen haben sich genau angesehen, wie das mit den Asteroiden im frühen Sonnensystem war („Modeling the Historical Flux of Planetary Impactors“). Sie haben umfangreiche Computersimulationen durchgeführt und die Bewegung von ein paar zehntausend Asteroiden betrachtet; zusammen mit der Bewegung der Planeten. Tatsächlich stellten sie fest, dass die durch die Migration der Planeten ausgelöste Instabilität zu Kollisionen zwischen Asteroiden und Planeten führt. Aber es waren nicht genug Kollisionen.
In diesem Bild sieht man zum Beispiel auf der y-Achse die Zahl der Kollisionen pro Millionen Jahre für 10km große Objekte mit der Erde im Laufe der Zeit. Aber Achtung; die Zeitachse ist ein wenig ungewöhnlich beschriftet. Von links nach rechts geht es hier immer weiter in die Vergangenheit; der Moment der Instabilität ist ganz rechts im Diagramm. Wenig überraschend sinkt also die Zahl der Kollisionen im Laufe der Zeit.
Das zeigt auch dieses Bild hier, das Kollisionen mit verschiedenen Planeten (bzw. dem Mond) zeigt. Auf der y-Achse ist (logarithmisch) die Zahl der Kollisionen aufgetragen; auf der y-Achse die Zeit; wobei hier der Punkt der Instabilität aber ganz links ist und es nach rechts in Richtung Gegenwart geht.
Überraschend dagegen ist die detaillierte Auswirkung. Nesvorný und seine Kollegen haben aus den Kraterdaten des Mondes abgeschätzt, wie viele Einschläge von zum Beispiel 10 Kilometer oder 50 Kilometer großer Brocken es braucht um die beobachtete Kraterverteilung erklären zu können. Und haben gesehen, dass die Menge bei weitem nicht ausreicht.
Die Asteroidenkollisionen die durch die Migration der Planeten ausgelöst werden, reichen also nicht um das Late Heavy Bombardement zu erklären.
Und jetzt? Jetzt muss man neue Quellen suchen. Es könnte sich auch um Kometen aus dem äußeren Sonnensystem handeln. Dort, hinter der Bahn des Neptuns gab es damals auch jede Menge Kleinkörper und die sind ebenfalls durch die Migration aufgescheucht worden. Nesvorný und seine Kollegen verweisen auf frühere, eigene Arbeiten laut denen die Einschläge von Kometen im inneren Sonnensystem bis zu fünfmal häufiger sein könnten als die von Asteroiden. Allerdings passen die geologischen Untersuchungen des Mondgesteins nicht ganz zu der These, dass die Krater von Kometen verursacht worden sind. Da passt die chemische Zusammensetzung nicht und auch mit dem Timing der Einschläge in Bezug auf die Entstehung der Krater und deren Alter haut es nicht so ganz hin.
Was bleibt? Nesvorný und seine Kollegen verweisen am Ende des Artikels auf eine noch zu erscheinende Arbeit in der die aus der Entstehungszeit des Sonnensystems übrig gebliebenen Planetesimale für das Late Heavy Bombardement verantwortlich sein können. Und zitieren sogar Sherlock Holmes:
„Thus, in the spirit of “when you have eliminated the impossible, whatever remains, however improbable, must be the truth” (Doyle 1890), we identify the leftovers of the terrestrial planet accretion to be the chief suspect“
Ich bin da etwas skeptisch. Erst einmal bin ich verwirrt über die Trennung zwischen „Asteroiden“ und „leftovers of terrestrial planet accretion“. Asteroiden SIND das, was bei der Planetenentstehung übrig geblieben ist! Ich vermute, dass es den Wissenschaftler um die dynamischen Eigenschaften geht. Mit „Asteroiden“ meinen sie die Objekte, die sich im auch heute noch existierenden Asteroidengürtel zwischen den Bahnen von Mars und Jupiter befinden. Die „leftovers“ sind dann wahrscheinlich der ganze Krempel, der sich nach der Entstehung der erdähnlichen Planeten in oder in direkter Nähe ihrer Umlaufbahnen befunden hat. Und es wären dann vermutlich auch nicht durch die Jupiter-Saturn-Resonanz ausgelösten Instabilitäten, die für die Kollisionen gesorgt haben, sondern einfach die Tatsache, dass Planet und das nicht verwendete Planetenbaumaterial einander halt zwangsläufig in die Quere kommen.
Ob das wirklich so ist wird man erst beurteilen können, wenn der angekündigte Fachartikel auch wirklich erschienen ist. Allerdings gibt es von Nesvorný und seinen Kollegen auch einen Artikel aus dem Jahr 2007 in dem sie erklären, dass die Planetesimale nicht für das Late Heavy Bombardement verantwortlich sind.
Das Problem an der Sache ist das, was man in der Himmelsmechanik bei diesen Fragestellungen immer hat. Es geht um Ereignisse, die weit in der Vergangenheit stattgefunden haben und die man nur sehr, sehr bedingt bzw. eigentlich gar nicht durch irgendwelche konkreten Beobachtungen oder Messungen untersuchen kann. Die Gesteinsanalysen und Kraterzählungen können uns Hinweise geben und haben uns ja auch überhaupt erst darauf gebracht, dass es sowas wie das Late Heavy Bombardement gegeben hat. Die Beobachtung von Asteroiden; die Verteilung ihrer Bahnen und ihre Dynamik haben uns gezeigt, dass so etwas wie die planetare Migration stattgefunden haben muss. Aber die ganzen Details und die realen Vorgänge im frühen Sonnensystem können wir nicht beobachten. Wir können nur Computersimulationen durchführen und das bringt uns durchaus weiter! Aber es ist technisch auch immer noch sehr schwierig. Ich will nicht im Detail auf die ganzen Methoden eingehen, die Nesvorný und seine Kollegen verwendet haben, aber da gibt es nicht einfach einen Rechnern in den man einen Schwung Himmelskörper setzt und dann auf „Start“ drückt… Man muss zwangsläufig mit vielen Vereinfachungen arbeiten; kann die Simulationen nicht durchgehend von Anfang bis Ende durchführen sondern muss sie zwischendurch unterbrechen und je nach Modell anpassen; es gibt jede Menge freie Parameter bei denen nicht ganz klar ist, wie man sie am besten auswählt und so weiter.
Das heißt NICHT, dass die Simulationen schlecht, wertlos oder nicht aussagekräftig sind! Sondern nur, dass man aufpassen muss, wenn man aus ihren Ergebnissen allzu weitreichende Aussagen treffen will. Es ist eigentlich so wie bei anderen Wissenschaften auch: Beobachtungen, Messungen, Laborexperimente, und so weiter müssen auch immer im Kontext und mit Vorsicht betrachtet und unabhängig bestätigt werden bevor man sich auf sie verlassen kann. Ideal wäre es in diesem Fall, wenn man das ganze Problem von Anfang bis zum Ende durchsimulieren könnte. Man würde mit einer großen Scheibe aus Gas und Staub um die junge Sonne starten; dann zusehen wie sich daraus Planeten bilden, schauen wo was und wie viele Planetesimale übrig bleiben; wie und wann diese Objekte mit den Planeten kollidieren; wie die Interaktion der Planeten mit den Planetesimalen zur Migration führt; die Migration zum Chaos, und so weiter. Das wäre wirklich schön – aber um so etwas zu tun haben wir derzeit weder die nötige Computerpower noch die nötigen theoretischen Grundlagen die uns sagen, wie genaue Planeten entstehen und welche physikalischen Gesetze wir in den Computer programmieren müssen…
Irgendwann wird es die schnellen und starken Computer geben, die so etwas können und irgendwann werden wir auch wissen, wie wir sie programmieren sollen. Bis dahin müssen wir uns eben leider Schritt für Schritt vorwärts tasten und hoffen, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Inwiefern sind eigentlich die Bahnen der Planeten in den 4,5 Milliarden Jahren bekannt? Sind das nur Mutmaßungen oder hat man etwas Handfestes?
„Irgendwann wird es die schnellen und starken Computer geben, die so etwas können und irgendwann werden wir auch wissen, wie wir sie programmieren sollen.“
Bin ich der Einzige, der bei diesem Satz an Deep Thought denken musst? 😉
Ich finde die Aussage der Autoren, dass sie die Planetare Migration als Ursache ausgeschlossen haben etwas zu stark. Ich kann das natürlich nicht im Detail beurteilen, da ich kein Himmelsmechaniker bin, aber aus eigenen Erfahrungen mit Simulationen weiß ich, dass die Ergebnisse sehr stark von den Anfangsbedingungen (die ja in diesem Fall, wie Du schon sagst gar nicht genau bekannt sind) und den Details der Algorithmen abhängen können. Insbesondere bei einem Chaotischen System können da schon kleine Änderungen zu ganz anderen Ergebnissen führen. Insofern würde ich die Planetare Migration keinesfalls sicher ausschließen.
Stichwort „Labor“: kann man theoretisch auf einer Raumstation, die sich ggf. in einem Langrangepunkt befindet und mit z.B. Staub als Anfangszustand ein Experiment aufbauen, das ein paar Monate/Jahre lang läuft? Oder ist das unrealistisch wegen der Mikrogravitation und den elektrostatischen Anziehungskräften?
@Jockl:
Was soll das für ein Experiment sein und wozu braucht es dazu eine Raumstation? Und wozu soll dieses Experiment einen Lagrangepunkt umkreisen und vor allem an welchen hattest du so gedacht?
@Captain E., Jockl:
Eins um zu erforschen, wie sich Staub in Schwerelosigkeit zusammenballt – um mehr über Planetenentstehung zu lernen.
Eine nicht ganz neue Idee übrigens:
https://www.welt.de/print-welt/article627550/Am-Anfang-war-der-Staub.html
@PDP10:
Erklärt der Artikel aber auch die Notwendigkeit, eine Raumstation um was für einen Lagrangepunkt auch immer kreisen zu lassen?
@Captain E.:
Du könntest ihn einfach lesen … ;-).
Nö. Warum die Raumstation unbedingt um einen Lagrangepunkt kreisen muss, musst du Jockl fragen.
Mir gings grundsätzlich um Sinn und Zweck eines solchen Experiments.
Wieso man das gemacht hat, steht übrigens auch im Artikel :-).
@PDP10:
Das könnte ich, aber es hält doch sehr auf. 🙂
Hatte ich es mir doch gedacht!
Eine Raumsonde wäre wohl der bessere (weil billigere) Weg. Bliebe nur noch die Frage, zu welchem Lagrangepunkt sie fliegen sollte.
Langrange-Punkt hatte ich gedacht wegen der vielleicht geringeren relativen Gravitationskräfte von Sonne und Erde.
@Jockl:
Ja, aber welcher? Erde-Mond oder Sonne-Erde? L1, L2, L3, L4 oder L5?