Nachdem ich im letzten Artikel erklärt habe, was ein Phasenraum ist, möchte ich nun eine spezielle Art von Koordinaten erläutern, mit denen man Bahnen im Phasenraum beschreiben kann. Das absolut notwendig, um zu verstehen, wie chaotische Systeme funktionieren. Denn die Phasenraum-Orbits stellen ja die zeitliche Entwicklung eines bestimmten Zustands da. Die Eigenschaften der Bahnen im Phasenraum spiegeln also auch gleichzeitig die Eigenschaften des Systems wieder.

Die speziellen Koordinaten heissen „Action-Angle-Coordinates“ was auf deutsch soviel wie „Wirkung-Winkel-Koordinaten“ bedeutet.

Die genaue Ableitung ist ziemlich mathematisch (hier gibt es eine ausführlichere Beschreibung) – deswegen werde ich das ganze an einem Beispiel erklären.


Nehmen wir an, wir haben einen vierdimensionalen Phasenraum, also auch
vier Koordinaten. Zwei dieser Koordinaten sind im Idealfall annähernd
konstant (das sind die sg. „Actions„, also die „Wirkung“), zwei andere
ändern sich schnell (das sind die „Angles„, also die Winkel). Das kann
man sich anschaulich so vorstellen:

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Die beiden konstanten Koordinaten definieren einen Torus (also ein Donutförmiges Gebilde): eine Wirkung
(r1) beschreibt den großen Radius des Torus, die andere (r2) den
kleinen Radius. Man kann nun mit den beiden Winkel einen bestimmten
Punkt auf der Oberfläche dieses Torus beschreiben.

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Im Bild oben ist das
der blaue Punkt, der den aktuellen Zustand des Systems (gegeben durch
die beiden Wirkungen und die beiden Winkel) beschreibt. Mit dieser Art
von Koordinaten kann man also eine Trajektorie im Phasenraum als Kurve,
die sich um einen Torus windet, beschreiben.

Damit kommen wir zu einem
weiteren wichtigen Begriff: der Rotationszahl.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie sich eine Trajektorie um den
Torus bewegen kann.

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In diesem Bild bewegt sich die gelbe Kurve nur um den großen Radius;
die grüne nur um den kleinen Radius. Aber im Allgemeinen wird die
Bewegung um beide Radien herum stattfinden:

i-c189906eb188a7f379c40a274187f75b-torus5-thumb-500x357.jpg

 

Die orangene Kurve bewegt sich dreimal um den kleinen Radius, während sie sich
einmal um den großen bewegt und sich schließt. Die Rotationszahl ist
nun genau das Verhältnis der Anzahl der Windungen um die beiden Radien,
die nötig sind, bevor sich die Kurve wieder schließt. In diesem Fall
ist sie 3/1; also 3.

Es kann auch sein, dass sich die Trajektorie z.B.
fünfmal um den kleinen Radius bewegt und zweimal um den großen, bevor
sie wieder auf sich selbst trifft. Dann wäre die Rotationszahl 5/2.
So eine Trajektorie, die irgendwann wieder auf sich selbst trifft; sich
also schließt, nennt man einen periodischen Orbit. Es ist leicht zu sehen, dass das immer dann vorkommt, wenn die Rotationszahl rational ist – also ein Bruch wie 4/3, 2/1, 7/6, 10/3, usw. Es kann allerdings auch sein, dass sich die Kurve nicht
mehr schließt. Sie läuft einfach immer weiter um den Torus herum, ohne
je wieder auf sich selbst zu treffen. Das sieht dann ungefähr so aus:

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In diesem Fall ist die Rotationszahl nicht mehr rational, sondern irrational
(kann also nicht mehr durch einen Bruch dargestellt werden; wie z.B.
die Wurzel aus 2 oder die Kreiszahl Pi). Im Laufe der Zeit füllt die
Trajektorie den Torus immer dichter auf. So eine Bahn nennt man quasiperiodisch. Das ist noch kein Chaos – sondern nur eine andere Form der geordneten Bewegung.

Chaotisch
wird der Zustand erst, wenn man die Bahn nicht mehr als Bewegung auf
einem Torus darstellen kann. Dann ändern sich auch die beiden Wirkungen
(also die Radien des Torus) stark und ich kann keinen Torus mehr
definieren, auf dem die Bewegung stattfindet. Die Trajektorie läuft
dann ungebunden durch den ganzen Phasenraum.

Ich hoffe, die Erklärung
der Bewegung auf dem Torus war halbwegs verständlich – ich beantworte natürlich noch gerne alle auftretenden Fragen!. Im nächsten Teil
der Serie werde ich erläutern, wie man diese Beschreibung nutzen kann,
um eine sehr einfache und sehr schöne Möglichkeit der Charakterisierung
dynamischer Systeme zu finden.

18 Gedanken zu „Chaotische Systeme Teil 2: Der Raum als Donut“
  1. @Patrick: Der Phasenraum hat immer so viele Dimensionen wie das System Freiheitsgrade hat. Das kann also ein ein-, zwei-, drei-dimensionaler Raum sein. Oder einer mit unendlich vielen Dimensionen. Oder irgendwas dazwischen.

  2. @ Florian:
    Hmm, aha.

    Interessant in diesem Bezug deine Ausführung:
    So eine Bahn nennt man quasiperiodisch. Das ist noch kein Chaos – sondern nur eine andere Form der geordneten Bewegung.
    Chaotisch wird der Zustand erst, wenn man die Bahn nicht mehr als Bewegung auf einem Torus darstellen kann. Dann ändern sich auch die beiden Wirkungen (also die Radien des Torus) stark und ich kann keinen Torus mehr definieren, auf dem die Bewegung stattfindet. Die Trajektorie läuft dann ungebunden durch den ganzen Phasenraum.

    Das hieße ja, das „Chaos“ wäre dann sozusagen aber noch in einem theoretischen Torus- Gebilde, auch wenn er nicht mehr als Torusform erkennbar wäre, oder verstehe ich das falsch?
    Oder würde die chaotische Trajektorie den Torus auflösen, sprich: Zu einem Teil des „chaotischen Ablaufes“ machen – sozusagen, den Raum zu Chaos auflösen?

  3. @Patrick: Also eine genaue Erklärung würde dauern – ich antworte dann detailliert am Mittwoch, wenn ich aus dem Urlaub zurück bin (vielleicht liest ja noch ein Experte mit und kann das früher machen). Das mit dem Torus gilt nur für geordnete Bewegung. Sobald die Actions nicht mehr konstant sind, gibt es keinen Torus mehr. Wie weit sich die Trajektorie dann im Phasenraum ausbreiten kann, hängt vom System ab. In manchen Systemen ist der Raum beschränkt, in manchen nicht.

  4. Moin Patrick!

    Das hieße ja, das „Chaos“ wäre dann sozusagen aber noch in einem theoretischen Torus- Gebilde, auch wenn er nicht mehr als Torusform erkennbar wäre, oder verstehe ich das falsch? Oder würde die chaotische Trajektorie den Torus auflösen, sprich: Zu einem Teil des „chaotischen Ablaufes“ machen – sozusagen, den Raum zu Chaos auflösen?

    Auch wenn ich in einem früheren Teil der Serie noch als etwas verwirrter Kommentator aufgetreten bin, versuche ich mal eine Antwort 😉
    Eine periodische Bahn auf dem Torus wird nach endlicher Zeit sich wieder in den Schwanz beissen. Das heißt, wenn ich eine periodische Bahn wäre, dann hätte ich irgendwann in der Zukunft genau den gleichen Zustand wie jetzt (Geschwindigkeit und Ort). Die Bahn bleibt für immer auf der Oberfläche des Torus beschränkt, sie ist dabei (bei kleinen Verhältnissen wie z.B 4/3) aber nur als Linie erkennbar, wenn man sich mal die Bahn vom Rechner zeichnen läßt (den Torus könnte man vielleicht erahnen)

    Insofern wäre die Periodische Bahn die Bahn, die sich auf einem theoretisch Vorhandenen, aber nicht erkennbaren Torus bewegt.

    Die Quasiperiodischen Bahnen haben die Eigenschaft, wie Florian schrieb, dass sie die Oberfläche des Torus (im Allgemeinen) komplett ausfüllen, aber sie bleiben auf seine Oberfläche beschränkt. Wenn man so will, wäre eine unendlich lange Simulation einer quasiperiodischen Bahn ein geeignetes Verfahren, sich einen Donut zu zeichnen – und zwar nur die Oberfläche (der Donut hat nicht nur ein Loch, er ist sogar hohl mit unendlich dünner Wandung). 😉

    Tja, und Chaos frißt den Donut auf und rennt dann im Phasenraum rum auf der Suche nach einem stillem Örtchen. Und weil da aber keines gibt, rennt es unendlich lange im ganzen Phasenraum rum.

    (Ich hoffe, ich hab da jetzt keine Fehler reingekloppt. Wenn ja, dann wird mich spätestens Florian korrigieren)

  5. Mist, ich muss mal an meinem Leseverstehen arbeiten. Ich hab erst jetzt genau verstanden, was deine Frage ist.
    Jupp, der Torus ist nur eine kleine Untermenge vom unendlichen Raum mit einer bestimmten Anzahl von Dimensionen (hier 3), auf dem die Trajektorie festgehalten ist.

  6. Moin Christian, und danke für deine Erklärungen. Sind beide sehr brauchbar für das Gedankengebilde dazu. 😉

    Das würde also bedeuten, dass die Trajektorie mehrdimensional im Phasenraum „arbeiten“ würde, alsbald der dreidimensionale Torus durch „Chaos“ (wie immer dieses in Erscheinung träte) zerfallen würde, oder nicht?
    Könnte man die Trajektorie als „Schwingung“ bezeichen, die unabhängig jeglicher Basis (also z. B. dem dreidimensionalen Torus) gleichmäßig schwingen würde? Oder ist das an der Thematik vorbeigegriffen?

  7. @Regow: Literatur gibts jede Menge. Aber eben Fachliteratur. Vermutlich wirds zu Topologie und CHaostheorie auch populärwissenschaftliche Bücher geben (da müsste ich erstmal nachsehen) – aber den Action-Angle-Formalismus wird man außerhalb der Fachliteratur kaum antreffen…

  8. Diesen Umstand würde ich als interessierter Dilettant durchaus in Kauf nehmen.
    Ich hab Nonlinear Dyn. and Chaos von Strogatz und Die Erfor. des Chaos von Argyris, aber immer ist bei den tori nur von den Winkeln die Rede. Den Strogatz verstehe ich recht gut, den Argyris nur teilweise(Hamiltonsche Systeme und Variationsrechnung für Dummies würde ich mir mal wünschen).

  9. Oben werden ja vier Dimensionen als Faktoren angenommen, die zwei Radien und die zwei Winkel. Also kann der Torso nur für Modelle mit vier Dimensionen verwendet werden, nicht für den Pendel und nicht für Systeme mit mehr als vier Faktoren?

    1. @Max: In entsprechend höheren Dimensionen braucht man einen entsprechend höher dimensionalen Torus. Ist halt nicht mehr so anschaulich…

  10. Vielen Dank für die Antwort! Doch in höhere Dimensionen wirken auf uns ja paradox und unverständlich. Woher kann man dann wissen, dass es sich immer noch um einen Torus handelt?
    Übrigens eine sehr schöne Reihe, auch nicht zu schwer zugänglich…

    1. @Max: „Woher kann man dann wissen, dass es sich immer noch um einen Torus handelt?“

      Das Fachgebiet dazu nennt sich „Topologie“ ist nicht so einfach kurz zu erklären. Nimm eine Kugel. Die ist definiert als Menge aller Punkte im 3D-Raum, die vom Mittelpunkt den gleichen Abstand haben. Genau so kann ich einen 4D-Kugel definieren, in der eben alle Punkte im 4D-Raum den gleichen Abstand vom Mittelpunkt haben. Oder 5D-Raum. Usw. Beim Torus geht es genau so.

  11. Die Surface of Section der Hénon-Heiles-Gleichung ist doch chaotisch von Anfang an – sonst wäre das Blid doch nicht zweidimensional. Doch wenn sie schon von Anfang an chaotisch ist – warum ist das Bild dann immer noch mehr oder weniger geordnet? Es kann ja nicht chaotisch und quasiperiodisch sein…

    1. Was soll „das Bild ist mehr oder weniger geordnet“ bedeuten? Und eine Surface of Section ist nicht „chaotisch von Anfang“ an. Sie zeigt, welche Regionen im Phasenraum chaotisch sind und welche nicht. Und eine SoS ist IMMER zweidimensional. Darum geht es ja gerade: Die SoS ist eine Methode, um höherdimensionale Systeme auf ein 2D-Bild zu reduzieren.

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