Hinweis: Dieser Artikel ist ein Beitrag zum ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2016. Hinweise zum Ablauf des Bewerbs und wie ihr dabei Abstimmen könnt findet ihr hier.
Das sagt der Autor des Artikels, Orci über sich:
Orci ist Ingenieur im Chemieanlagenbau und hat dabei hin und wieder auch mit exotischen Messverfahren, z.B. der Radiometrie, zu tun.
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Radioaktivität ist ein faszinierendes Phänomen
Die Eigenschaft bestimmter Atomkerne spontan in Bruchstücke zu zerfallen und dabei Energie freizusetzen ist eine der spannendsten Entdeckungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. In den Jahren und Jahrzehnten nach Henri Becquerels berühmter Erkenntnis, dass ein Stück eines Uransalzes eine lichtdicht eingepackte Photplatte zu belichten vermochte, haben ganze Generationen von Forschern die Radioaktivität, die radioaktiven Isotope und die von ihnen ausgesandte ionisierende (und nicht etwa radioaktive) Strahlung untersucht. Radiaktivität ist faszinierend, aber unverstanden – von vielerlei Seiten. Wenn es einen Effekt gibt, der die Janusköpfigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zeigt, dann dieser.
Radioaktivität ist gefährlich – Radioaktive Elemente senden energiereiche ionisierende Strahlung aus, die in lebendem Gewebe große Schäden anrichten kann. Sie ist unsichtbar, unhörbar und nur in extremen Fällen spürbar. Damit entzieht sie sich unserer Alltagserfahrung, nur mit technischen Hilfsmitteln lässt sie sich nachweisen, nur mit viel erlerntem Wissen das Risiko richtig einschätzen.
Radioaktivität ist nützlich – Ob Strahlentherapie, Altersbestimmung oder Radionuklidbatterien – Radioaktivität ist das Prinzip hinter zahlreichen Anwendungen, die Leben retten, Lebensqualität erhöhen oder unser Wissen mehren können.
Im Folgenden möchte ich ein bisschen was von einer ganz besonderen (und nützlichen) Anwendung erzählen, die außerhalb des Kreises der Spezialisten so gut wie unbekannt ist – der Radiometrie mit Gammastrahlen.
Moderne Anlagen der Prozessindustrie kann man nur sicher betreiben, wenn man zu jeder Zeit über ihren Zustand informiert ist. Zu diesem Zweck sind die Anlagen mit Messgeräten ausgestattet, die hauptsächlich fünf Größen erfassen: Temperatur, Druck, Durchfluss, Füllstand und Dichte bzw. Konzentration. Die meisten Messaufgaben kann man mit den Standardgeräten der Hersteller lösen, z.B. den Füllstand eines Wassertanks mit einer hydrostatischen Druckmessung erfassen. Für komplexere Messaufgaben bzw. schwierige Prozessbedingungen (sehr hohe Temperaturen und Drücke, besonders aggressive und/oder giftige Stoffe) werden Spezialgeräte angeboten, die sich durch widerstandsfähigere Materialien oder besonders robuste Konstruktion auszeichnen. Aber manchmal reicht auch das nicht aus; dann muss man entweder den Prozess anpassen oder, falls unmöglich, auf ganz exotische Messverfahren zurückgreifen. Das ist dann oft die Stunde der Radiometrie und daher kommt auch ihr Wahlspruch: Wenn nichts mehr geht, geht Gamma!
Das Prinzip ist eigentlich ganz einfach
Radiometrie leitet sich von den beiden Wortstämmen radius und metrica ab – das sind die lateinischen Wörter für Strahl und Maß. Das wort bedeutet also sinngemäß Mit Strahlen messen und das ist in der Tat genau das, was man tut. Im allgemeinen Sinn ist die Radiometrie die Lehre von der Strahlung, aber in der Prozessmesstechnik benutzt man den Begriff etwas spezieller. Dort steht er explizit für eine Messung, die auf dem Prinzip der Absorption von Gammastrahlung beruht. So werde ich ihn im Weiteren auch verwenden.
Eine Radiometrische Messung besteht aus einem Sender für Gammastrahlung – dem Strahler – und einem Detektor, der die einfallende Strahlung misst. Der Aufbau ist immer gleich und im Grunde nicht schwer zu verstehen.
Von den drei Arten ionisierender Strahlung, die beim radioaktiven Zerfall entstehen – Alpha-, Beta- und Gammstrahlung – ist nur die Gammastrahlung für Messungen interessant. Alpha- und Beta-Teilchen – kann man nicht brauchen, ihr Durchdringungsvermögen für Materie ist zu klein (was den Vorteil hat, dass sie sich leicht abschirmen lassen).
Der Strahler wird außen an der zu messenden Anlage angebracht. Das ist der große Vorteil der Radiometrie: Das Messystem hat keine Berührungspunkte mit dem Prozess. Egal wie heiß, giftig, äzend oder sonst wie gefährlich das zu messende Medium ist, egal unter welchem Druck es steht – eine radiometrische Messung geht immer (solange Platz und Geld zur Verfügung stehen. Ein nicht unwesentlicher Punkt). In der Prozessindustrie kommt man immer wieder an einen Punkt, an dem man mit den konventionellen Messverfahren nicht mehr weiter kommt – ein einfaches Beispiel könnte die Trommel in einem Prozess sein, bei dem Hochdruckdampf entsteht sein: Die Trommel ist ein Teil von Dampfkesseln, bei denen unter sehr hohem Druck stehendes flüssiges Wasser zunächst fast bis zum kritischen Punkt erhitzt wird. Wegen des hohen Druckes bleibt das Wasser, obgleich über 200 °C heiß, flüssig, bis es in die Trommel geleitet wird. Dort wird es teilweise entspannt und verdampft dabei zu Sattdampf, der dann überhitzt, also über die kritische Temperatur hinaus erwärmt oder sonst irgendwie weiterverwendet werden kann. Die Trommel muss immer mit einer Mindestmenge Wasser gefüllt sein, damit die Anlage nicht beschädigt wird. Der Füllstand muss kontinuierlich gemessen oder mindestens ein Mindstfüllstand durch einen Grenzwertgeber erfasst werden – bei großen Trommeln kann die Risikoabschätzung ergeben, dass die Messung sogar sicherheitsrelevant ist. State of the Art ist in diesen Fällen die geführte Radarmessung. Bei besonders großen Drücken und Temperaturen kann es aber sein, dass diese konventionelle Methode nicht mehr richtig funktioniert. Wasserdampf ist kein so einfach zu beherrschendes Medium, wie die Assoziation zu Wasser vielleicht vermuten lässt, wenn Temperaturen und Drücke in besonders große Höhen steigen. Man wäre dann an dem Punkt, an dem nichts mehr geht – außer Gamma.
Bevor ein Hammerschlag getan wird, muss gerechnet werden. Geometrie des Behälters oder Anlagenteils, Absorption des Mediums, äußere Störeinflüsse und die Größe des Detektors muss man berücksichtigen. Ergebnis der Rechnung ist die notwendige Aktivität, die der Strahler haben muss – das ist die Anzahl Kernzerfälle pro Zeiteinheit. Aus dem Angebot der einschlägigen Hersteller wird dann das Produkt mit der kleinstmöglichen Aktivität ausgewählt (Erste Regel des Strahlenschutzes ist es, unnötige Strahlenexposition zu vermeiden). Strahler bestehen in der Regel aus Cobalt-60 oder Cäsium-137. Diese Stoffe sind chemisch stabil und handhabungssicher, haben eine passende spezifische Aktivität und die von ihnen emmitierte Gammastrahlung hat ein kleines Spektrum. Co-60 z.B. zerfällt praktisch immer unter Aussendung zweier Gammaquanten von ganz bestimmter Energie, die sich problemlos identifizieren lassen, Cs-137 sendet beim Zerfall in über 90 % der Fälle ein Gammaquant einer ganz bestimmten Energie aus. Die Detektoren sind dann natürlich so beschaffen, dass sie genau bei diesen Energien am empfindlichsten sind.
Die übliche Einheit der Aktivität ist auch heute noch, obwohl schon längst keine SI-Einheit mehr, das milli-Curie (mCi). Das hat praktische Gründe – übliche Aktivitäten liegen in der Größenordnung von 10 bis 10³ mCi und der Umgang mit glatten Zehnern fällt den meisten Menschen leichter als mit krummen Milliarden (1 mCi ist übrigens die Aktivität von 1 mg Radium-226 und zu Ehren des Forscherpaares Marie und Pierre Curie so definiert).
Ist ein passender Strahler ausgewählt, muss er in einem Abschirmbehälter untergebracht werden, denn ärgerlicherweise strahlt ein Strahler eben doch nicht nur in Richtung Detektor, sondern in alle Richtungen. Die zweite Regel des Strahlenschutzes lautet: Kann man Strahlenexpositionen nicht vermeiden, muss man sie auf ein Mindestmaß begrenzen. Deswegen umgibt man den Strahler mit einer Abschirmung aus Blei, die nur für den eng fokussierten Strahlungskegel eine Öffnung hat, mit dem gemessen werden soll. Blei nimmt man wegen seiner hohen Dichte, denn ein Stoff schirmt umso besser ab, je größer seine Dichte ist. Durch die Verwendung von Blei können die Baugrößen in einem erträglichen Rahmen gehalten werden. Aber auch so liegt die Masse eines kleinen Strahlers mit Abschirmung mindestens im Bereich einiger 10 Kilogramm. Die größten Abschirmbehälter können mehrere Tonnen wiegen. Radiometrie ist nichts für schwache Leute.
Der Strahler in unserem Beispiel wird so montiert, dass der Strahlungskegel durch die Trommel und das zu messende Medium reicht. Den Detektor montiert man auf der anderen Seite des Behälters, dem Strahler gegenüber, so dass der gersammte Strahlungskegel auf seine Oberfläche fällt. Damit will man unnötige Strahlenexposition des Personals vermeiden und verhindert damit gleichzeitig eine Verfälschung der Messergebnisse. Zuletzt muss der Detektor noch elektrisch mit dem Leitsystem verbunden werden, dann kann man die Messung in Betrieb nehmen. Zunächst wird der leere Behälter gemessen – die Abschirmung wird in Richtung Detektor geöffnet und der Strahler sendet Gammaphotonen durch den Behälter. Die von den Behälterwänden und -einbauten absorbierte Strahlung wird erfasst, damit man sie später ausgeblendet werden kann. Ist das getan, wird der Detektor selbst auf das zu messende Medium und den Messbereich kalibriert. Früher hätten wir unsere Trommel dazu noch tatsächlich mit Wasser füllen müssen, heutzutage kann man die Software der Geräte enstprechend parametrieren.
Strahlendetektoren für den Einsatz in Radiometrischen Messystemen funktionieren nach dem Prinzip des Szinillators: In einfachen Worten löst ein einfallendes Gammaquant einen Lichtblitz aus, der intern verstärkt und schließlich in ein elektrisches sogenanntes Einheitssignal umgesetzt wird. Dabei wird der gewünschte Messbereich des Behälterfüllstandes, z.B. 0-1.000 mm, in ein Stromsignal von zumeist 4-20 mA umgeformt (Geräte, die das tun nennt man deswegen Messumformer oder Transmitter) Die Anzahl einfallender Gammphotonen pro Zeiteinheit ist dabei ein Maß dafür, wie stark die vom Strahler gesendete Strahlung absorbiert wird. Und diese Absorption wiederum ist ein Maß für den Istwert des Füllstands.
Die Messung eines Behälterfüllstands ist zwar die häufigste Anwendung und in der Tat heißt auch der Wikipedia-Artikel explizit Radiometrische Standmessung, aber in Wirklichkeit kann die Radiometrie noch viel mehr.
Weil das Prinzip immer dasselbe ist – Absorption von Gammastrahlung in einem dichten Medium – kann man im Prinzip alles radiometrisch messen, was die Dichte des Messgutes beinflusst, wie z.B. den Druck eines komprimierten Gases. Man stelle sich einen Reaktor vor, in dem Phosgen oder Ethylenoxid bei 100 bar und wenigen Kelvin unter der Explosionsgrenze miteinander reagieren sollen. Konventionelle Druckmessgeräte haben mit Ethylenoxid Probleme, weil es spontan polymerisieren und damit die Messeinrichtung verkleben kann, zudem ist es hochexplosiv und giftig; Phosgen ist sehr gifitig. Radiometrisch geht es berührungsfrei. Überhaupt glänzt die Radiometrie vor allem dort, wo das Messgut giftig ist und jedes andere Messgerät verkleben würde. Aber das ist immer noch nicht alles – Die Dichte kann auch direkt gemessen werden, z.B. die Konzentration heißer, hochkonzentrierter Salpetersäure, deren Handhabung zum Schwierigsten gehört, was es in der Prozessindustrie so gibt.
Auch der Massenstrom von Feststoffen auf einem Transportband kann radiometrisch erfasst werden. Zement wird z.B. bei ca. 1.400 °C in einem Drehrohrofen gebrannt. Der immer noch rotglühende Rohzement wird vom Ofen in einen Bunker gefördert. Eine Radiometrische Messung ist im Moment die beste Möglichkeit, die Messaufgabe zu erfüllen, die nicht von den sehr hohen Temperaturen beeinträchtigt wird und gleichzeitig genau genug ist. Dabei strahlt der Strahler senkrecht von oben durch das Messgut und das Transportband hindurch auf den darunter befindlichen Detektor. Über den Zeitverlauf der Absorption und die Bandgeschwindigkeit kann man den Massenstrom erfassen. Dasselbe Prinzip lässt sich auch bei der pneumatischen oder hydraulischen Förderung von Feststoffen durch Rohrleitungen anwenden – Strahler und Detektor werden dann einfach einander gegenüber außen an der Rohrleitung befestigt. Die Strahlung wird entsprechend des Feststoffanteils im Fördermedium absorbiert und so der Durchfluss bestimmt.
Überdies bieten Radiometrische Messungen den Vorteil, fast immer nachträglich nachgerüstet werden zu können. Der nachträgliche Einbau von Messgeräten in eine vorhandene Anlage erfordert in der Regel umfangreiche bauliche Veränderungen: Rohrleitungen müssen aufgetrennt und neu verlegt, Behälter aufwändig umgebaut, vielleicht andere Geräte versetzt werden – ein riesen Rattenschwanz. Ein radiometrisches Messystem wird – überspitzt ausgedrückt – einfach außen angebaut.
Aber nicht nur Stoffe in Behältern können gemessen werden, es ist sogar möglich, in das Innere von dickwandigen Behältern hineinzusehen, die für Röntgenstrahlen fast undurchsichtig sind. Das wird z.B. dann gemacht, wenn in einer chemischen Fabrik eine Kolonne nicht mehr richtig funktioniert und man herausfinden will, ob Böden oder andere Einbauten verformt oder aus ihren Verbänden gerissen wurden. Auch dickwandige Reaktoren oder Rohrleitungen kann man so zerstörungsfrei auf Korrosion oder mechanische Beschädigung überprüfen – gemessen an ihren Möglichkeiten ist Radiometrie ein Tausendsassa.
Die vielen Vorteile erkauft man sich mit vielen Nachteilen
Weil die Detektoren so empfindlich sind, reagieren sie heftig auf Störungen. Wird irgendwo in der Anlage oder in der Nachbarschaft z.B. eine Rohrleitung geröntgt, kann das die Messung durcheinander bringen. Evtl. reicht sogar ein Mensch, der am selben Morgen noch Kontrastmittel hat nehmen müssen, um im wahrsten Sinn des Wortes im Vorbeigehen die Messung zu verfälschen.
In der Praxis muss man auch noch jede Menge administrativen Kram beachten: Die Messung muss der Strahlenschutzverordnung genügen, der Betreiber muss einen Strahlenschutzbeauftragten benennen (der die nötige Sachkenntnis nachweisen muss!), die zuständige Behörde muss involviert werden, es gibt zusätzliche Dokumentations- und Nachweispflichten, aus normalen Mitarbeitern werden beruflich Strahlenexponierte Personen mit allem was an Untersuchungen und Dokumentation zusammenfällt – und das ist nur die Spitze des Eisbergs. In der Wirklichkeit kostet die Messung (inklusive Planung & Montage) an sich schon 5 bis 10 Mal so viel, wie ein koventionelles Gerät und etwa dieselbe Summe kommt über ihre Lebensdauer noch an zusätzlichem Aufwand dazu.
Von den vielen Hundert oder gar Tausend Kilogramm Blei, die der Betreiber dann in seiner Anlage zu liegen, stehen oder hängen hat und die man erst mal irgendwo unterbringen muss, gar nicht erst anzufangen…
Radiometrie will wohlüberlegt sein.
Wenn nichts mehr geht, geht Gamma – aber wie lange geht noch Gamma?
Radiometrie kann viel, aber hat auch viele Nachteile und deswegen ist die Frage berechtigt, ob sie nicht irgendwann verschwinden wird, weil die konventionelle Messtechnik ja auch nicht auf der Stelle tritt.
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach vielleicht, aber sicher nicht so schnell.
Radiometrie besetzt eine kleine Nische hochspezialisierter Anwendungen. Sie wird dann und nur dann eingesetzt, wenn alles andere versagen würde.
Wenn nichts mehr geht, geht Gamma – nur wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, nur wenn die Prozessbedingungen so extrem sind, das nichts anders funktioniert, werden Zeit, Geld und Aufwand in eine radiometrische Messung investiert. Die Entwicklung im Anlagenbau geht immer stärker hin zu diesen Extremen, zum Ausreizen der physikalischen Grenzen des Materials, zum Fahren der Anlage am Anschlag des technisch möglichen. Da werden Exoten wie die Radiometrie zumindest noch für lange Zeit ihre ökologische Nische finden.
Exzellent. Ein Bereich, der mir völlig neu war. Hervorragend erklärt und bebildert. 1A.
Ich frage mich noch, wieviel strahlender Müll bei sowas anfällt. Wird nicht so eine Trommel z.B. mit der Zeit verstrahlt, so dass sie als Atommüll gilt? Wie ist da die Entsorgung geregelt?
Das klingt aber nicht gerade beruhigend. Steigt damit auch das allgemeine Unfallrisiko (vor allem die potenzielle Schwere von Unfällen) in der Prozessindustrie?
Die Gammastrahlung selber dürfte doch eigentlich gar nicht so schlimm sein. Sie ionisiert vielleicht, aber sie aktiviert doch nichts. Da wäre Neutronenstrahlung meines Erachtens viel übler. Über Neutroneneinfang werden Allerweltsatome radioaktiv und transmutieren das Periodensystem nach oben.
Je nachdem wie hochenergetisch die Gammas sind können die per Kernphotoeffekt Neutronen produzieren, die dann wiedrum ativieren. Kommt auf den Strahler an würde ich sagen, kann man aber auch bestimmt gut berechnen.
Mal an den Schreiber: Wo ist denn die Grenze der Gammas? Ich kann mir vorstellen, dass bei Materialien mit hoher Kernladungszahl oder großen Rohrdurchmessern die Durchdringungstiefe nicht mehr ausreichend ist. Hat das in der Praxis Relevanz?
Falls Ja, kann man natürlich das ganze auch mit Neutronen machen, die kommen überall durch. 😉
Klasse Einführung ins Thema!
Erstmal vielen Dank für den spannenden Artikel.
Aber irgentwie auch nicht so richtig beruhigend. Also so Phosgen und Ethylenoxyd bei 100 bar. Und mit dem Satz: „Die Entwicklung im Anlagenbau geht immer stärker hin zu diesen Extremen, zum Ausreizen der physikalischen Grenzen des Materials, zum Fahren der Anlage am Anschlag des technisch möglichen“ ?
Du ich bin echt nicht empfindlich , kann aber zur BASF sozusagen spucken.
Sag jetzt bitte etwas nettes ok ? 🙂
Also sowas wie 10 fache sicherheit eingebaut und so. mhhh?
Erstmal vielen Dank für den spannenden Artikel.
Aber irgentwie auch nicht so richtig beruhigend. Also so Phosgen und Ethylenoxyd bei 100 bar. Und mit dem Satz: “Die Entwicklung im Anlagenbau geht immer stärker hin zu diesen Extremen, zum Ausreizen der physikalischen Grenzen des Materials, zum Fahren der Anlage am Anschlag des technisch möglichen” ?
Du ich bin echt nicht empfindlich , kann aber zur BASF sozusagen spucken.
Sag jetzt bitte etwas nettes ok ?
Also sowas wie 10 fache sicherheit eingebaut und so. mhhh?
P.S sry wenns doppelt kommt aber wann etwas in die moderation geht raff ich nicht so.
Toller Artikel! Kommt gleich auf meine Liste.
@Dampier
Nur die eigentliche Strahlungsquelle ist Atommüll. Der Rest ist (und bleibt siehe unten) ungefährlich.
@Tobias Croenert
Wie im Artikel gesagt verwenden die Detektoren Cobalt-60 oder Cäsium-137. Cobalt-60 Strahlt mit 1.3 MeV, Cäsium-137 mit 1.2 MeV. Beides ist deutlich unter der Grenze für den Kernphotoeffekt von 2,18 MeV. Die Energie der Gammaphotonen reicht also nicht aus, um andere Elemente zu transmutieren. Es entsteht also mit der Zeit kein zusätzlicher Atommüll. Das ist vermutlich auch einer der Gründe, warum genau diese Isotope am häufigsten eingesetzt werden.
@tomtoo
Zitat von Wikipedia: „Der Einsatz von Phosgen als chemischer Gaskampfstoff (Grünkreuz) war für den Großteil der etwa 90.000Gastoten des Ersten Weltkriegs verantwortlich“. Also wenn in Deiner Nachbarschaft ein Drucktank mit Phosgen in die Luft fliegt, dann sind die paar Milligramm Cäsium-137 Dein geringstes Problem…
… Aber natürlich ist der Betreiber sich dieses Risikos bewusst und hat entsprechend vorgesorgt (10 fache Sicherheitsvorkehrungen). Nicht zu vergessen, der Detektor hilft ja auch dabei Probleme rechtzeitig zu erkennen, bevor es zur Explosion kommt.
Danke für die Info, Till :]
Es gibt Lösungen für Probleme, über die ich noch gar nicht nachgedacht hatte.
Das ist mir jetzt eigentlich nichts Neues.
Ich schätze mal, daß ich mir ganz vieler Schwierigkeiten (incl. deren Bewältigung) nicht bewusst bin.
Umso mehr schätze ich Beiträge wie diesen, die mir Ebensolches umfänglich und verständlich nahe bringen.
Sehr schöner Artikel über ein interessantes Thema, das mir noch nicht geläufig war.
@Till:
Wenn ich tomtoo richtig verstanden habe, macht er sich um das Phosgen und das Ethylenoxyd viel mehr Sorgen. Die Behälter werden ja anscheinend immer weiter an die physikalisch möglichen Grenzen getrieben.
Mal eine Frage zur Relation: In Brasilien, Thailand und Taiwan hat es bekanntlich einige Zwischenfälle mit medizinischen Geräten gegeben, die entweder Cobalt-60 oder Cäsium-137 enthalten hatten. Ist in diesen medizinischen Geräten eine ähnlich Menge strahlenden Materials enthalten wie in der hier beschriebenen Gamma-Quelle, oder ist es vielleicht sogar mehr?
Ich hab mir ehrlich gesagt um die Strahlungsquelle überhaupt keine Sorgen gemacht.
Es klingt halt so: „Wir betreiben die Töpfe immer mehr im Grenzbereich“.
Und wollte halt vom Urheber der Zeilen so ein wenig Relativierung. Captain e hat das richtig erkannt.
@Captain E.
Wikipedia schreibt zur Durchstrahlungsprüfung:
Das ist deutlich weniger (Faktor 10-1000) als in der medizinischen Anwendung (Kobaltkanone)
Man sollte auch 0.5 mm große Präparate nicht unterschätzen, für einen Menschen sind auch diese Mengen gefährlich.
@tomtoo
O.k. dazu kann ich nichts sagen, da ich selbst nicht im Anlagenbau tätig bin. Vielleicht kann @Orci ja dazu etwas sagen.
Ja, richtig gut geschrieben!
Danke für die ganzen Rückmeldungen – ich freu mich, wenn der Artikel gut ankommt. Ich will mal versuchen, ein paar Fragen, die aufgeploppt sind zu beantworten.
Wenn man eine Anlage baut, dann versuchen die Kollegen von der Verfahrenstechnik die Apparate, Maschinen, Rohrleitungen, etc. nach Möglichkeit eigensicher bzw. selbstbegrenzend auszulegen, aber die Leittechnik ist mittlerweile so gut, dass man Anlagen in Druck- und Temperaturbereichen betreiben kann, in denen unter Umständen eigensichere Auslegung schwer bis unmöglich ist. Das dadurch entstehende Risiko muss man irgendwie anders reduzieren (wie man das macht, habe ich letztes Jahr beim Schreibwettbewerb mal angerissen). Konkret bedient man sich dabei dann der sogenannten Funktionalen Sicherheit, also Logikbasierten Sicherheitsschaltungen. Z.B. könnte ein Druckbehälter dann durch eine redundante Druckmessung überwacht sein, die beim Überschreiten eines Grenzwertes die Zuläufe schließt und eine Entspannungsleitung öffnet.
Gleichzeitig sind alle Beteiligten heute sehr viel sensibler, was Unfälle angeht. Die Zeiten, in denen Todesfälle oder schwere Verletzungen durch Arbeitsunfälle eben irgendwie dazugehörten sind schon lange Geschichte. Es würde mich nicht wundern, wenn von den heute im Berufsleben stehenden Menschen sie überhaupt niemand mehr selbst erlebt hätte.
Die plakative und ebenso einfache wie falsche Antwort auf Deine Frage ist deswegen Ja, die Risiken, die auf dem Papier stehen (also das Produkt aus Schadensausmaß und Schadens-Eintrittswahrscheinlichkeit) steigen. Es gibt seit einigen Jahren aber eine deutliche Tendenz dazu, Risikobetrachtungen stringenter und formaler durchzuführen als früher und die erkannten Risiken durch bewährte Methoden zu senken. Ich persönlich denke, dass unterm Strich die Restrisiken sogar eher sinken.
Ich weiss nicht, ob’s so was in Wirklichkeit gibt – ich bin kein Chemiker. Aber ich wollte bewusst zwei Stoffe, die äußerst unangenehm und schwierig zu handhaben sind.
Es ist sogar noch deutlich weniger als Till schrieb. Strahler in Strahlentherapiegeräten haben (Oder hatten? Baut man so was heute noch oder haben Linearbeschleuniger die Kobalt- und Cäsiumbomben schon verdrängt?) typischerweise Aktivitäten im Bereich 1 kilo-Curie, in Radiometrischen Messungen nie mehr als 1 Curie. Es sind also eher Faktoren 1000 – 1000.000 weniger.
Ich müsste mal unsere Experten fragen, ob es für den Zusammenhang von Aktivität und Dosisleistung einfache Überschlagsformeln gibt. Ich habe zwar vage was im Hinterkopf, würde aber nicht meine Hand dafür ins Feuer legen.
Was ich daran so erschreckend wie vielsagend finde, ist das völlig fehlende Bewusstsein für die Gefahr. Die Beteiligten waren sicher nicht außerordentlich dumm oder lebensmüde – sie wussten es einfach nicht besser. Ich bin auch völlig überzeugt, dass das in Deutschland passieren könnte, wenn irgendwo mal eine Cäsiumbombe auf einem Schrottplatz landet – vielleicht kennt hier ja jemand diesen Vorfall
Das ist ein Problem mit der Radioaktivität – man hat zwar irgendwie mal davon gehört, aber so ein bisschen weißes Pulver, das man nicht mal anfassen muss, kann doch nicht gefährlich sein.
In der Regel sind die Anlagen aus Stahl oder Glas. Höhere Kernladungszahlen als die von den Legierungsbestandteilen des Stahls kommen kaum vor und dann auch nur in Spuren. Auch die Stoffe sind in der Regel unproblematisch, meistens hat man es ja irgendwie mit Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, etc. zu tun.
In der Wirklichkeit will eh kein Anlagenbetreiber von sich aus eine Radiometrische Messung und wenn es denn doch sein muss, dann begrenzen Platz und Geld vermutlich irgendwann die Größe nach oben, denn mehr Aktivität des Strahlers heißt ja auch mehr Kontrollbereich, mehr Blei, mehr Auflagen, etc. In meiner beruflichen Praxis ist der Fall aber bisher nur bei evtl. notwendigen Nachrüstungen aufgetaucht, wenn unsere Experten die Messung zwar hätten realisieren können, in der Anlage aber schlicht kein Platz für die Abschirmung war.
Ich müsste meinen Alten Herrn mal fragen, der sich lange beruflich damit beschäftigt hat, ob sie irgendwann wegen Wandstärke, Durchmesser, etc. eines Apparats die Segel hätten streichen müssen.
Wenn ich ehrlich bin, hab ich mich nie gefragt, wie die Entsorgung genau geregelt ist. Soweit ich weiss, nimmt der Hersteller alte Strahler zurück und entsorgt sie dann entsprechend – für schwachaktiven Abfall ist das ja einigermaßen gut möglich.
Die Frage zeigt mir grade wirklich einen blinden Fleck, den ich bei Gelegenheit mal erhellen muss. Überspitzt ausgedrückt kauf ich das Ding ja nur und kümmer mich dann nicht mehr drum – wie der Anlagenbetreiber den Strahler wieder los wird, wär aber mal interessant zu wissen.
Vielleicht kann Tobias Cronert ja dazu was sagen? Mit radioaktivem Material hast Du sicher wesentlich mehr Erfahrung als ich.
Ich auch – und unter der Woche sogar ziemlich oft rein 🙂
@Till:
Mit anderen Worten: Der Strahler selber ist winzig – die Masse kommt von der Abschirmung.
Tja, essen sollte man das lieber nicht, und sich damit einreiben oder in Häuser verbauen natürlich auch nicht (Gefahr des Einatmens). Sollte sich so eine Anlage inklusive Gammaquelle allerdings per Brand oder Explosion in ihre Einzelteile zerlegen, wäre das schon ein verdammt großes Pech, wenn man eine signifikante Menge des strahlenden Inventars in den Körper bekäme.
Ich vermute mal, dass bei beiden verwendeten Substanzen die größte Gefahr für einen Menschen die im Körperinneren entstehende Betastrahlung ist, oder?
Ältere Rauchmelder arbeiten im Prinzip nach diesem Verfahren. Nur wir hier wegen des geringeren Abstandes zwischen rad. Quelle und Sensor ein
Alpha- oder Betastrahler verwendet.
Diese Rauchmelder bekommt man in England oder Irland für 5€ .
Über die Entsorgung macht sich da keiner Gedanken.
Orci,
Hoffentlich habe ich es nicht überlesen. Beim Gebrauch der verwendeten Substanzen, Caesium 137 und Kobalt 60 , fällt doch sicherlich Atommüll an. Ich vermute mal , es ist eher ein unproblematischer Müll aufgrund schwacher Strahlung und kurzer Halbwertszeit ( im Vergleich zu Plutonium oder Uranisotopen).
Welche Mengen fallen an, wie müssen diese gelagert werden und wie lange und wer bezahlt die Kosten?
Ansonsten finde ich den Beitrag sehr interessant und anschaulich erklärt, auch wenn ich als Fachfremder nur staune, was es alles gibt.
anderer Michael,
bei den Rauchmeldern wurden schwere Isotope verwendet, wie Americum, die sind alle noch in Gebrauch.
Nicht ganz. Ionisationsrauchmelder funktionieren anders als Radiometrische Messungen.
Das Prinzip der Radiometrie ist die Absorption von Gammastrahlung
Das Prinzip des Rauchmelders ist die Ionisation von Rauchpartikeln (Laut Wiki durch Alpha- und Betateilchen.)
Zwar bedient man sich in beiden Fällen Strahlenquellen, aber sowohl Strahlung als auch physikalisches Prinzip sind völlig verschieden.
Glaubt man dem Bild aus dem Wiki-Artikel, hat der Strahler im Rauchmelder eine Aktivität von 1 µCi – das wäre 3 bis 6 Größenordnungen weniger als bei einer Radiometrischen Messung und 6 bis 9 Größenordnungen weniger als bei der Strahlentherapie
Die Entsorgung übernimmt auch in diesem Fall der Hersteller bzw. wohl auch das Gesundheitsministerium.
Ohne es zu wissen vermute ich ob der kleinen Aktivität von Strahlern für Radiometrische Messungen, dass es sich um schwach- bzw. mittelaktiven Radioaktiven Abfall (Aktivität kleiner 0,25 Ci / m³ bzw. kleiner 25 Ci / m³, wenn man den IAEA-Vorschlägen folgt) handelt. Der wird dann z.B. in den berühmten gelben Fässern mit Beton vergossen und eingelagert – mit allen Problemen, die das evtl. mit sich bringt. Aber für eine definitive Antwort müsste man die Hersteller fragen.
Der Zusammenhang von Aktivität und Halbwertszeit ist für die Endlagerung Fluch und Segen zugleich – auf der einen Seite klingt hochaktiver Müll schneller ab, auf der anderen wird er dadurch – na ja, eben hochaktiv. Unter Umständen so aktiv, dass er eine Menge entwickelt und die Endlagerstätte dann irgendwie entwärmt werden muss. Für mehr müsste man allerdings einen Spezialisten fragen.
#18
https://www.spiegel.de/panorama/basf-mehrere-verletzte-bei-verpuffung-und-explosion-in-basf-werken-a-1116954.html
@anderer Michael:
Orci hat es im Grunde schon beantwortet, aber noch einmal ganz klar beantwortet: Der Zusammenhang zwischen der Halbwertszeit und der Intensität der abgegebenen Strahlung ist genau umgekehrt. Instabile isotope mit hoher Halbwertszeit strahlen relativ gering, solche mit niedriger Halbwertszeit strahlen relativ stark. Grund: Die abgegebene Strahlung entsteht immer nur beim Zerfall eines Atomkerns. Bei hoher Halbwertszeit sind die Atomkerne vergleichsweise stabil und zerfallen mit einer geringen Wahrscheinlichkeit, folglich entsteht auch nur wenig Strahlung.
Nachdem sich etliche Gemeinden rund um den belgischen Reaktor Tihange mit Jod-Tabletten eingedecken wollten, hagelte es Kritik in Foren und Kommentar-Boards. Die Maßnahme sei doch völlig unzureichend. Diese Kritik ging aber leider von falschen Voraussetzungen aus. Möglicherweise wird Jod (I-131) als nicht besonders gefährlich wahrgenommen, verglichen mit Uran oder Plutonium. I-131 gehört aber zu den drei flüchtigen Stoffen, die bei einer Reaktorkatastrophe freigesetzt werden und sich über größere Entfernungen verbreiten. Das meiste andere strahlende Inventar kommt nicht so weit, weil es vorher zu stabilen Tochterisotopen zerfällt oder sich am Boden ablagert. Mit 8 Tagen Halbwertszeit ist I-131 extrem gefährlich (Strontium-90 und Caesium-137 haben Halbwertszeiten von 27 bzw. 30 Jahren!), kann aber durch hohe Dosen von stabilem I-127 an der Ablagerung innerhalb des menschlichen Körpers (Schilddrüse) gehindert werden. Dass das „Medikament“ auch so seine Schattenseiten hat und deswegen nicht an Menschen über 50 verabreicht werden soll, steht dabei auf einem anderen Blatt.
#Dampier (24)
Ich hoffe nicht, dass Du meine Worte tatsächlich so deutest, als hielte ich schwere Unfälle heute nicht mehr für möglich – zumahl es nicht nur zu meinen Lebzeiten, sondern auch seit ich in der Industrie arbeite in Europa schon mehrere schwere Unfälle mit Toten gegeben hat.
Ich stehe voll zu dem, was ich geschrieben habe – Unfälle gehören heute nicht mehr irgendwie dazu, sondern sind furchtbare Ausnahmen. Die Zeiten sind tatsächlich vorbei, in denen jedes Jahr in einem Betrieb von der Größe der BASF in Ludwigshafen bei Arbeitsunfällen Menschen starben und darum nicht viel mehr Gewese gemacht wurde als ein Artikel in der Lokalpresse.
Und die Art, wie man heute Chemieanlagen und was dazu gehört baut und welche Gedanken man sich dabei macht hat sicher dazu geführt, dass sich die Sichtweise auf Unfälle so verändert hat.
#Captain E. (25)
Ja, die Sache mit den Jodtabletten ist auch ein sehr greifbares Beispiel für das Problem, dass man nur mit viel erlerntem Wissen das Risiko einschätzen kann. Ich kannte die Geschichte um die die Vevorratung von Jodtabletten im Umkreis des belgischen Reaktors nicht, aber kann mir gut vorstellen, dass sie sich so abgespielt hat. Wer nicht gerade Probleme mit der Schilddrüse hat, kennt die Tabletten auch eher aus dem März 2011, als auch in Deutschland die Nachfrage sprunghaft anstieg. Da ist es schon ziemlich schwer, ohne Weiteres zwischen eines sinnvollen Vorsorgemaßnahme und Hysterie zu unterscheiden.
@Orci
Nein, das war mir schon klar. Das Post da oben war vielleicht etwas kurz angebunden, sorry.
Das heißt ‚Die Post‘, Dampier, und sie war einmal des Bundes.
@Orci:
Kurz nach Tschernobyl entstand ein vielbeachtetes Jugendbuch, was angeblich Standardlektüre im Deutschunterricht geworden ist – „Die Wolke“. (Ich kann dazu nichts sagen, weil ich zur Zeit von Tschernobyl bereits mehr oder weniger gut getarnt durch das glücklicherweise weniger stark betroffene Schleswig-Holstein gerobbt bin.) Was ich aber über das Buch gelesen habe, ist schauderhaft. Nach Fukushima haben seine Fans geradezu gejubelt, dass es sich wieder einmal in der Realität bestätigt hätte.
Bitte? Wo wurden denn Zivilisten so schwer verstrahlt, dass sie binnen weniger Tage an der Strahlenkrankheit gestorben sind oder zumindest alle ihre Haare verloren haben? Den Eltern passiert ersteres in der Umgebung des Unglücksreaktor (geborstenes Druckgefäß!), woraufhin sie als unheilbar verstrahlt von Polizei und Militär erschossen werden, letzeres der jugendlichen Heldin ca. 100 km entfernt, nachdem sie durch einen Regenschauer kontaminiert wurde.
So ist das aber in der Sowjetunion nicht gelaufen und in Japan auch nicht. Die Evakuierung in Pripjat lief zwar zu spät an und setzte die Bevölkerung vor dem Abtransport noch mehr Strahlung aus, aber dermaßen verstrahlt wurden nur Menschen direkt am Reaktor. Erschossen wurde meines Wissens nach auch niemand, und in Japan ebensowenig. Für die Autorin und ihre Anhänger ist Strahlenexposition gleichbedeutend mit sofortigem Tod oder langwährendem Siechtum. Dass bei realen Unglücken nachgewiesenermaßen die meisten Opfer wesentlich niedrige Dosen abbekommen, wird schlichtweg ausgeblendet. Das ist für die Betroffenen immer noch schlimm genug – keine Frage. Die sowjetischen Liquidatoren können da so einiges erzählen, ebenso wie die Menschen mit Schilddrüsenkrebs oder durch die Strahlung geschwächtem Immunsystem, von denen es in der Ukraine oder Weißrussland so einige gibt. Wer aber zum dichterischen Mittel der Übertreibung greift, hat keinen Beifall für seine vermeintlich realistischen Geschichten verdient.
@Captain E.
Danke, dass Du das mal so klar aussprichst. Ich gehöre zu der Generation, die „Die Wolke“ im Unterricht lesen musste. Mich hat das Buch damals (ich war 12 oder 13) echt traumatisiert. Ich konnte Wochenlang nicht schlafen und hatte fürchterliche Albträume. Dass meine Eltern mir erzählt haben, dass man auch zu Hause vor radioaktiver Strahlung nicht sicher ist hat auch nicht gerade geholfen. So hatte ich dann nämlich das Bild, dass ich sicher eines qualvollen Todes sterben müsse, wenn irgendwo in Deutschland oder in angrenzenden Ländern wie Frankreich ein Atomreaktor (oder eine Atombombe) hochgeht.
Natürlich sollte man die Gefahren nicht verharmlosen, die von radioaktivem Material ausgeht, man sollte sie aber auch nicht übertreiben.
Solche Panikmache kann ganz konkrete Folgen haben und auch Menschenleben kosten. Zum Beispiel hat sich nach dem Unfall in Samut Prakan in Thailand eine schwangere Anwohnerin aufgrund der Verstrahlung dazu entschieden ihr Baby abzutreiben. Und das obwohl alle Experten und Ärzte ihr versicherten, das die Dosis der sie ausgesetzt war so gering war, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass ihr Baby mit Missbildungen zur Welt kommt. Man könnte also sagen, dass bei dem Unfall nicht 3 sondern 4 Menschen ums Leben kamen, 25% davon durch Panikmache.
Eine sehr lesenswerte Diskussion über Pausewang fand ich hier:
https://www.spiegel.de/einestages/die-letzten-kinder-von-schewenborn-horror-schocker-kinderliteratur-a-959122.html
Und jetzt was zur Entspannung:
Gamma Ray Gamma Ray Gamma Gamma Gamma Gamma Ray!
Ok, na gut, wenn man den Text hört jetzt nicht so … trotzdem ganz grosses Kino :-).
(Das Teil wollte ich hier schon die ganze Zeit rein posten …)
@Dampier:
Da geht es um ihr anderes Buch, das die Folgen eines Atomkriegs schildert, oder? Ich kenne es auch nicht, aber laut Sekundärliteratur scheint sie da weniger Bugs eingebaut zu haben. Ein Land, das von etlichen Nuklearwaffen getroffen worden ist, hat wirklich ein Problem.
Man führe sich nur vor Augen, dass die im Kalten Krieg ineinander verbissenen Supermächte freiwillig die oberirdischen Atomtests aufgegeben haben, weil die Strahlungsmessungen kontinuierlich steigende Werte ergeben hatten. Seither fallen die Strahlungswerte weltweit, und ein schweres Reaktorunglück wie Tschernobyl ergibt da nur einen winzigen Peak, der bei weitem nicht an die Maximalwerte im Zeitraum der Einstellung heranreicht.
@Till:
Ja, die Sache mit der Strahlung ist wirklich vertrackt. Da lernt man in der Schule, dass Alphastrahlung durch ein Blatt Papier aufgehalten wird und Betastrahlung durch dünnes Metall, wohingegen Gammastrahlung nur durch meterdicke Wände aus Beton und Stahl aufgehalten wird. Soweit alles richtig, nur dreht sich das alles um, wenn die die Strahlung aussendenden Atomkerne sich im Inneren deines Körpers befinden. Gammastrahlung wirkt unverändert, denn der menschliche Körper ist für diese Art Strahlung praktisch nicht-existent. Vielleicht werden Atome ionisiert und dadurch Zellen oder DNA zerstört, vielleicht aber auch nicht. Die meisten Photonen rauschen mit Sicherheit einfach durch. Alphastrahlung, die im Körperinneren entsteht, kann aber fast nichts anderes tun als von Atomen absorbiert zu werden, die Körperzellen aufbauen. Oder anders gesagt: Das Vorhandensein eines Alphastrahlers in einem Lebewesen lässt sich höchstens indirekt durch die charakteristische begleitende Gamastrahlung nachweisen. Die Alphastrahlung selber wird völlig verschluckt – und schädigt den Körper dadurch. So gesehen machen Schutzanzüge wirklich Sinn, halten sie doch zwar nicht die Gammastrahlung ab, aber zumindest die strahlenden Atome draußen.
Da sieht man’s mal – 1987 war ich noch im Kindergarten. Zur Schule bin ich in einer Zeit gegangen, als Gudrun Pausewang wohl grade weniger en vogue war, trotz dessen hab ich in der Zeit um 1995 Die Wolke, Der Schlund und Die letzten Kinder von Schwebenborn privat gelesen. Das ist jetzt aber auch schon wieder rund 20 Jahre her, also ist meine Erinnerung möglicherweise etwas getrübt.
Von heute aus dem Rückblick scheint mir Fr. Pausewang ein gutes Beispiel für die Anti-Kernenergie- und Umweltbewegung der frühen 1980er Jahre zu sein: Sehr misstrauisch gegenüber staatlichen Stellen jeglicher couleur, Überzeugt von Basisarbeit, in gewisser Weise altruisitisch, in anderer egoistisch, immer das schlimmstmögliche Szenario für die Zukunft im Blick (was für den ersten Wurf zwar passt, aber am Ende des Tages nicht unbedingt ideal ist). In ihren Büchern sind die Gefahren immer gleich total:
Grafenrheinfeld ist eine Ruine, alle Barrieren haben versagt, das gesamte radioaktive Inventar wurde freigesetzt (Die Wolke).
Deutschland wird von einer nationalistisch, völkisch und xenophob agierenden Partei in eine Diktatur umgewandelt (Der Schlund).
Die Welt vergeht im Thermonuklearen Krieg und auch für die Überlebenden gibt es wenig Grund zur Hoffnung (Die letzten Kinder von Schwebenborn).
Die Wolke sehe ich mit gemischten Gefühlen. Einerseits, sind das Schadensausmaß und die Reaktion der Bevölkerung viel zu stark übertrieben – weder nach Tschernobyl noch nach Fukushima kam es bei der Evakuierung flächendecken zu Tumulten und wäre die entwichene Aktivität so groß, dass Tausende Menschen binnen Wochen sterben, hätte Janna-Berta kaum selbst bis zum Ende des Buches überlebt. Andererseits weil es Sorgen und Ängste ausdrückt, denen zu begegnen nicht einfach ist und die man doch irgendwie ansprechen muss. Und bestimmt auch, weil es mich persönlich eben nicht traumatisiert oder extrem geschockt hat. Die Wolke war kein prägendes Buch meiner Jugend, deswegen bin ich auch emotinal nicht besonders daran gebunden – in guter oder schlechter Hinsicht. Ich glaube, dass ich damals schon ahnte, dass mir viele Leute Angst machen wollen, um mich für sie einzunehmen und, dass man aller Leute Worte mit einem mehr oder minder großen Körnchen Salz aufnehmen sollte. Sachlich und emotional kann man Die Wolke auf vielen Ebenen angreifen und ich denke persönlich nicht, dass bei der Behandlung im Deutschunterricht das Thema Kernenergie, Unfälle in Kerntechnischen Anlagen, wie damit umgegangen wird und was die Beispiele aus der Realität zeigen richtig besprochen wird. Ich will das nicht mal an inkompetenten Lehrern oder Ideologie fest machen – das Feld an sich ist dafür einfach viel zu weit. Die Wolke ist nun mal ein Werk der Fiktion und kein besonders gut recherchiertes noch dazu.
Die letzten Kinder von Schwebenborn ist in der Tat eine ganz andere Nummer. Wir haben ja keinerlei Anhaltspunkte, wie die Welt wirklich nach einem Atomkrieg aussieht, aber wir haben zwei Beispiele von Großstädten und Deutschlands Lage als Vorposten beider Lager wäre sicher von einer Unzahl Kernwaffen getrofen worden. Vielleicht hat jemand hier mal Threads gesehen, der in eine ähnliche Kerbe schlägt.
Das ist ein riesen Problem. Man stelle sich vor, dass 1/oo aller Deutschen aus Panik anfangen würde, dauerhaft Jodtabletten zu schlucken, weil auf der anderen Seite der Welt ein Kernkraftwerk havariert. Vielleicht gibt es sogar hie und da in unserem Land einzelne Leute, die genau das seit fünf Jahren tun. Darüber zu spekulieren ist aber genauso problematisch – ohne verlässliche Zahlen malt man unter Umständen selbst die Situation in viel zu dunklen Farben.
Danke für den Artikel – der Autor schreibt sich meinem Gefühl nach auch ein bisschen Frust von der Seele, aber das bedeutet nicht, dass er nicht Recht hätte. Gudrun Pausewangs Bücher schildern Horrorszenarien und nehmen nur Anleihen aus der Wirklichkeit – für Jugendbücher ist das in meinen Augen bedenklich.
@PDP10: Geiles Lied 😉
@Captain E.
Im Forum zu dem Artikel geht es um beide Bücher. Ich wusste nicht viel davon (ich habe das in der Schule nicht lesen müssen, da war ich in Südamerika), und fand die Erfahrungsberichte in den Kommentaren hochinteressant. War mir gar nicht klargewesen, wie heftig diese Bücher waren.
@myself
Stimmt gar nicht, ’83 war ich schon wieder da … es war wohl die Gnade der frühen Geburt, die mir diese Bücher erspart hat.
@Dampier, Orci:
Die Bücher kenne ich zwar nicht (was bedeutet, das ich sie damals in der Schule nicht lesen musste, sonst würde ich mich daran erinnern), aber dafür die Filme.
„The Day After“ (nein, der hat so gar nichts mit dem Emmerich Film zu tun!) und „When the Wind Blows“. Auch wenn letzterer einen genialen Titelsong von Bowie hatte – beides sehr düster und deprimierend.
The Day After gehört für mich auch zu den wirklich beklemmenden Filmen und von allen amerikanischen Produktionen kommt er dem Grauen eines Atomkriegs wohl am nächsten. Threads, mit dem er oft verglichen wird, ist für mich aber der eindrucksvollere Film. Das hat sicher damit zu tun, dass in The Day After zu viele bekannte Schauspieler, allen voran Jason Robards in einer seiner besten Rollen als Dr. Oaks, mitspielen. Die Familien in Threads haben dagegen unbekannte Gesichter. Ich möchte die Filme aber nicht gegeneinander ausspielen – beide wollen mit ihren Mitteln eine Blick in den Abgrund werfen. Und das gelingt ihnen.
Diese beiden Filme habe ich aber erst als Erwachsener gesehen; ich kann mich noch gut an die Eindrücke erinnern, die mir damals Anfang der 1990er When The Wind Blows vermittelt hat. Ich weiss gar nicht mehr, wie es eigentlich dazu kam, aber mich hat das alles schon sehr verwundert und nachdenklich gemacht. Viele Szenen konnte ich erst viele Jahre später einigermaßen deuten.
Mit zivilen Unfällen beschäftigen sich dagegen sehr wenige Filme – auf die schnelle fällt mir nur The China Syndrome ein, der deswegen bemerkenswert ist, weil es nicht eigentlich um die Sicherheit der Technik geht, sondern den Umgang damit durch die Verantwortlichen. Es gibt zwar einen Beinahe-Störfall, die Bedienmannschaft kann ihn aber beherrschen und die Anlage selbst gibt nur kleinere Hinweise auf einen unsicheren Zustand. Das eigentliche Thema des Films ist dann die Reaktion des Managements auf die Nachforschungen des Leitenden Ingenieurs.
Ah, einer fällt mir noch ein – Silkwood. Gegen Ende zwar mit sehr viel Geraune und Folklore angereichert, stellt der Film in seiner erste Hälfte ziemlich gut die Vorkommnisse in einer amerikanischen Fabrik Ende der 1970er Jahre dar, bei der es zu Freisetzungen von radioaktivem Material und Kontamination von Personen kam.
@Orci:
Ah ja, richtig. Den hatte ich gar nicht mehr auf der Uhr. Mit einer grossartigen Meryl Streep!
Threads dagegen sagt mir gar nichts. OK, habs grade Nachgeschlagen. Der lief wohl nie im deuschen Fernsehen und Filme aus der Zeit kenne ich praktisch alle nur ausm TV oder aus dem Kino ..