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sb-wettbewerb

Das sagt die Autorin des Artikels, Esther über sich:
Ich bin Esther und studiere Rechtswissenschaft mit dem Schwerpunkt „Kriminalität und Kriminalitätskontrolle“.

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Auf der Suche nach dem geborenen Verbrecher
Warum werden Menschen zu Verbrechern? Unterscheiden sich Kriminelle von Natur aus von Nicht-Kriminellen? Und kann man Kriminelle womöglich an ihrem Äußeren erkennen?
Einer der Ersten, der sich mit diesen Fragen beschäftigte, war der italienische Mediziner Cesare Lombroso. Beeinflusst durch Darwins Evolutionstheorie, stellte er im Jahr 1876 die Theorie auf, dass Kriminelle auf einer früheren, primitiveren Entwicklungsstufe stehen geblieben seien. Ob jemand zum Verbrecher werde oder nicht, sei durch seine genetischen Anlagen festgelegt. Der Kriminelle könne sich also nicht für oder gegen die Begehung einer Straftat entscheiden, sondern werde aus biologischen Gründen zu kriminellem Verhalten bestimmt.

Cesare Lombroso (1835-1909) (Bild: Public Domain)
Cesare Lombroso (1835-1909) (Bild: Public Domain)

Lombroso glaubte überdies, dass sich die kriminelle Natur des Verbrechers in seinem Äußeren wiederspiegele. Er führte Untersuchungen an zahlreichen Strafgefangenen durch und gelangte zu der Überzeugung, dass sich Kriminelle von Nicht-Kriminellen durch physische Merkmale wie eine flache Stirn, ein fliehendes Kinn, schielende oder blutunterlaufene Augen, eine auffällige Nasenform oder ungewöhnlich große oder kleine Ohren unterschieden. Allerdings machte Lombroso bei seinen Studien einen entscheidenden Fehler: Er verwendete keine Kontrollgruppe. Seine Untersuchungen beschränkten sich auf Strafgefangene, sodass er nicht wissen konnte, wie häufig die von ihm entdeckten Merkmale in der Normalbevölkerung auftraten.

So sehen Kriminelle nach Lombroso aus - Eine Seite aus seinem Werk „L’Uomo Delinquente“ (Bild: Public Domain)
So sehen Kriminelle nach Lombroso aus – Eine Seite aus seinem Werk „L’Uomo Delinquente“ (Bild: Public Domain)

Der englische Psychiater Charles Buckman Goring (1870-1919) machte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts daran, Lombrosos Theorie unter Verwendung einer Kontrollgruppe zu überprüfen. Über einen Zeitraum von 12 Jahren hinweg untersuchte er 3.000 verurteilte Straftäter und verglich sie mit 1.000 Studenten der Universitäten Cambridge und Oxford sowie mit Soldaten der britischen Armee. Bis auf eine leicht geringere Körpergröße und ein geringeres Gewicht der Strafgefangenen konnte er jedoch keine signifikanten körperlichen Unterschiede feststellen.

Zwillings- und Adoptionsstudien
Lobrosos Lehre vom Verbrecher, dem man seine kriminelle Natur ansieht, war damit zwar widerlegt. Der Gedanke, dass Verbrechen angeboren und vererblich sein könnte, war aber keineswegs aus der Welt geschafft. Insbesondere von Zwillings- und Adoptionsstudien wurden sich diesbezüglich Erkenntnisse erhofft.
Die Zwillingsforschung vergleicht eineiige und zweieiige Zwillinge miteinander. Ausgangspunkt ist folgender Gedanke: Wenn Verbrechen tatsächlich biologisch bedingt ist, müssten sich eineiige Zwillinge auf Grund ihres identischen Erbgutes hinsichtlich ihrer kriminellen Verhaltensweisen mehr ähneln als zweieiige Zwillinge, die nur 50% ihrer genetischen Ausstattung teilen.
Zwillingsstudien wurden bereits seit Ende der 1920er Jahre durchgeführt. Und tatsächlich verzeichneten sie eine weit höhere Übereinstimmung straffälligen Verhaltens (man spricht hier von einer höheren Konkordanzrate) bei eineiigen Zwillingen als bei zweieiigen Zwillingen. Anders ausgedrückt ist danach eine Person, deren eineiiger Zwilling kriminell ist, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit ebenfalls kriminell, als dies bei zweieiigen Zwillingen zu erwarten ist.
Die Aussagekraft dieser Studien ist jedoch begrenzt. Zum einen war die Anzahl der Versuchsteilnehmer, da es naturgemäß nicht allzu viele kriminelle Zwillinge gibt, bei den einzelnen Studien durchweg eher klein. Zum anderen muss die höhere Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen nicht unbedingt auf deren Veranlagung zurückzuführen sein: Eineiige Zwillinge werden wegen ihrer Ähnlichkeit von ihrem sozialen Umfeld häufig in stärkerem Ausmaß gleich behandelt als zweieiige Zwillinge. Beispielsweise finden es Eltern oft lustig, den identisch aussehenden Nachwuchs auch gleich zu kleiden. Daher lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob die höhere Konkordanzrate bei eineiigen Zwillingen nun auf der gleichen Veranlagung oder den gleichen Umwelteinflüssen beruht. Die Enge der zwischenmenschlichen Beziehung könnte ebenfalls eine Rolle spielen, da sich eineiige Zwillinge oft besonders nahe stehen und mehr Zeit miteinander verbringen als zweieiige Zwillinge.
Besser geeignet zur Überprüfung der These, dass Verbrechen anlagebedingt ist, sind Adoptionsstudien. Hinter diesen steckt die Idee, dass Adoptivkinder, was ihr straffälliges Verhalten betrifft, ihren leiblichen Eltern mehr ähneln als ihren Adoptiveltern, sofern tatsächlich eine biologische Ursache für Kriminalität besteht. Da die Adoptivkinder getrennt von ihren leiblichen Eltern aufwachsen, lassen sich biologische und äußere Einflüsse besser trennen als bei Zwillingsstudien.
In einer sehr umfassenden Adoptionsstudie aus Dänemark wurden über 6 000 Adoptivsöhne mit ihren Adoptiveltern und leiblichen Eltern verglichen. Das Ergebnis zeigt folgende Tabelle:

Nach Mednick, Gabrielli & Hutchings 1984. Als „kriminell“ wurden diejenigen Eltern eingestuft, bei denen entweder die Mutter oder der Vater wegen einer Straftat verurteilt worden war
Nach Mednick, Gabrielli & Hutchings 1984. Als „kriminell“ wurden diejenigen Eltern eingestuft, bei denen entweder die Mutter oder der Vater wegen einer Straftat verurteilt worden war

Die Adoptivkinder, deren leibliche Eltern kriminell waren, begingen also in höherem Maße Straftaten als die Adoptivkinder nicht-krimineller (leiblicher) Eltern. Waren nur die Adoptiveltern kriminell, wirkte sich das hingegen kaum auf die Delinquenz der Adoptivsöhne aus. Die höchste Kriminalitätsbelastung zeigten diejenigen Adoptivkinder, bei denen sowohl die biologischen als auch die Adoptiveltern kriminell waren.
Dies legt nahe, dass die biologische Komponente im Zusammenhang mit Kriminalität in der Tat eine Rolle spielt. Zugleich macht die Adoptionsforschung aber deutlich, dass Verbrechen nicht in dem Sinne angeboren ist, wie Lombroso und seine Anhänger sich das vorgestellt haben. Ein Fünftel der Adoptivkinder delinquenter leiblicher Eltern wurde zwar ebenfalls kriminell, die weit überwiegende Mehrheit wurde es jedoch nicht! Zudem zeigt sie, dass sich eine Kombination aus ungünstiger Veranlagung und Umwelteinflüssen am stärksten auf kriminelles Verhalten auswirkt.

Von Mörderchromosomen und Risikofaktoren
Unabhängig davon gab die Adoptionsforschung keinen Aufschluss darüber, welche biologischen Faktoren denn nun genau Kriminalität begründeten. Wodurch unterscheidet sich die genetische Ausstattung von Menschen, die Straftaten begehen, von solchen, die es nicht tun? Gibt es bestimmte Dispositionen, die zwangsläufig zu kriminellem Verhalten führen?
In den 60er Jahren nahm man an, dass Männer mit dem XYY-Syndrom, also solche, die ein zusätzliches Y-Chromosom besitzen, eine gesteigerte Aggressivität aufweisen und demzufolge verstärkt zu Gewalttaten neigen würden. Großes Aufsehen in der Öffentlichkeit erregte dabei der Fall um den US-amerikanischen, achtfachen Frauenmörder Robert F. Speck, der über das sog. „Mörderchromosom“ verfügen sollte. Die Diagnose stellte sich jedoch als falsch heraus. Und auch die These, dass ein überzähliges Y-Chromosom kriminaltätsfördernd wirke, ist inzwischen empirisch widerlegt.
Die Suche nach den biologischen Gründen für Kriminalität geht indessen weiter. Ein einzelnes Gen oder eine körperliche Anomalie, die den geborenen Verbrecher auszeichnet, wurde bislang aber nicht gefunden. Und wird es wohl auch nie werden. Kriminalität ist eben komplex, eine einfache Antwort auf die Frage nach der Ursache von Verbrechen gibt es nicht.
Im Laufe der letzten 150 Jahre wurden zahlreiche kriminologische Theorien entwickelt. Während Lombroso in Italien seine biologische Theorie aufstellte, machten in Frankreich der Mediziner Alexandre Lacassagne (1843-1924) und der Richter Gabriel de Tarde (1843-1904) das soziale Umfeld des Menschen für Verbrechen verantwortlich. Der deutsche Rechtswissenschaftler Franz von Liszt (1851-1919) versuchte die beiden gegensätzlichen kriminologischen Lehren in seiner Anlage-Umwelt-Formel zu vereinen: Kriminalität sei sowohl durch die angeborene Eigenart des Täters als auch durch gesellschaftliche Einflüsse bedingt.

Alexandre Lacassagne, einer der größten Kritiker Lombrosos. Von ihm stammt auch der berühmte Ausspruch: „Die Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.“ (Bild: Public Domain)
Alexandre Lacassagne, einer der größten Kritiker Lombrosos. Von ihm stammt auch der berühmte Ausspruch: „Die Gesellschaft hat die Verbrecher, die sie verdient.“ (Bild: Public Domain)

Im 20. Jahrhundert entstanden weitere kriminologische Theorien. Keine hat dabei den Anspruch, alle Formen von Kriminalität zu erklären. Manche beschäftigen sich mit der Frage, warum in bestimmten Gesellschaften oder historischen Epochen vergleichsweise viele Normbrüche auftreten. Andere versuchen zu klären, warum der Einzelne kriminell wird, welche Rolle dabei Lernprozesse, die soziale Bindung an die Gesellschaft oder bestimmte Charaktereigenschaften wie Selbstkontrolle spielen, und wieder andere, warum Menschen, die Straftaten begangen haben, ihre kriminelle Laufbahn beenden.
Dass eine bestimmte genetische Veranlagung einen Menschen zwangsläufig zum Verbrecher macht, glaubt heute niemand mehr. Es gibt Faktoren, die Kriminalität wahrscheinlicher machen und die sowohl biologisch als auch durch Umwelteinflüsse bedingt sein können. Man nennt diese interne und externe Risikofaktoren. Interne Risikofaktoren können zum Beispiel neurologische Beeinträchtigungen und daraus folgende Lern- und Aufmerksamkeitsdefizite sein, zu externen Risikofaktoren zählen etwa familiäre Konflikte, fehlende Zuwendung, Misshandlung oder eine delinquente Peergroup. Diesen stehen jedoch auch interne und externe Schutzfaktoren gegenüber, die vorhandene Risikofaktoren ausgleichen können. Die aktuelle kriminologische Forschung versucht unter anderem herauszufinden, welche inneren und äußeren Risiko- und Schutzfaktoren es gibt und wie sie aufeinander wirken.
Demgegenüber ist Lombrosos biologische Theorie nicht nur überholt, sie hat heute auch einen sehr negativen Beigeschmack. Zu Recht, denn sie ermöglicht es, Menschen auf Grund ihrer Anlagen vorzuverurteilen und Straftäter aus der Gesellschaft auszugrenzen, anstatt ihnen die Chance auf Resozialisierung und Wiedergutmachung zu geben. So griffen die Nationalsozialisten im Dritten Reich auf Lombrosos Lehre zurück und missbrauchten sie als Rechtfertigung für die Durchführung von Zwangssterilisationen und die Verhängung von Sippenhaft.
Lombrosos Verdienst ist trotz allem darin zu sehen, dass er erstmals die wissenschaftliche Suche nach den Ursachen von Kriminalität in den Vordergrund rückte. Er stellte die kriminalpolitische Forderung, strafrechtliche Entscheidungen an empirischen Befunden auszurichten. Und letztendlich war es Lobrosos Ziel – wie das aller anderen auch, die sich intensiv mit den Ursachen von Verbrechen beschäftigten – Kriminalität zu verstehen und so einen Weg zu finden, sie zu verhindern.

18 Gedanken zu „Auf der Suche nach dem geborenen Verbrecher“
  1. Dieses Gebiet ist halt recht riskant.
    Wenn wirklich was gefunden werden würde, dann kann das eben wirklich auswirkungen haben. Leute mit bestimmten Genen oder Merkmalen würden Diskriminiert werden. Usw.

    Was mich aber interessiert ist: Was heisst in all den Studien eigentlich „ist Kriminell“ oder „ist verurteilt worden“?

    Zählt man auch dort drin wenn man ne Rote Ampel überfahren hat und zu ner Geldstrafe verurteilt worden ist? Oder etwas ähnliches Banales?
    Oder nur „schwerere“ vergehen wie Körperverletzung, vergewaltigung und mord. Was ist m it Wirtschaftsverbrechen? Usw.

    Denn, jenachdem kann es zB in der Adoptivstudie auch heissen: Der Leibliche Vater hat steuern hinterzogen, der Sohn hat 7 Frauen vergewaltigt und umgebracht. Aber ob es dann zwischen diesen 2 Verbrechen wirklich einen Zusammenhang geben soll? Vorallem weil die Motive auch sich ziemlich unterscheiden (nehme ich an, bin kein Experte).

    Und natürlich kann es auch andere Motive haben. Beim Vater Eifersucht, wärend der Sohn seine tote Frau rächen wollte. ZB.

    Wie wurde denn dort und in den anderen Studien „Kriminell“ definiert?

  2. Ich musste auch nachlesen wie „kriminell“ überhaupt definiert ist.
    Und auch was mir der Artikel sagen will ?
    Es gibt keinen Zusammenhang zwischen Geneticher Ausstattung und Kriminalität ?
    Dass hätte mann ja auch kürzer fassen können.
    Ich brauche da Hilfe, ich komme nicht weiter, gebe ich ganz ehrlich zu.

  3. Ich schließe mich der Frage natürlich an: was ist überhaupt „kriminell“? Reicht es, wenn man ein einziges Mal eine Tat vollbracht hat, die im StGB erwähnt wird? Beispielsweise das Verstecken eines Juden vor der GeStaPo?

  4. @tomtoo: So einfach kann man es sich – laut den vorliegenden Ergebnissen – eben auch nicht machen. Von der Statistik ausgehend gibt es anscheinend eine gewisse Veranlagung, die aber bei „günstigem“ Umfeld (Adoptiveltern ebenfalls kriminell) besonders stark durchschlägt.

    Trotzdem war die Frage, was hier „kriminell“ genau bedeutet auch die Frage, die mir als erste kam.

  5. @phero
    Ohne eine feste Definition von „kriminell“ kann ich in einer anderen Gruppe „genom“ alles finden was ich suche.
    Ich bin kein Mathematiker, aber habe ich eine undefinierte Menge und möchte ich die einer anderen undefinierten Menge zuordnen, dann geht dass bestimmt. Obs Sinn macht ist etwas anderes.

  6. Vielleicht hätte man im Artikel deutlicher herausarbeiten können, dass „kriminell“ weniger meint, dass jemand mal strafrechtlich verurteilt wurde, sondern dass er ein mehr oder weniger antisoziales Verhalten aufweist, welches ihn systematisch Gesetzesübertretungen begehen lässt. Ich fand, es ließ sich mittelbar aus dem Artikel schließen, aber eine eindeutige Formulierung wäre sicher hilfreicher gewesen.

  7. Entschuldigung nochmal ich.
    Könnte es sein das chinesiche Rechtswissenschaftler zu anderen Ergebnissen kommen wie indische und die wiederum zu anderen wie deutsche ?
    Und wo ist dann die Grundlage um sich Wissenschaft zu nennen ?
    Da brauch ich Hilfe echt. Der Artikel wirft viele Fragen für mich auf.

  8. @Esther:
    Ein schwieriges Thema.

    Es wirft mehr Fragen auf als Antworten.

    Beispielsweise die Adoptionsstudien:

    Wurden auch nicht adoptierte Kinder mit verglichen? Unterscheidet sich das von den adoptierten Kindern?

    Was ist mit Heimkindern? Gibt es da auch Unterschiede je nach leiblichen Eltern? Ganz abgesehen vom Vergleich der absoluten Zahlen zu den Adoptierten?

    Wie wirkt sich das Adoptionsalter aus? Gibt es systematische Unterschiede im Adoptionsalter zwischen den Gruppen?

    Korrelliert das Milleu der Adoptiveltern und der leiblichen Eltern?

    Wurde an krimminelle Eltern Adoptiert, oder wurden sie erst nachher straffällig? Vielleicht nach ihren Kindern?

    Bei Eltern mit eigenen und adoptieren Kindern, gibt es da Unterschiede?

    Was ist mit der Dunkelziffer, d.h. jenen die Straftaten begangen haben, aber nicht verurteilt wurden?
    Beispielsweise könnten die Kinder „krimineller“ Eltern besser lernen nicht erwischt zu werden, o.ä. Effekte.

    Wie hoch sind die Fallzahlen?

    Wie lange ist das her? Eigentlich müsste man bei der Studie ja warten bis alle Kinder gestorben sind, sie könnten ja auch noch im hohen Alter straffällig werden. Oder wurde eine Altersgrenze gesetzt?

    Wurde nach der Art der Strafttat unterschieden? Diebstahl, Steuerhinterziehung, Mord?
    Oder nach dem Alter und der Häufigkeit mit der diese Straftaten begangen wurden?

    usw.

  9. Zu der Frage, was genau unter „kriminell“ zu verstehen ist:
    In der Adoptionsstudie von Mednick et al. (1984) galten diejenigen Probanden als „kriminell“, die mindestens wegen eines Gewalt-, Eigentums- oder Vermögensdelikts verurteilt worden waren (wobei der überwiegende Teil nur wegen einer einzigen Tat verurteilt worden war).
    In anderen Adoptionstudien wurden ähnliche Delikte zugrunde gelegt. Eine neuere Studie (Kendler et al. 2014), die ebenfalls einen Zusammenhang zwischen genetischen Einflüssen und Kriminalität feststellen konnte, unterschied etwa zwischen Gewaltdelikten (Tötungs-, Körperverletzungs- und Sexualdelikte, Raub, Entführung) und Nicht-Gewaltdelikten (v.a. Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung).
    Lappalien wie Verkehrsverstöße (Rot über eine Ampel fahren etc.) werden aber in der Regel schon deshalb nicht erfasst, weil es sich dabei um Ordnungswidrigtkeiten, also gerade nicht um Straftaten handelt.
    Die meisten aktuellen kriminoligsche Studien, die sich mit dem Einfluss genetischer Faktoren befassen, untersuchen, welche Gene, Enzyme etc. sich auf antisoziales Verhalten auswirken. Es geht hier also auch um Aggressivität und gewalttätiges Verhalten, nicht um Bagatelldelikte.

  10. Spannendes – und kontroversielles – Thema, auch locker und interessant geschrieben. Allerdings hätte man mehr daraus machen können. Ein paar Anmerkungen von mir dazu.

    Zuerst einmal: „kriminell“ ist nur im Zusammenhang mit Gesetzen definiert: „nullum crimen sine lege“. Wer bei uns eine Neigung zu zwölfjährigen Mädchen verspürt und diese Neigung auslebt, ist kriminell. In anderen Gesellschaften mag dasselbe Verhalten legal, toleriert oder gesellschaftlich anerkannt sein. Besser wäre es also, besser definierte Neigungen zu untersuchen als allgemein „Neigung zu Verbrechen“: Aggressivität und Neigung zu Gewalttätigkeit, Neigung zur Ablehnung von Autorität, mangelnde Selbstbeherrschung usw. Je nach Umständen können solche Neigungen zu einer verstärkten Neigung zu Verbrechen führen.

    Zu „Verbrechertypen“: Unfug aller Art hat sich hier recht lang gehalten. Bei systematischen Untersuchungen kamen dann recht kuriose Dinge zustande. Zum Beispiel bei der Suche nach dem „Erz-Verbrechergesicht“, das durch Überlagerung von vielen Einzelgesichtern konstruiert wurde. Zur großen Überraschung wurde dieses Gesicht als immer attraktiver und weniger verbrecherisch empfunden, je mehr Gesichter überlagert wurden: Durchschnittsgesichter sind „schön“.

    Zu Zwillingsstudien: Die uralte Frage von „angeboren oder anerzogen“ bzw. auf englisch „nature/nurture“ wurde im 20. Jahrhundert mit Hilfe von Zwillings-, Adoptions- und Geschwister-Studien systematisch untersucht. Die Ergebnisse sind eindeutig: praktisch alle wesentlichen Persönlichkeitsmerkmale haben eine große genetische Komponente. Wer introvertiert ist, ist es hauptsächlich, weil er so geboren ist, und nicht (nur), weil die Mutter sich zu wenig mit ihm beschäftigt hat.

    Vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren (und manchmal heute noch) wurden genetische Faktoren von Intelligenz und anderen Persönlichkeitsmerkmalen häufig aus ideologischen Gründen geleugnet. Deshalb wurde immer wieder versucht, Zwillingsforschung in Misskredit zu bringen. Heute liegen jedoch zahlreiche umfangreiche und qualitativ hochwertige Zwillingsstudien vor, sodass an den wesentlichen Aussagen nicht mehr zu rütteln ist.

    Der Effekt, dass gemeinsam aufwachsende Zwillinge gleich gekleidet und sonst gleich behandelt werden, ist eher zu vernachlässigen. Wenn überhaupt, sind getrennt aufwachsende monozygotische Zwillinge einander ähnlicher als gemeinsam aufwachsende, weil letztere das Bedürfnis haben, als Individuen wahrgenommen zu werden („der Huber-Karli“ und nicht „einer von den Huber-Zwillingen“) und sich daher oft bewusst voneinander durch Kleidung, Verhalten usw. abgrenzen.

    Studien über Veranlagung zu verschiedenen Persönlichkeitsmalen, die auch mit Kriminalität im Zusammenhang stehen, gibt es wie Sand am Meer, z.B. mit googeln nach „twin studies antisocial personality disorders“ und ähnlichen Suchbegriffen leicht zu finden.

  11. @tomtoo: Es stimmt, dass „kriminell“ nur das ist, was als „kriminell“ definiert wird. Was in einer Gesellschaft als kriminell gilt, kann in einer anderen erlaubt sein. Es gibt allerdings sehr viele Verhaltensweisen, die in allen Gesellschaften mit Strafe bedroht sind (Verletzung von Leib und Leben, von Eigentum, von Freiheit usw.).
    Zum einen beziehen sich die Studien vor allem auf solche Taten, die generell sanktioniert werden. Zum anderen wird in einer Studie auch immer nur eine Gesellschaft untersucht. Man kann sich dann schon die Frage stellen, warum innerhalb einer Gesellschaft einige Menschen Normen übertreten, während sich andere an eben diese halten.

  12. Schöner Abriß der Geschichte und Hinführung zum Aktuellen. Eines kommt mir merkwürdig vor:

    Theorie nicht nur überholt, sie hat heute auch einen sehr negativen Beigeschmack. Zu Recht, denn sie ermöglicht es

    Eine überholte Theorie ist vor allem nicht effektiv, ermöglicht also eigentlich gar nichts. Dummerweise fällt mir zur Verbesserung nur etwas Aufblähendes ein, das Ersetzen von ’sie ermöglicht es‘ durch ‚das Verharren in diesem falschen Weltbild ermöglicht‘.
    Klingt auch doof…

  13. Was ist denn los mit der Kommentarfunktion heute? Mein Kommentar ist verschwunden. Beim zweiten Versuch kam „doppelter Kommentar entdeckt – es sieht aus, als hättest du das schon gepostet“. Kann ein Moderator meinen Kommentar aus dem Limbus befreien?

  14. Zur Ergänzung:
    Es gibt den psychiatrischen Begriff des Soziopathen. In der Evolutionsbiologie wurde diskutiert, ob dies nicht ein evolutionärer Vorteil sein kann, egoistisch nur auf seinen eigenen Vorteil aus zu sein, gleich was er für andere bedeutet.
    Schließlich frage die Evolution nicht nach gut und böse.

  15. @Esther:

    Es gibt allerdings sehr viele Verhaltensweisen, die in allen Gesellschaften mit Strafe bedroht sind (Verletzung von Leib und Leben, von Eigentum, von Freiheit usw.).

    Und das genau stimmt eben nicht. Beispiel: Boxsport. Dieser ist zwar reglementiert, aber dennoch ist es in dieser Umgebung ein gesellschaftlich akzeptiertes Verhalten, jemandem die Fresse zu polieren. Ich hoffe, hier kommt jetzt niemand auf die Idee, mir widersprechen zu wollen, wenn ich konstatiere, daß dieses Verhalten eindeutig mit „Verletzung von Leib“ treffend (haha) beschrieben ist.
    Genau das ist auch der Haken, der auch nach deiner Erklärung aus meiner Sicht immer noch genauso groß und wuchtig ist:
    Ein Boxmeister, der alle seine bisherigen Kontrahenten brachial mit K.O. besiegt hat (wollen wir noch etwas Chili dazupacken? Okay: – und von denen bereits an den Folgen des K.Os vier Gegner gestorben sind) ist kein Krimineller, wohingegen die Selbständige, die bei ihrer Steuererklärung geschummelt hat , weil sie nicht einsieht, daß die erneute Steuererhöhung im Bereich [hier passendes einfügen] „erforderlich“ war und sie deshalb erhebliche Einschnitte im privaten Leben erdulden müßte, würde sie die geforderte Mehrsteuer zahen, ganz eindeutig ein Vermögensdelikt begangen hat und damit eine Verbrecherin ist. (Zumindest, wenn sie erwischt wurde.)
    Sei mir nicht sauer, aber dein weiter oben von mir zitiertes Argument ist damit reines Cherrypicking.
    Der Begriff der Kriminalität ist ja relativ einfach zu definieren: wer eine Straftat nach (das „hierzulande:“ ab jetzt bitte immer bei Erwähnung der Abkürzung „StGB“ dazudenken) StGB begeht, ist kriminell. Punkt. Man muß sich jetzt erst einmal vergegenwärtigen, daß das StGB nur eine von irgendwelchen Bezahlten erfundene Norm ist, um daraus schließen zu können, daß man nur dann eine Chance hat, niemals kriminell zu werden, wenn man sklavisch alle Regeln des StGB immer und überall erfüllt. Dann muß man eben auch der GeStaPo melden, wenn irgendwer irgendwo eine Jüdin versteckt. Sonst wird man ja kriminell, nichwah?
    Und dann denkt man als nicht ganz so herber Vollidiot noch ein Stücksken weiter und stellt fest:
    a) kriminell sind wa alle, und die, die es nicht sind, sind es entweder noch nicht, oder sind seelenlose Roboter (… die dann eben auch bei der GeStaPo anrufen…)
    b) kriminell ≠ böse
    c) was war nochmal der Ausgangspunkt? Genetische Voraussetzung für Kriminalität? Die Antwort sollte klar sein: einen eigenen Kopf haben.

    Unter dieser Voraussetzung macht es mir sowas von gar nichts aus, kriminell zu sein.

  16. @rolag, @Alderamin und @Herr M.: Danke für das Lob! Freut mich, dass euch mein Artikel gefallen hat!

    @Lerchel: Vielen Dank für deinen interessanten Kommentar!

    @UMa: Auch dir danke für deinen Kommentar! Über einige Einwände hatte ich selbst noch nicht nachgedacht. Da müsste ich dann selbst noch mal recherchieren.
    Bei ein paar Fragen kann ich aber vielleicht weiterhelfen.
    Zu deiner ersten Frage: Nein, nicht adoptierte Kinder wurden in den Adoptionsstudien nicht mit verglichen. In sog. Familienstudien hat man früher die Kriminalitätsraten von Eltern und ihren leiblichen, bei ihnen aufwachsenden Kindern zwar untersucht. Solche Untersuchungen sind aber nicht aussagekräftig, weil nicht-adoptierte Kinder und ihre Eltern den gleichen Umwelteinflüssen unterliegen. Man kann also nicht sagen, ob eine Übereinstimmung zwischen dem Verhalten der Eltern und ihrer Kinder auf ähnlichen Anlagen oder gleichen Umwelteinflüssen beruht.
    Zum Adoptionsalter: In der Mednick-Studie wurden ein Viertel der Adoptivsöhne sofort bei Adoptiveltern untergebracht, die übrigen kamen zunächst in Kinderheimen unter. Die Hälfte wurde innerhalb des ersten Jahres adoptiert, 12,8 % innerhalb des zweiten Jahres und 11,3 % nach einem Alter von 2 Jahren. Mednick et al. zufolge soll sich das Adoptionsalter aber nicht signifikant auf die beobachteten Zusammenhänge ausgewirkt haben.
    Die Kriminalitätsraten der Adoptivkinder beziehen sich nur auf einen längeren Zeitraum, nicht auf das ganze Leben. In der Adoptionsstudie von Kendler et al. (2014), die ich in Kommentar #9 angesprochen habe, betrug das Durchschnittsalter 49,3 Jahre. In der Mednick-Studie wurde das Durchschnittsalter leider nicht genannt, das Mindestalter betrug 15 Jahre. Die meisten Straftaten werden jedoch im jungen Alter begangen. Dass Menschen im hohen Alter erstmals straffällig werden, ist selten. Deshalb halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass auf diese Weise Verzerrungen entstehen.

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