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Sternengeschichten Folge 610: Die blaue Murmel

„Houston, magazine November November’s on about 123 right now“. Diesen Satz hat der amerikanische Astronaut Ron Evans am 7. Dezember 1972 um 11 Uhr 38 Minuten und 8 Sekunden mitteleuropäischer Zeit gesagt, 5 Stunden, 8 Minuten und 38 Sekunden nach dem Start der Saturn-V-Raketen mit der die Apollo 17 Mission das letzte Mal zum Mond aufgebrochen ist. Der Satz von Evans klingt nicht spektakulär. Er ist genau genommen auch nicht spektakulär. Mit „magazine November November“ ist ein Filmmagazin der Hasselblad-Kamera gemeint, die die Astronauten mit an Bord hatten. Da es im Weltall nicht so einfach war, einen neuen Film in eine Kamera einzulegen, hatte man die Filmrollen schon in vorgefertigte Magazine geladen. Um den Film zu wechseln, musste man, vereinfacht gesagt, nur das alte Magazin aus- und ein neues Magazin in die Kamera einstecken. Die Kameras hatten außerdem Zähler, die die Anzahl der belichteten Bilder anzeigt. Wenn Evans also sagt, dass „magazine November November’s on about 123 right now“, dann meint er, dass der Zähler des Filmmagazins mit der Identifikationsbezeichnung „NN“ gerade auf 123 gesprungen ist. Warum erzählt er das der Bodenstation in Houston? Das ist wichtig, damit die aufgenommenen Fotos später genau zugeordnet werden können. Heute ist das ja kein Problem; moderne Digitalkameras können die genau Uhrzeit, das Datum, sogar die geografische Position und jede Menge andere Metadaten mit den digitalen Bildern abspeichern. Aber bei den analogen Kameras ging das damals natürlich nicht. Aber durch diese Kommunikation wissen wir heute trotzdem ganz genau, wann die Bilder aufgenommen worden sind.

Aber warum erzähle ich das alles? Natürlich deswegen, weil die Bilder, die zu diesem Zeitpunkt gemacht worden sind, ganz besondere Bilder sind. Es handelt sich um eine Serie von vier Aufnahmen beziehungsweise ganz besonders um eines der vier mit der offiziellen Katalognummer AS17-148-22727. Es ist das Bild, das wir heute unter der Bezeichung „Blue Marble“ kennen, die „Blaue Murmel“. Es ist ein Bild der Erde, aufgenommen aus einer Entfernung von circa 29.000 Kilometer. Die offizielle Beschreibung der NASA zu diesem Bild lautet: „Ansicht der Erde, wie sie von der Mannschaft von Apollo 17 auf dem Weg zum Mond gesehen wurde. Dieses Bild vom translunaren Flug erstreckt sich vom Mittelmeer bis zur Eiskappe der Antarktis. Dies ist das erste Mal, dass die Apollo-Flugbahn es ermöglichte, die südliche Eiskappe des Pols zu fotografieren. Beachten Sie die dichte Wolkendecke auf der Südhalbkugel. Fast die gesamte Küstenlinie Afrikas ist deutlich sichtbar. Die Arabische Halbinsel ist am nordöstlichen Rand Afrikas zu sehen. Die große Insel vor der Ostküste Afrikas ist die Republik Madagaskar. Das asiatische Festland ist am Horizont nach Nordosten zu sehen.“

Die „Blue Marble“ (Bild: NASA)

Ok, ein Bild der Erde aus dem Weltall. Schön und gut, aber davon gibt es jede Menge. Warum also eine eigene Podcastfolge darüber? Nicht, weil es das erste Bild dieser Art ist. Es gab auch davor schon Aufnahmen Erde aus dem All. Aber ersten war dieses Bild die bisher schärfste und beste Farbaufnahme der gesamten Erdkugel und zweites hat dieses spezielles Bild hat auch einen ganz speziellen Nerv der Welt getroffen und ist deswegen bis heute berühmt. In den 1970er Jahren entwickelte sich in den USA und im Rest der Welt die Anfänge der modernen Umweltbewegung; man hat sich Gedanken über Umweltschutz gemacht, es war die Zeit des kalten Kriegs zwischen Amerika und der Sowjetunion und eine Zukunft, in der die Welt durch einen Atomkrieg verwüstet wird, war für viele Menschen eine erschreckend realistische Vorstellung. Die Geschichten, die die Apollo-Astronauten von ihren Flügen ins All erzählt haben, waren in gewisser Weise genau die gegenteilige Vision, und das, obwohl die Mondmissionen ja selbst Teil des kalten Kriegs waren. „Wir brachen auf, um den Mond zu erkunden – aber tatsächlich entdeckten wir die Erde.“, hat Eugene Cernan, der Kommandant von Apollo 17 nach seiner Rückkehr gesagt. „Wir sahen die Erde wie das Zuhause der Kindheit, verändert durch den Lauf der Zeit, aber unverändert in den Gedanken.“, hat Harrison Schmitt, der Pilot der Mondlandefähre später geschrieben. Das Bild der zerbrechlich wirkenden blauen Erde mit ihren weißen Wolkenwirbeln, mitten im dunklen All; das Bild der Erde, ohne Grenzen, ohne Nationalitäten; dieser Blick von außen auf das einzige Zuhause der Menschheit in einer ansonsten absolut lebensfeindlichen Welt hat viele Menschen inspiriert. Die Blue Marble ist zum Symbol von Umweltschutzgruppen und Friedensbewegungen geworden. Das Bild hat „ein Gefühl für die Kostbarkeit dieses wie lebendig erscheinenden Planeten geweckt“, sagt der deutsche Philosoph Hans Blumenberg, der aber auch gleichzeitig darauf hingewiesen hat, dass die Aufnahme vielleicht auch zweideutig betrachtet werden kann. Denn vom All aus sieht die Blue Marble unversehrt aus; ein perfekter Planet und nichts deutet auf die vom Menschen ausgeübte Zerstörung hin.

Aber bleiben wir zuerst noch beim Bild selbst. Die Aufnahme, die wir heute kennen, ist natürlich bearbeitet. Sie ist nicht verfälscht, aber im Originalbild ist die Erde nicht im Zentrum der Aufnahme und der Südpol der Erdkugel ist oben zu sehen. Und es handelt sich, wie gesagt, um eine Serie aus vier Bildern, die alle mehr oder weniger gleich aussehen. Daraus hat man dieses eine ausgewählt, es beschnitten und so rotiert, dass die Erde für uns „normal“ aussieht, mit dem Südpol unten. Obwohl diese Orientierung natürlich komplett beliebig ist… So oder so, in der heute berühmten Aufnahme ist die Erde so ausgerichtet, dass das Zentrum des Bildes genau zwischen der Ostafrikanischen Küste und der Südspitze von Madagaskar ist. Von Europa oder Nordamerika ist nichts zu sehen; das Bild wird von Afrika auf der linken und dem Ozean auf der rechten Seite dominiert; unten ist die Antarktis dafür gut erkennbar und dazwischen gewaltige Wolkenwirbel.

Originalbild der „Blue Marble“ (Bild: NASA)

Offiziell gibt die NASA alle drei Astronauten der Apollo-17-Crew als Fotografen an, also Eugene Cernan, Ron Evans und Harrison Schmitt. Es ist aber mittlerweile einigermaßen klar, dass es wohl Harrison Schmitt war, der das Bild tatsächlich gemacht hat. Das ist am Ende aber auch egal – Hauptsache, das Bild wurde gemacht. Seit damals waren übrigens keine Menschen mehr so weit von der Erde entfernt. Cernan, Evans und Schmitt waren die letzten, die unseren Planeten mit eigenen Augen in seiner Gesamtheit sehen konnten. Die Astronautinnen und Astronauten die seitdem zur ISS und den anderen Raumstationen geflogen sind, konnten zwar auch aus dem All auf die Erde schauen. Aber sie sind viel zu nah dran, um die gesamte Erde sehen zu können. Zum Fotografieren braucht man aber nicht zwingend Menschen und deswegen sind seit 1972 eine Reihe weiterer „Blue Marble“-Bilder gemacht worden. 2001 und 2002 hat die NASA eine neue Version veröffentlicht, diesmal waren es zwei Bilder: Eines, das Nordamerika im Zentrum zeigt und zweites mit Asien im Mittelpunkt. Das waren aber keine echten Bilder. Beziehungsweise natürlich schon; es sind echte Aufnahmen der echten Erde aus dem echten Weltall. Aber es handelt sich um Mosaik, das aus verschiedenen Satellitenbildern zusammengesetzt ist. Das gilt auch für das Blue Marble Bild aus dem Jahr 2012 und für die Black Marble aus dem gleichen Jahr. Bei diesem letzten Bild hat man Daten von Infrarotsatelliten mit alten Aufnahmen kombiniert, um ein Bild der Erdkugel bei Nacht zu bekommen. Es gibt noch diverse andere „Blue Marble“ Variationen die im Laufe der Zeit von den unterschiedlichsten Instrumenten gewonnen worden sind.

Aber keines davon hat bis jetzt die Erwartungen erfüllen können, die man in das ursprüngliche Bild aus dem Jahr 1972 gesetzt hat. Wir haben nicht damit aufgehört, Krieg zu führen. Wir haben nicht damit aufgehört, die Umwelt zu zerstören. Ganz im Gegenteil. Wir blicken weiterhin mit Satelliten vom Weltall auf die Erde, mittlerweile mit sehr viel genaueren Instrumenten und können damit ebenso genau messen, wie sehr sich das Klima verändert hat; wie sehr wir die Wälder zerstört und die Ozeane verschmutzt haben. Wir sehen wie die Korallenriffe sterben; wir sehen wie Seen austrocknen und sich Wüsten ausbreiten. Als Evans, Cernan und Schmitt ihr berühmtes Bild gemacht haben, waren sie weit genug von der Erde entfernt, um nur den Planeten selbst und seine Schönheit sehen zu können. Schön ist die Erde heute immer noch. Aber wir können auch nicht mehr ignorieren, dass wir uns in den letzten Jahrzehnten nicht gut um unser Zuhause im Weltall gekümmert haben. Vielleicht werden in Zukunft wieder Menschen so weit in den Weltraum fliegen, um den Planeten in seiner Gesamtheit wahrnehmen zu können. Retten können wir die Erde von dort aus aber nicht; das müssen wir hier unten erledigen.

Ein Gedanke zu „Sternengeschichten Folge 610: Die blaue Murmel“
  1. In der griechischen Mythologie heißt die Erde Gaia. Anfangs war die Erde demnach keine Murmel, sondern eher platt wie ein Pfannkuchen.

    „Gaia ist die Muttergöttin aller Muttergöttinnen – und es stellt sich daher die Frage, warum sie die Hölle (Tartaros) erschuf. Schließlich leiden wir alle massiv unter der Hölle, wie jeder weiß. Zunächst lag Uranos ziemlich platt (ähnlich einem Pfannkuchen) auf Gaia, sodass sie sich überwiegend in die Tiefe entwickeln musste. Erst später wurde Uranos von Gaia getrennt. Heute kümmert sich Atlas darum, dass der Himmel von der Erde getrennt ist.“ ->

    https://www.mythologie-antike.com/t1-gaia-personifiziert-in-der-griechischen-mythologie-die-erde-und-gilt-gleichzeitig-als-gottin

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