Am 17. April 1969 musste der amerikanische Physiker Robert Wilson vor dem Komitee für Atomenergie des amerikanischen Kongress aussagen. Es ging um die Finanzierung eines neuen Teilchenbeschleunigers am Fermilab in Chicago. Senator John Pasture stellte Wilson dabei die Frage, die (in ähnlicher Form) fast immer gestellt wird, wenn es um die Finanzierung großer und teurer wissenschaftlicher Vorhaben geht.

„Ist zu erwarten, dass dieser Beschleuniger in irgendeiner Weise die nationale Sicherheit beeinflusst?“ („Is there anything connected in the hopes of this accelerator that in any way involves the security of the country?“)

Wilsons Antwort war klar:

„Nein, das denke ich nicht.“ („No, sir; I do not believe so.“)

Pasture fragte noch mal nach:

„Gar nicht?“ („Nothing at all?“)

Und Wilson bestätigte:

„Gar nicht. („Nothing at all“)

Aber Pasture wollte nicht aufgeben und fragte ein drittes Mal nach, ob der neue Beschleuniger nicht doch irgendwie einen militärischen Zweck erfüllen könnte:

„Es gibt also wirklich keine solche Anwendung? („It has no value in that respect?“)

Und Wilson stellte die Angelegenheit ein drittes Mal klar:

„Es geht hier um den Respekt mit dem wir uns gegenseitig betrachten. Es geht um die Würde des Menschen und die Liebe zur Kultur. Es hat mit diesen Dingen zu tun. Es hat nichts mit dem Militär zu tun. Es tut mir leid.“ („It only has to do with the respect with which we regard one another, the dignity of men, our love of culture. It has to do with those things. It has nothing to do with the military. I am sorry.“)

Ein letztes Mal wollte Pasture dann noch wissen, ob man aus dem geplanten Beschleuniger nicht vielleicht doch irgendeinen Nutzen im kalten Krieg mit der Sowjetunion ziehen konnte:

„Gibt es irgendeinen Aspekt dieses Projekts bei dem wir im Konkurrenzkampf mit den Russen stehen?“ („Is there anything here that projects us in a position of being competitive with the Russians, with regard to this race?“)

Und Wilson gab darauf seine berühmte Antwort, die heute noch genau so wichtig und richtig ist, wie sie es damals war:

„Höchstens wenn wir die langfristige Entwicklung von Technologie betrachten. Aber es geht um andere Fragen: Sind wir gute Maler, gute Bildhauer, große Dichter? Ich spreche von all den Dingen, die wir in unserem Land wirklich verehren. In diesem Sinne hat dieses neue Wissen alles mit Ehre und Vaterland zu tun, aber es hat nichts mit der Verteidigung unseres Landes zu tun. Es macht es nur wert, verteidigt zu werden.“ („Only from a long-range point of view, of a developing technology. Otherwise, it has to do with: Are we good painters, good sculptors, great poets? I mean all the things that we really venerate and honor in our country and are patriotic about. In that sense, this new knowledge has all to do with honor and country but it has nothing to do directly with defending our country except to help make it worth defending.“)

(Die komplette Anhörung kann man hier nachlesen)

Robert Wilson bei der Grundsteinlegung des Fermilab (Bild: Public Domain)
Robert Wilson bei der Grundsteinlegung des Fermilab (Bild: Public Domain)

Robert Wilson hätte sich natürlich leicht ein paar Argumente zurecht legen können, die andeuten, dass die Teilchenphysik am neuen Fermilab-Beschleuniger durchaus militärische Auswirkungen haben kann. Immerhin war er leitender Mitarbeiter am Manhattan-Projekt und wusste aus erster Hand, wie enorm die Auswirkungen der Kernphysik auf die militärische Lage waren. Der erste Test einer Atombombe erschütterte ihn so sehr, dass er sich nach dem Krieg sehr für die atomare Abrüstung engagierte.
Wilson hätte dem Kongress erklären können, dass große wissenschaftliche Projekte wie der Bau eines Teilchenbeschleunigers immer auch Spin-Offs liefern mit denen vorher niemand gerechnet hat. Wenn man neue technische Herausforderungen lösen muss und Dinge baut, die niemand zuvor gebaut hat, dann muss man zwangsläufig auch neue Techniken und Methoden entwickeln, die man sehr oft auch anderweitig einsetzen kann. Das beste Beispiel dafür ist das World Wide Web, dass am europäischen Kernforschungszentrums CERN eigentlich nur entwickelt wurde, damit die Wissenschaftler ihre Daten besser untereinander austauschen können. Heute hat es unsere gesamte Welt verändert. Und Beispiele dieser Art gibt es haufenweise. Es lohnt sich immer, etwas Neues zu machen und zu lernen, denn am Ende weiß man mehr als vorher und das rentiert sich früher oder später immer.

Aber das ist nicht der Punkt um den es geht. Das ist nicht das Argument, das Wilson gebracht hat und das ist nicht der Grund, warum wir Menschen Teilchenphysik (und all die andere Grundlagenforschung betreiben). Wir tun es nicht, weil wir hoffen irgendwann ein tolles neues technisches Gadget in den Regalen der Elektromärkte kaufen zu können. Wir tun es aus dem gleichen Grund, aus dem ein Maler ein Bild malt. Aus dem gleichen Grund, aus dem Musiker ein Lied komponieren und Schriftsteller Bücher schreiben. Der „Wert“ der Grundlagenforschung ist der gleiche Wert, den ein Bild in einem Museum hat; ein Orchester in einer Philharmonie oder ein Theaterstück. Ein Bild, das in einem Museum hängt, hat keinen offensichtlichen Zweck. Es hängt dort, und wir gehen hin und schauen es uns an. Wir könnten alle Bilder in allen Museen dieser Welt zerstören und die Welt würde danach immer noch funktionieren (was sie nicht mehr würde, wenn wir zum Beispiel alle Computer dieser Welt zerstören oder alle Krankenhäuser). Aber es wäre eine Welt, die nicht mehr so lebenswert wäre wie eine Welt mit Bildern!

Wir Menschen sind nicht einfach nur Freß- und Fortpflanzungsmaschinen. Wir brauchen Kunst und Kultur genau so sehr wie wir auch Nahrung, Schutz und Wärme brauchen. Diese „wertlosen“ Unternehmungen sind es ja erst, die uns Menschen zu Menschen machen und uns von reinen instinkgesteuerten Lebewesen abheben. Und genau so wie die Kunst ein Versuch ist, die Welt zu verstehen, ist das auch die Wissenschaft. Wir wollen wissen, wie die Welt beschaffen ist. Wir wollen wissen, wie sie im Innersten aufgebaut ist; wir wollen wissen, wie es auf anderen Planeten aussieht; wir wollen wissen, warum Sterne leuchten, warum Dinge nach unten fallen und warum Vögel fliegen können.

Die Erkenntnisse der Teilchenphysik sind für uns Menschen genau so wichtig wie die Bilder und Lieder unserer Künstler, die Bücher unserer Autoren und die Filme unserer Regisseure. Nichts davon ist wirklich notwendig, aber ohne all das wäre die Welt nicht mehr lebenswert weil sie keine menschliche Welt mehr wäre.

Genau so nützlich wie die Mona Lisa (Bild: CERN, CC-BY-SA 3.0)
Genau so nützlich wie die Mona Lisa (Bild: CERN, CC-BY-SA 3.0)

Zu fordern, man dürfe kein Geld mehr Wissenschaft ausgeben, weil anderswo Geld „viel dringender“ gebraucht würde, ist genau so als würde man fordern, dass man kein Geld mehr für die Produktion neuer Kinofilme ausgeben dürfte (Pro Jahr werden 300 Millionen Euro an staatlicher Filmförderung in Deutschland ausgegeben, der Mitgliedsbeitrag den Deutschland pro Jahr an die Kernforschungsorganisation CERN zahlt beträgt dagegen nur knapp 180 Millionen Euro). Oder kein Geld mehr für den Erhalt von Museen, Theatern, Opern oder Orchestern. Natürlich soll man sich immer überlegen, wofür und wie viel man Geld ausgibt und ob es anderswo vielleicht sinnvoller eingesetzt werden kann. Aber man darf „Sinn“ nicht immer nur rein nach finanziellen Maßstäben beurteilen.

Würde die Welt von heute auf morgen die Grundlagenforschung einstellen, dann würde deswegen kein hungerndes Kind aufhören zu hungern. Keine kriegsführenden Nationen würden plötzlich Frieden schließen. Zerstörte Umwelt würde nicht plötzlich wieder sauber und intakt werden. Wir hätten einfach nur aufgehört, neue Dinge über die Welt zu lernen. Und wenn wir das tun, dann verbauen wir uns jede Chance, irgendwann einmal wirkliche Lösungen für Hunger, Krieg und Umweltzerstörung zu finden.

Wilsons Antwort an die Fragen des Ausschuss des Kongresses bezog sich zwar auf die USA und den kalten Krieg. Aber sie lässt sich ohne Probleme auf die ganze Welt erweitern. Wenn wir Menschen aufhören, die Welt um uns herum verstehen zu wollen, dann hören wir auch auf, Menschen zu sein.

(Die Geschichte von Wilson und der Anhörung vor dem Kongress habe ich übrigens im Buch „The Particle at the End of the Universe: How the Hunt for the Higgs Boson Leads Us to the Edge of a New World“ von Sean Carroll gelesen. Ein höchst großartiges Buch, dass ich sicher demnächst noch genauer vorstellen werde.)

29 Gedanken zu „Warum brauchen wir teure Teilchenbeschleuniger?“
  1. Ich kann mir das Zitat vom Altmeister Feynman an dieser Stelle einfach nicht verkneifen:

    “Science is like sex: sometimes something useful comes out, but that is not the reason we are doing it. ”

  2. Das spricht mir aus der Seele. Habe diese Rede / anhörung nie irgendwo mitbekommen, aber es ist so wahr.
    Schon merkwürdig, dass das gleiche AFrage-Antwort Karussell auch heute noch nichts an seiner Aktualiät verloren hat. Wahrscheinlich ist das auch in 100 Jahren noch so – falls nicht bis dahin die Antiwissenschaftlichen- oder Unwissenschaftlichen Strömungen die übrall ins Kraut schießen, bis dahin die öffentliche Wahrnehmung komplett in ihrer Hand haben – dann würde man wohl nichtmal mehr die Chance haben, ein solches Gespräch zu führen.

  3. Wenn wir Menschen aufhören, die Welt um uns herum verstehen zu wollen, dann hören wir auch auf, Menschen zu sein.

    Verdr*piep* Ka*piep*sch*piep*e. Wenn das ein von dir selbstformulierter Satz ist, hast du dir gerade einen Platz in der Hall of Fame der berühmten Sprichwörter erkämpft.

    1. @Bullet: „Wenn das ein von dir selbstformulierter Satz ist, hast du dir gerade einen Platz in der Hall of Fame der berühmten Sprichwörter erkämpft.“

      Na ja, so dramtisch finde ich den jetzt auch wieder nicht. Kann gut sein, dass das irgendwer schon mal irgendwo so gesagt hat. Aber ich habs heute morgen jedenfalls nirgendwo abgeschrieben, als ich den Artikel geschrieben habe…

  4. Guter, argumentativ natürlich richtiger Artikel. Ein Artikel, der übrigens auch sehr interessante Fragen bezüglich der Mittelausstattungen innerhalb von Universitäten aufwirft: Wenn wir anerkennen, dass Wissenschaft, dass Grundlagenforschung ein Kulturgut ist, was tun wir diesem Kulturgut dann an, wenn wir die Bereiche, die sich mit der Erforschung dieser Kultur beschäftigen, nur mit einem Bruchteil der Etatmittel ausstatten, den andere Bereiche, deren wirtschaftliche Verwendbarkeit offensichtlicher scheint oder die angeben können, dass sie eben unglaublich teure Apparate benötigen, für sich in Anspruch nehmen?

  5. @Franz:
    Ach was, das ist doch bestimmt nur ein Trick, um bei der nächsten Regierungsumbildung ein neues Staatssekretariat einzuführen, der jetzige Wirtschafts- und Wissenschaftsminister wird sicher bald merken, dass die gemeinsamen Agenden sich als zu viel Verantwortung für eine Führungskraft herausstellen und dann kann man wieder ein tüchtiges Parteimitglied mit einem schön dotierten Posten versorgen, der sicherlich auch mit viel Arbeit verbunden ist, und für die nächste Wahl in Stellung bringen. So oder so ähnlich wird’s wohl laufen… tu felix Austria 😉

  6. Toller Artikel, Du sprichst mir aus der Seele, Florian!
    Das ist nämlich genau das, was diese Böse-böse-Wissenschaft-rosarote-heile-Welt-Eso-Spinner nicht kapieren (wollen). So schön, wie Du das geschrieben hast, sollten die das nach der Lektüre Deines Artikels eigentlich endlich verstehen (können), aber bei so einigen Menschen (zumindest in meinem Umfeld) habe ich da doch noch meine argen Zweifel…sie WOLLEN es einfach nicht, u.a. damit ihr Weltbild nicht erschüttert wird. 🙁

    Anyway, Danke für diesen schönen Artikel! 🙂

  7. @Bullet/Florian
    Ist zwar nicht ganz dasselbe aber Erif Fried hat gesagt: Wer will, dass die Welt so bleibt wie sie ist, der will nicht, dass sie bleibt.

  8. die Begeisterung ist ja nachvollziehbar – insbesondere aus dem Kreis der Wissenschaftler – aber bitte, es gibt auch die andere Seite der Madaille:

    – Wir können uns nun mal nicht alle mit der reinen Wissenschaft beschäftigen, zweckfrei, mit Neugier … also dann: Wer darf? Und wer nicht? Wer entscheidet?
    – Wir wissen heute schon sehr viel mehr über fernste Welten als z.B. über die Tiefen unserer Erdozeane und über Dinge, die unser ureigenstes Leben betreffen. Auf den Mars auszuweichen wäre wohl eher keine Lösung für die aktuellen Probleme (Bevölkerung, Ökologie, Ressourcen etc.).
    – Die Neugier in bestimmten Bereichen auch zu lenken und das Gemeinwohl zum Maßstab zu machen ist doch wohl durchaus legitim. Natürlich muss dies in einem breiten gesellschaftlichen Aushandlungsprozess präzisiert werden und immer auch Platz für die zweckfreie Forschung freigehalten werden.

    Natürlich gehört die Forschung zur Kultur eines jeden Landes, aber sie erschöpft sich doch nicht darin. Man kann an vielen Stellen und in vielen Forschungsbereichen auch das eine tun (die Kultur bereichern) UND das andere nicht lassen (unser Leben verstehen und unsere Zukunft sinnvoll gestalten).

    1. @McIng: “ Wir können uns nun mal nicht alle mit der reinen Wissenschaft beschäftigen, zweckfrei, mit Neugier … also dann: Wer darf? Und wer nicht? Wer entscheidet?“

      Hat ja auch niemand gefordert. Genau so wenig wie sich alle mit Kunst beschäftigen können. Und da klappt es ja auch ohne eine Behörde, die bestimmt wer „Literat“ werden darf und wer nicht.

      „Wir wissen heute schon sehr viel mehr über fernste Welten als z.B. über die Tiefen unserer Erdozeane und über Dinge, die unser ureigenstes Leben betreffen. Auf den Mars auszuweichen wäre wohl eher keine Lösung für die aktuellen Probleme (Bevölkerung, Ökologie, Ressourcen etc.).“

      Und? Ich hab nicht behauptet, dass wir zum Mars fliegen müssen um Probleme zu lösen. Sondern nur, dass Grundlagenforschung uns dabei helfen wird, Probleme zu lösen.

      „Die Neugier in bestimmten Bereichen auch zu lenken und das Gemeinwohl zum Maßstab zu machen ist doch wohl durchaus legitim.“

      Nur ist es halt illusorisch zu denken, man könne Grundlagenforschung gezielt lenken, um bestimmte Ergebnisse zu erreichen. Das klappt nicht. Siehe hier: Die Neugier in bestimmten Bereichen auch zu lenken und das Gemeinwohl zum Maßstab zu machen ist doch wohl durchaus legitim.

  9. @McIng

    Natürlich gehört die Forschung zur Kultur eines jeden Landes, aber sie erschöpft sich doch nicht darin. Man kann an vielen Stellen und in vielen Forschungsbereichen auch das eine tun (die Kultur bereichern) UND das andere nicht lassen (unser Leben verstehen und unsere Zukunft sinnvoll gestalten).

    Hast Du den Artikel auch zu Ende gelesen?
    Genau darum gehts dem Autor doch.
    Und das ist der Grund, warum ich als künstlerischer Mensch von seiner, über sein Fachgebiet herausreichenden Leidenschaft beeindruckt bin.

  10. Wunderbarer Artikel – danke für diese wohltuende Inspiration und Argumentationsgrundlage, es war mir ein Vergnügen dies zu lesen und ich werde mit Sicherheit gelegentlich darauf verweisen.

  11. Aus Grundlagenforschung wird meistens SEHR viel später Anwendungen, die jeder benutzt.

    Aus der Fouriertransformation wurde z.B. das JPEG Kompressionsverfahren entwickelt.

    Ohne die Beachtung von Einsteins Relativitätstheorie würde kein Navi funktionieren.

    Man weiß es eben nicht, was letzlich bei rauskommt…

  12. Auch ein tolles Kommentar das ich vor kurzem gelesen habe kommt von Astro Teller der bei Google X arbeitet:
    „Let’s make value for the users. We’ll figure out how to make money later“
    https://www.bbc.co.uk/news/technology-25880738

    Kann natürlich sein das dass nur PR gelaber ist, aber es hat wohl schon seinen Grund warum Google von einer einfachen Suchmaschiene zu so einem rießigen Unternehmen wurde.

  13. Schreibe gerade meine Facharbeit über Teilchenbeschleuniger (und Grundlagen Forschung…)
    Da ist diese Rede sehr gut und deine Aussagen dazu auch. Hab ich viele Zitate von dir eingebaut 😀

  14. Dank FB Erinnerung hat es mir diesen Artikel wieder ins Gedächtnis gerufen.
    Speziell der zweite Teil hat es mir angetan, der gehört in ALLE Schulbücher der Welt.

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