Hinweis: Dieser Artikel ist kein Text, der „pro Kernkraft“ ist oder „gegen Kernkraft“. Ich bitte daher auch, von entsprechenden Vorwürfen abzusehen. Es geht nicht darum, für oder gegen Kernkraftwerke zu argumentieren, sondern um eine Analyse der Kernkraft aus Sicht des aktuellen Sachstandsberichtes des Weltklimarates. Der Text ist naturgemäß lang, wer möchte, kann aber auch nach der Einleitung gleich nach unten zum Fazit springen. Wer einen Kommentar dazu schreiben möchte, kann das sehr gerne tun – aber bitte erinnert euch davor noch einmal daran, dass es KEIN Text ist, der pro/contra Kernkraft argumentiert. Und es lohnt sich auch, den Text zu lesen, bevor ihr einen Kommentar dazu abgebt).
Die Klimakrise ist ein kontroverses Thema. Nicht aus wissenschaftlicher Sicht; da ist die Sache mehr als nur klar. In den letzten gut 150 Jahren haben die menschengemachten Treibhausgase für eine Erwärmung gesorgt und sie werden das auch in Zukunft tun. Es finden sich mittlerweile kaum noch Menschen, die den menschengemachten Klimawandel ernsthaft leugnen. Die aktuelle Kontroverse entfaltet sich rund um das, was getan werden muss, um die Auswirkungen der Klimakrise zu bewältigen. Nicht das einzige, aber ein sehr wichtiges Thema ist dabei das Energiesystem der Zukunft. Wenn wir auch in den nächsten Jahrzehnten noch eine lebenswerte Erde haben wollen, dürfen wir unseren Energiebedarf nicht mehr aus fossilen Quellen stillen, sondern müssen Energie nutzen, die keine oder zumindest sehr wenig Treibhausgase freisetzt. Zum Glück ist die Auswahl nicht klein: Sonnenenergie, Windenergie, Geothermie, Biomasse, Wasserkraft – es gibt jede Menge Alternativen. Und es gibt die Kernkraft. Auch dabei handelt es sich um eine Art der Energieproduktion, bei der wenig Treibhausgase freigesetzt werden. Und um ein Thema, das für sich allein schon mindestens so kontrovers ist wie die Klimakrise selbst. Wenn beides aufeinander trifft, ist also mit heftigen Diskussionen zu rechnen. Insbesondere zwischen den Gegnerinnen und Gegnern der Atomkraft und denen, die fordern, dass wir in Zukunft die Kernkraft massiv ausbauen müssen, um die Klimakrise zu bewältigen. Die zweite Gruppe verweist dabei sehr oft auf die Wissenschaft und insbesondere den Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC). So einfach ist die Lage aber nicht. Ich habe daher mal genau nachgesehen, was im aktuellen IPCC-Bericht tatsächlich über Kernkraft zu lesen ist.
Vorbemerkung: Kontext ist wichtig!
In den einschlägigen Diskussionen und auf den Seiten von Lobbyorganisationen wird oft behauptet, dass der Weltklimarat die Nutzung von Kernkraft empfehlen würde. Dazu werden dann entsprechende Zitate aus dem Bericht geliefert. Natürlich ist es absolut wünschenswert, wenn Behauptungen durch Quellen belegt werden. Der aktuelle IPCC-Bericht ist aber ein Dokument, das aus fast 10.000 Seiten besteht. Es ist nicht nur in wissenschaftlicher Fachsprache geschrieben, sondern hat darüber hinaus noch ein paar weitere sprachliche und fachliche Besonderheiten, die Verwirrung auslösen können, wenn man nicht an die Lektüre solcher Texte gewöhnt ist. Mehr als sonst kommt es also beim Zitieren aus dem IPCC-Bericht auf den Kontext an. Ich kann das aus eigener Erfahrung bestätigen; im Podcast „Das Klima“, den ich gemeinsam mit Claudia Frick betreibe, haben wir den kompletten Bericht gelesen und in gut 75 Podcastfolgen aufbereitet.
Deswegen fange ich mit zwei wichtigen Vorbemerkungen an:
- Im IPCC-Bericht findet man keine Empfehlungen. Das ist ein wichtiger Punkt: Aufgabe des IPCC ist es, den Stand der Wissenschaft zusammenzutragen, zusammenzufassen und einzuschätzen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die daran arbeiten, publizieren dort keine eigene oder neue Forschung. Es ist auch explizit nicht die Aufgabe des IPCC, der Politik (oder wem auch immer) Empfehlungen zu liefern. Anhand des bestehenden Wissens werden Szenarien erarbeitet und deren Folgen dargestellt. Anders gesagt: Man wird im IPCC-Bericht nirgendwo eine Stelle finden, in der steht: „Um das Klimaziel zu erreichen, sollten mehr Kernkraftwerke gebaut werden“. Sondern nur Aussagen der Art „Wenn mehr/weniger Kernkraftwerke gebaut werden, wird das folgende Auswirkungen haben“. Wer mehr über die Arbeit des IPCC wissen möchte, kann das in dieser Podcastfolge erfahren.
- Es gibt nicht „den IPCC-Bericht“. Das, was man meistens so nennt, ist der „Sachstandsbericht“, der in drei Teilen die Klimakrise aus allen Blickwinkeln betrachtet (dazu später mehr). Sachstandsberichte werden alle paar Jahre veröffentlicht; aktuell ist der 6. Sachstandsbericht, der zwischen 2021 (Teil 1) und 2022 (Teil 2 und Teil 3) publiziert wurde. Darüber hinaus gibt es noch „Spezialberichte“, die zwischendurch verfasst werden können und ein spezielles Thema behandeln. Zum Beispiel den „Special Report: Global Warming of 1.5°C“ aus dem Jahr 2018, der untersucht, ob es machbar ist, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, was die Folgen davon wären (und was, wenn die Erwärmung darüber hinaus steigt). Jeder Sachstandsbericht basiert auf dem, was in den Berichten zuvor publiziert worden ist; berücksichtigt aber natürlich die Forschung, die seitdem passiert ist. Es ist also wichtig zu wissen, aus welchem Bericht ein Zitat stammt.
Der IPCC-Bericht und die Kernkraft
Der sechste Sachstandsbericht des IPCC ist in drei Teile organisiert. Teil 1 heißt „The Physical Science Basis“ und beschäftigt sich mit den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Klimasystems. Teil 2 trägt den Titel „Impacts, Adaptation and Vulnerability“ und untersucht, welche Auswirkungen die Klimakrise haben kann und wird. Teil 3 – „Mitigation of Climate Change“ – fasst zusammen, was es an Möglichkeiten gibt, die Klimakrise und ihre Auswirkungen abzumildern.
Und bevor es losgeht, braucht es noch einen kurzen Einschub zur Methodik. Ich habe in allen drei Teilen des Berichts eine Volltextsuche nach dem Wort „nuclear“ durchgeführt und alle Fundstellen angesehen. Ich werde im Weiteren aber nicht alle entsprechenden Stellen auflisten. Sehr oft wird Kernkraft zum Beispiel in den sehr ausführlichen Literaturlisten erwähnt, also dort, wo die ganzen Fachartikel gelistet sind, die zur Erstellung des Berichts herangezogen wurden. Und selbstverständlich sind da auch welche dabei, die das Wort „nuclear“ im Titel haben. Ebenfalls häufig taucht der Begriff „nuclear power“ in Auflistungen auf. Hier ist ein typisches Beispiel:
„For decarbonisation of energy supply many options exist, including CCS, nuclear power, and renewables (Chapter 6).“ (aus Teil 3, Kapitel 3.3.2.4)
Kernkraft ist eine der möglichen Optionen, mit denen man Energie produzieren und dabei weniger CO2 freisetzen kann als mit Kohle, Gas und Öl. Das ist allerdings keine große Neuigkeit und auch nicht kontrovers. Insofern werde ich die Stellen, in denen Kernkraft einfach nur als eine Option unter vielen auftaucht, nicht weiter erwähnen und mich auf die konzentrieren, wo man sich explizit mit Kernkraft auseinandersetzt.
Teil 1 des aktuellen Sachstandsberichts können wir in dieser Hinsicht komplett ignorieren. Das ist auch nicht überraschend, denn da geht es um die physikalischen Grundlagen, also um die Physik der Atmosphäre, um Ozeanologie, und so weiter (der Vollständigkeit halber: Ein paar mal taucht das Wort „nuclear“ auch dort auf, aber nicht im Kontext der Energieproduktion, sondern im Zusammenhang mit Kernwaffen und Staub, der durch Atombombenexplosionen in die Atmosphäre gelangen und das Klima verändern kann).
Klimarisiken für die Kernenergie
Teil 2 des Berichts ist da schon ein wenig ergiebiger. Dieser Teil behandelt ja die Risiken, die durch die Folgen der Klimakrise entstehen. Es geht also zum Beispiel um die Auswirkungen von Hitze auf die Städte; von Waldbränden auf die Ökosysteme; des Meeresspiegelanstiegs auf die Küstenstädte, und so weiter. Und natürlich werden auch die Risiken für die Energiesysteme und die zugehörige Infrastruktur betrachtet. Die gibt es auch bei der Kernkraft. Dort wird ja Kühlwasser benötigt und zwar umso mehr, je mehr Kernkraft verwendet wird:
„Analysis of the UK’s water for energy generation abstractions showed that an energy mix of high nuclear or carbon capture technologies could require as much as six times the current cooling water“ (Teil 2, Kapitel 6.2.4.1).
Leider gibt es keine offizielle deutsche Übersetzung des kompletten Berichts. Der Objektivität halber habe ich es daher unterlassen, die Zitate selbst zu übersetzen, damit ich nicht unabsichtlich oder unbewusst Bedeutungen in die Textstellen bringe, die im Original nicht enthalten sind).
Mehr Wasser muss prinzipiell kein Problem sein; kann es aber werden, wenn die Klimakrise schlimmer wird:
„Reduced summer river flows and increasing water temperatures will constrain freshwater-cooled thermoelectric (including nuclear) power plants and hydropower plants, with possible reductions of production in the northern Mediterranean by 6–33% under 2°C and by 20–60% beyond 3°C warming.“ Teil 2, Kapitel CCP4.3.4
Wassermangel in den Flüssen ist, wie im Zitat aufgeführt, kein Problem, dass allein die Kernkraft betrifft, sondern zum Beispiel auch die Wasserkraftwerke. Aber es ist definitiv eines der Risiken, mit denen zu rechnen ist. Ebenso problematisch sind der Anstieg des Meeresspiegels (SLR – Sea Level Rise) und häufigere Stürme:
„On the energy side, it is estimated that with 1.8 m SLR, for example, 4 out of 13 US nuclear power plant facilities will become exposed to storm surges and 3 others will be surrounded or submerged by seawater.“ (Teil 2, Kapitel 16.5.2.3.1)
Die Arbeit des IPCC beschäftigt sich aber nicht nur mit Naturwissenschaften und Technik. Es geht auch um Politik und Gesellschaft und zum Beispiel um die Frage, ob der vermehrte Einsatz von Kernkraft zur Energieproduktion auch das Konfliktpotenzial erhöht, da man das dafür nötige Wissen auch für den Bau von Atomwaffen einsetzen kann. Viel Forschung dazu gibt es allerdings nicht, das was es gibt wird aber im IPCC-Bericht zumindest erwähnt:
„There is a small literature that draws attention to the potential security of nuclear proliferation, if nuclear energy is increasingly employed as a low-carbon energy source (e.g.,Parthemore et al. (2018); Bunn, (2019)).“ (Teil 2, Kapitel 7.2.7.5)
Ein wichtiges Konzept von Teil 2 des IPCC-Berichts sind die sogenannten „representative key risks (RKR)“, also die „repräsentativen Schlüsselrisiken“. Davon gibt es acht Stück, zum Beispiel die Risiken für den Lebensstandard (RKR-D), die Risiken für die Wasserversorgung (RKR-G), die Risiken für die kritische Infrastruktur (RKR-C), die Risiken für die menschliche Gesundheit (RKR-E), und so weiter (Details findet man in Teil 2, Kapitel 16, Tabelle 16.6). Der Bericht hält fest, dass viele dieser Risiken vor allem die armen und marginalisierten Teile der Bevölkerung treffen:
„RKR-E, for example, concludes that the likelihood of severe risks to human health is especially high for highly susceptible populations, particularly the poor and otherwise marginalised.“ (Teil 2, Kapitel 16.5.4)
Aber, und hier taucht jetzt die Kernkraft auf, auch die Menschen mit mittlerem und hohen Einkommen sind durchaus betroffen, zum Beispiel wenn es um die kritische Infrastruktur geht:
„RKR assessments, however, emphasise that middle- and high-income regions are also to be considered at serious risk because climate change is accelerating at the global level (IPCC, 2021), and because critical dimensions are exposed to severe risks such as major transportation (e.g., international airports) and energy (e.g., nuclear power plants) infrastructure for instance (RKR-C), and because of the interconnectedness of economies. (Teil 2, Kapitel 16.5.4)
Natürlich sorgt die Klimakrise für Risiken in allen Bereichen und bei der Energieinfrastruktur sind nicht nur die Kernkraftwerke betroffen. Aber sie sind eben auch betroffen, und deswegen wird dieses Thema in Teil 2 des Berichts erwähnt. So richtig ausführlich wird es aber erst in Teil 3.
Kernkraft für den Klimaschutz?
Im dritten Teil des IPCC-Berichts geht es um die diversen Strategien und Möglichkeiten, mit denen man die Klimakrise abschwächen und ihre Folgen mindern kann. Ein sehr relevanter Teil davon ist der Energie-Sektor, denn der ist ja auch zu einem großen Teil dafür verantwortlich, dass wir in den letzten Jahrzehnten so enorm viel Treibhausgase emittiert haben. Es ist also nicht überraschend, dass die meisten Erwähnungen von Kernkraft in Teil 3 des Berichts zu finden sind.
In Kapitel 2 („Emissions trends and drivers“) wird in der Zusammenfassung gleich die Ausgangssituation dargelegt:
„Multiple low-carbon technologies have shown rapid progress since AR5 – in cost, performance, and adoption – enhancing the feasibility of rapid energy transitions (robust evidence, high agreement). The rapid deployment and cost decrease of modular technologies like solar, wind, and batteries have occurred much faster than anticipated by experts and modelled in previous mitigation scenarios (robust evidence, high agreement). The political, economic, social, and technical feasibility of solar energy, wind energy and electricity storage technologies has improved dramatically over the past few years. In contrast, the adoption of nuclear energy and carbon capture and storage (CCS) in the electricity sector has been slower than the growth rates anticipated in stabilisation scenarios. Emerging evidence since AR5 indicates that small-scale technologies (e.g., solar, batteries) tend to improve faster and be adopted more quickly than large-scale technologies (nuclear, CCS)“ (Teil 3, Kapitel 2, Executive Summary)
Es geht also um „low-carbon technologies“, also Technologien, bei denen kein oder nur wenig CO2 freigesetzt wird. Dazu zählen natürlich die klassischen erneuerbaren Energien (Solarenergie, Windenergie, etc.), aber auch Techniken wie CCS. Das steht für „Carbon Capture and Storage“ und meint, dass man CO2, das irgendwo frei wird, wieder einfängt und so speichert, dass es nicht in die Atmosphäre gelangt. CCS wird derzeit nicht in großem Maßstab verwendet; es gibt diverse experimentelle Anlagen und Forschung, aber keine breit und schnell einsetzbaren Techniken. In der oben zitierten Textstelle wird der Fortschritt seit dem letzten Sachstandsbericht (AR5 – Assessment Report 5) aus den Jahren 2013/2014 zusammengefasst. Modulare Technologien, wie Solarenergie, Windenergie oder Batterietechnik sind schneller gewachsen als man damals angenommen hatte; gleichzeitig sind die Kosten dafür auch stärker gesunken als erwartet. Aus politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technischer Sicht sind diese Technologien deutlich machbarer geworden; im Gegensatz zu Kernkraft und CCS, wo das Wachstum geringer ausgefallen ist als erwartet. Man hat außerdem festgestellt, dass Technologie, die im Kleinen eingesetzt werden kann (Solarenergie, Batterien für die Stromspeicherung) schneller angepasst und weiterentwickelt werden kann, als Großprojekte wie Kernkraft oder CCS.
Im Detail wird das in Kapitel 2.5.3.3. ausgeführt:
„Small technologies often involve iterative production processes with many opportunities for learning by doing, and have much of the most advanced technology in the production equipment than in the product itself. In contrast, large unit scale technologies – such as full-scale nuclear power, carbon capture and storage (CCS), low-carbon steel making, and negative emissions technologies such as bioenergy with carbon capture and storage (BECCS) – are often primarily built on site and include thousands to millions of parts, such that complexity and system integration issues are paramount.“ (Teil 3, Kapitel 2.5.3.3.)
Es ist ja auch irgendwie logisch, dass es einfacher ist, etwas zu verbessern, das man auch leicht testen kann, wie etwa unterschiedliche Solarmodule. Wenn man dagegen erstmal ein komplettes Kernkraftwerk bauen muss, um zu sehen wie es läuft, wird es schwieriger und teurer.
Der Bericht stellt auch fest, dass durch die modulare Struktur die Photovoltaik in den letzten Jahren deutlich billiger geworden ist und eine ähnliche Kostenreduktion bei der Kernkraft nicht zu erwarten ist:
„Central to PV development has been its modularity, which provided two distinct advantages: access to niche markets, and iterative improvement. (…) This modular scale enabled PV to serve a sequence of policy-independent niche markets (such as satellites and telecoms applications), which generally increased in size and decreased in willingness to pay, in line with the technology cost reductions. This modular scale also enabled a large number of iterations, such that in 2020 over three billion solar panels had been produced. Compared to, for instance, approximately 1000 nuclear reactors that were ever constructed, a million times more opportunities for learning by doing were available to solar PV: to make incremental improvements, to introduce new manufacturing equipment, to optimise that equipment, and to learn from failures.“ (Teil 3, Box 16.4)
Modelle für die Zukunft
Einen wichtigen Teil des IPCC-Berichts machen Prognosen über die Strategien für die Zukunft aus. Und hier ist es wichtig, dass man das Konzept der Illustrative Mitigation Pathways (IMPs) versteht. Diese Modelle funktionieren ein wenig anders als Klimamodelle, die sich mit naturwissenschaftlichen Phänomenen beschäftigen. Die IMPs sind keine Vorhersagen der Zukunft, ausgehend vom Stand der Dinge in der Gegenwart. Sondern eben ausgewählte, illustrative Zukünfte, basierend auf verschiedenen Annahmen über politische und gesellschaftliche Entwicklungen. Man kann im Computer zwar Atmosphäre, Meeresströmungen und so weiter simulieren. Aber nicht, wie sich die Politik in den nächsten Jahrzehnten entwickelt und welche Entscheidungen wir als Gesellschaft treffen. Diese Annahmen muss man vorab treffen, die Auswirkungen dieser Annahmen abschätzen und daraus dann ein Szenario für die diversen Aspekte des Klimasystems entwickeln und berechnen. Im aktuellen Sachstandsbericht werden fünf dieser IMPs verwendet, dazu gibt es zwei Referenzszenarien, die in dieser Tabelle (aus Anhang III in Teil 3) zusammengefasst sind:
Schauen wir uns das an einem Beispiel an: „CurPol“ ist die Bezeichnung für eines der beiden Referenzszenario und besteht aus einer Zukunft, in der wir im Wesentlichen so weitermachen wie bisher. Wie die Zukunft genau aussieht, kann man in den Spalten der Tabelle nachlesen: In der Politik wird so weitergemacht wie aktuell und Klimaziele werden vernachlässigt. Die Entwicklung klimafreundlicher Technologien läuft schleppend, wir nutzen weiter vor allem fossile Energien, wir ändern unseren Lebensstil nicht, und so weiter. „ModAct“ beschreibt eine andere Zukunft, nämliche eine, in der wir uns zumindest ein bisschen Mühe geben, die Klimakrise in den Griff zu kriegen, am Ende aber trotzdem bei einer Erderwärmung von mehr als 2 Grad bis Ende des Jahrhunderts landen. Dem gegenüber stehen die fünf IMPs, die fünf unterschiedliche Wege beschreiben, wie wir die globale Erwärmung bei 1,5 bis 2 Grad halten können. Das Szenario „Neg“ beruht zum Beispiel auf der Annahme, dass wir sehr viel in Technologien investieren, die CO2 aus der Luft holen; im „Ren“ (renewable) Zukunftsmodell setzen wir dagegen stark auf erneuerbare Energie. Bei „LD“ (low demand) geht man davon aus dass wir sehr viel effizienter werden und weniger Ressourcen benötigen, bei „GS“ (gradual strengthening) werden die aktuellen Klimamaßnahmen schrittweise verstärkt und bei „SP“ (shifting development pathways) entwickelt sich die Welt in Richtung Nachhaltigkeit in allen Bereichen, inklusive sozialer Maßnahmen die Armut, Ungleichheit, etc. verringern.
Ich will die ganze Sache mit den IMPs nicht noch weiter ausbreiten; wer möchte, kann darüber im Bericht alle Details lesen. Aber es ist wichtig, das grundlegende Prinzip zu verstehen: Die IMPs sind keine Vorhersagen darüber, wie sich die Zukunft entwickeln wird, sondern Annahmen die getroffen werden und die man dann als Startpunkt für die Modellierung des zukünftigen Klimas verwenden kann. Tut man das, dann sieht man zum Beispiel, dass drei der fünf IMPs dazu führen können, dass wir die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen (und zwar Ren, SP und LD). Auch mit dem Neg-Szenario wird es Ende des Jahrhunderts nur um 1,5 Grad wärmer sein; dazwischen werden wir aber deutlich darüber liegen. Mit dem GS-Modell lässt sich die globale Erwärmung zumindest auf 2 Grad begrenzen. Der Punkt, um den es geht, ist folgender: In all diesen Szenarien werden Annahmen über die Energiesysteme der Zukunft getroffen. Wenn also irgendwo im folgenden von einer zukünftigen Entwicklung die Rede ist, in der zum Beispiel der Anteil an Kernkraft steigt oder sinkt, dann darf man nicht vergessen, dass nicht vorhergesagt wird, dass es einen solchen Anstieg (bzw. Reduktion) in der Kernkraft geben wird. Sondern dass man schon vorab festgelegt hat, dass es diese Steigerung/Reduktion geben wird und ihre Auswirkungen untersucht.
Wir können uns das in Abbildung 3.8 aus Kapitel 3 ansehen:
Hier wird die Zusammensetzung des Energiesystems in den jeweiligen IMPs und Referenzszenarien gezeigt. Im „Ren“-IMP steigt zum Beispiel der Anteil erneuerbarer Energien bis 2100 stark und fossile Energien sinken ab circa 2030 sehr stark. Bei „Neg“ verläuft die Reduktion der fossilen Energie langsamer, die erneuerbaren Energien wachsen erst später stark an, gemeinsam mit einem Anstieg von Energie aus Biomasse und auch die Kernkraft wird hier ab circa Mitte des Jahrhunderts ausgebaut. Und ich sage es sicherheitshalber noch einmal: Das Wachstum der Kernkraft in diesem Szenario ist keine Vorhersage, sondern eine Annahme.
In Abbildung 3.16 aus Kapitel 3 kann man sich das alles nochmal aus einem anderen Blickwinkel ansehen:
Oben sieht man die Zusammensetzung der Primärenergie in den verschiedenen Modellen und hier ist auch der CCS-Anteil aufgeführt. „Coal with CCS“ bedeutet hier zum Beispiel, dass man zwar weiterhin Kohle verbrennt, die dabei frei werdenden Treibhausgase aber einfängt und so speichert, dass sie nicht in die Atmosphäre gelangen können. Im unteren Teil des Bildes ist dargestellt, wie die Primärenergienutzung zu dem Zeitpunkt aussieht, an dem im jeweiligen Modell Netto-Null-Emissionen erreicht werden.
Es gibt auch nicht DIE eine Strategie, die für alle funktioniert. Unterschiedliche Regionen der Welt haben unterschiedliche Voraussetzung und man kann (und muss) mit unterschiedlichen Wegen zum Ziel kommen. Damit beschäftigt sich ein großer Teil von Kapitel 6 aus Teil 3 (wer gerne Details hat, kann auf jeden Fall einen Blick in dieses Kapitel werfen; es beschäftigt sich ausschließlich mit dem Thema der Energiesysteme). Diese Abbildung zeigt unterschiedliche Wege für unterschiedliche Regionen (und auch die unterschiedliche Rolle, die Kernkraft im Energiemix spielt):
Was plant die Welt?
Die Szenarien zeigen viel, sie zeigen aber auch, dass Kernkraft in den IPCC-Modellen für das zukünftige Energiesystem zwar eine Rolle spielt, aber keine dominante Rolle einnimmt. Natürlich hat man beim IPCC aber nicht nur auf die Szenarien geschaut, sondern auch das, was die Länder dieser Welt tatsächlich vorhaben. Zur Erreichung der Ziele des Pariser Klimaabkommens (Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5 bis 2 Grad) sollte jedes Land sogenannte „NDCs“ verfassen, also „Nationally determined contributions“. Das sind wesentlichen freiwillige Selbstverpflichtungen. Was steht da in Sachen Energie und Kernkraft drin?
„Sectoral studies are essential to understand the contributions of concrete measures of NDCs and current policies. For example, approximately 98% of NDCs include the energy sector in their mitigation contributions, of which nearly 50% include a specific target for the share of renewables, and about 5% aim at increasing nuclear energy production.“ (Teil 3, Kapitel 4.2.2.3).
Von den Ländern, die Angaben über ihre Pläne zur zukünftigen Energieproduktion gemacht haben, haben 5 Prozent auf einen Ausbau der Kernkraft gesetzt (und es ist zwar nicht Thema dieses Textes, aber der IPCC-Bericht hat natürlich auch die NDCs ausführlich untersucht und kommt zu dem Schluss, dass sie in ihrer derzeitigen Form definitiv nicht ausreichend sind, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erfüllen).
In Kapitel 4 werden die Kernkraftpläne für die Zukunft auch ausführlich untersucht, in Unterkapitel 4.2.5.5., das den vielsagenden Titel „Nuclear Power Is Considered Strategic for Some Countries, While Others Plan to Reach Their Mitigation Targets Without Additional Nuclear Power“ trägt. Manche Ländern wollen also die Kernkraft ausbauen, andere eher nicht, aber dort wo viel Kernkraft verwendet wird, hat das bis jetzt nicht zu einer Reduktion der Treibhausgase geführt:
„Nuclear power generation is developed in many countries, though larger-scale national nuclear generation does not tend to associate with significantly lower carbon emissions (Sovacool et al. 2020)“ Teil 3, Kapitel 4.2.5.5.)
Die billigste Option ist Kernkraft auch nicht:
„Unlike other energy sources such as wind and PV solar, levelised costs of nuclear power has been rising in the last decades. This is mainly due to overrun of overnight construction costs related to delays in project approvals and construction, and more stringent passive safety measures, which increases the complexity of systems.“ Teil 3, Kapitel 4.2.5.5.)
Dort, wo ein deutlicher Ausbau der Kernkraft geplant wird oder nötig sein könnte, ist es unter Umständen schwer, das auch umzusetzen:
„Deep power sector decarbonisation pathways could require a two-folded increase in nuclear capacity according to (Jayadev et al. 2020) for the USA, and nearly a ten-fold increase for Canada, but may be difficult to implement (Vaillancourt et al. 2017). (Teil 3, Kapitel 4.2.5.5.)
In China könnte der Anteil an Kernkraft im Jahr 2050 14-28% betragen; auch Indien hat vor, viel auszubauen, sofern es ausreichend viel Brennstoff kriegen kann:
„India has put in place a three-stage nuclear programme which aims to enhance nuclear power capacity from the current level of 6 GW to 63 GW by 2032, if fuel supply is ensured (GoI 2015).“
Der Bericht hält aber auch explizit fest, dass es möglich ist, die Treibhausgase zu reduzieren, ohne dabei Kernkraft zu verwenden, wenn stattdessen CCS-Techniken weiter entwickelt werden:
„Conversely, some analysis find deep mitigation pathways, including net zero GHG emissions and 80–90% reduction from 2013 levels, feasible without additional nuclear power in EU-28 and Japan respectively, but assuming a combination of bio- and novel fuels and CCS or land-use based carbon sinks.“ (Teil 3, Kapitel 4.2.5.5.)
Aber was möglich ist, ist nicht unbedingt auch machbar; gerade bei komplexen und risikoreichen Technologien wie der Kernkraft könnte es sinnvoller sein, stattdessen andere Optionen zu nutzen:
„Many large-scale supply-side climate mitigation options, such as CCS or nuclear power, involve high technological risks, critically depend on a stable carbon price, and are controversial in terms of social and environmental impacts (…) which adds weight and robustness to those demand-side options that are more decentralised, granular in scale, and provide potential tangible consumer benefits besides being low-carbon (like more efficient buildings and appliances, ‘soft’ urban mobility options (walking and cycling), digitalisation, among others.“ (Teil 3, Kapitel 5.5.3.)
Kernkraft als Option
Am ausführlichsten wird die Kernkraft in Kapitel 6.4. von Teil 3 des IPCC-Berichts behandelt. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Möglichkeiten zur Abmilderung der Klimakrise, die im Energiesektor existieren. Unterkapitel 6.4.2.4. widmet sich explizit der Kernkraft:
„Nuclear power can deliver low-carbon energy at scale (high confidence). Doing so will require improvements in managing construction of reactor designs that hold the promise of lower costs and broader use (medium confidence). At the same time, nuclear power continues to be affected by cost overruns, high upfront investment needs, challenges with final disposal of radioactive waste, and varying public acceptance and political support levels (high confidence).“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Es wird also zuerst ein weiteres Mal festgestellt, das Kernkraft prinzipiell eine CO2-arme Technologie ist, aber auch teuer, komplex und gesellschaftlich/politisch schwierig umsetzbar. Im Kapitel folgt dann ein Überblick über die verschiedenen Reaktortypen und es wird festgehalten, dass mit Ende des Jahrzehnts zwei Drittel aller Reaktoren seit mehr als 30 Jahren aktiv und am Ende der vorgesehen Betriebsdauer angekommen sind. Es ist aber prinzipiell möglich, sie auch darüber hinaus zu betreiben, sofern sie ausreichend gewartet werden. Danach werden die „Small modular reactors (SMR)“ erwähnt, die im Gegensatz zu den derzeit verwendeten großen Reaktoren potenziell billiger und effizienter hergestellt und betrieben werden können. Aber davon gibt es derzeit nur Prototypen und ob SMRs in naher Zukunft eine Rolle spielen werden, hängt davon ab, wie sich die Forschung hier entwickelt:
„Their market development by the early 2030s will strongly depend on the successful deployment of prototypes during the 2020s. (…) As SMRs are under development, there is substantial uncertainty regarding the construction costs.“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Bauzeit und Kosten für Kernkraftwerke hängen unter anderem auch von lokalen Gegebenheiten ab:
„Nuclear power costs vary substantially across countries (high confidence). First-of-a-kind projects under construction in Northern America and Europe have been marked by delays and costs overruns (Berthelemy and Rangel 2015). Construction times have exceeded 13–15 years and cost has surpassed three to four times initial budget estimates (IEA 2020j). In contrast, most of the recent projects in Eastern Asia (with construction starts from 2012) were implemented within five to six years (IAEA 2021).“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Neue Kernkraftwerke zu bauen ; insbesondere dort, wo Kernkraft bis jetzt kaum eine Rolle gespielt hat, ist also sehr teuer und braucht lange. Billiger ist es, schon bestehende Kernkraftwerke unter entsprechenden Auflagen weiter zu betreiben:
„Lifetime extensions are significantly cheaper than new builds and cost competitive with other low-carbon technologies.“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Die Akzeptanz von Kernkraft ist allerdings eher gering:
„Nuclear power continues to suffer from limited public and political support in some countries (high confidence). Public support for nuclear energy is consistently lower than for renewable energy and natural gas, and in many countries as low as support for energy from coal and oil. (…) Public support for nuclear energy is higher when people are concerned about energy security, including concerns about the availability of energy and high energy prices.“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Wer Kernkraft nutzen will, sollte sich auch um politische Stabilität, Regulierung und ausreichend Geld kümmern:
„For countries that choose nuclear power in their energy portfolio, stable political conditions and support, clear regulatory regimes, and adequate financial framework are crucial for successful and efficient implementation.“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Und um eine langfristige Lösung für den Umgang mit den radioaktiven Abfällen:
„Nuclear power’s long-term viability may hinge on demonstrating to the public and investors that there is a long-term solution to spent nuclear fuel.“ (Teil 3, Kapitel 6.4.2.4.)
Positive und negative Auswirkungen der Kernkraft
Dass das Klima eine vernetzte Angelegenheit ist, muss man nicht weiter erklären. Alles hängt mit allen zusammen und muss deswegen auch im Kontext betrachtet werden. Wenn man zum Beispiel überall Pflanzen für Energie aus Biomasse anbaut, dann kann es Konflikte mit der Landwirtschaft geben, die ebenfalls ein wichtiger Faktor für das Klima ist. Wenn wir Wasser für Wasserkraft nutzen, fehlt es danach vielleicht in der Landwirtschaft. Es gibt aber auch Zusammenhänge zwischen den Auswirkungen der Klimakrise und den zukünftigen Optionen für den Klimaschutz: Wenn Flüsse austrocknen, bringt die Wasserkraft eher wenig. Und so weiter – es gibt jede Menge Zusammenhänge und natürlich werden die im IPCC-Bericht auch betrachtet; auch was die Kernkraft angeht. Aber auch die reine Temperaturerhöhung bringt Probleme:
„Climate change alters the production of energy through changes in temperature (hydropower, fossil fuel, nuclear, solar, bioenergy, transmission and pipelines), precipitation (hydropower, fossil fuel, nuclear and bioenergy), windiness (wind and wave), and cloudiness (solar) (high confidence). Increases in temperature reduce efficiencies of thermal power plants (e.g., fossil fuel and nuclear plants) with air-cooled condensers by 0.4–0.7% per °C increase in ambient temperature.“ (Teil 3, Kapitel 3.7.4.1)
Im Detail kann man sich das in Abbildung 6.10 aus Kapitel 6 ansehen:
Hier sieht man die diversen „Climatic Impact-Driver“, also alles, was irgendwie aus dem Klima kommt und das Potenzial hat, Infrastruktur, Ökosysteme, etc zu beeinflussen. Wenn wir wissen wollen, was davon für Kernkraft relevant ist, müssen wir auf die Zeile „Thermal power plants (incl nuclear)“ schauen. Dort sehen wir vor allem rote Kästchen, was schlecht ist, denn das bedeutet einen negativen Einfluss. Vor allem für die „Vulnerability“, also die Anfälligkeit dieser Kraftwerke sieht es da nicht ganz so gut aus. Was die Effizienz angeht, sind es vor allem extreme Hitze und Trockenheit, die Kernkraftwerke negativ beeinflussen. Entsprechende Probleme kann man auch jetzt schon beobachten:
„The operation of thermal power plants will be affected by climate change, deriving from changes in the ambient conditions like temperature, humidity and water availability (Schaeffer et al. 2012) (high confidence). Changes in ambient temperature have relatively small impacts on coal-fired and nuclear power plants. An increase in climate-related nuclear power disruptions has been reported in the past decades globally (Ahmad 2021).“ (Teil 3, Kapitel 6.5.2.5)
Wie sind im Gegensatz dazu die Auswirkungen der Kernkraft auf den Rest der Welt? Gemischt. Zuerst einmal gibt es auch hier negative Folgen, was Landnutzung, Verschmutzung, etc angeht:
„Nuclear power has land impacts and risks associated with mining operations (Falck 2015; Winde et al. 2017; Srivastava et al. 2020) and disposal of spent fuel (IAEA 2006a; Ewing et al. 2016; Bruno et al. 2020), but the land occupation is small compared to many other mitigation options. Substantial volumes of water are required for cooling (Liao et al. 2016), as for all thermal power plants, but most of this water is returned to rivers and other water bodies after use (Sesma Martín and Rubio-Varas 2017). Negative impacts on aquatic systems can occur due to chemical and thermal pollution loading.“ (Teil 3, Kapitel 12.5.3)
So ein Kernkraftwerk braucht zwar nicht wahnsinnig viel Platz; aber irgendwo müssen Uran und andere Rohstoffe auch abgebaut werden und das kann Probleme schaffen; ebenso die Wassernutzung. Was aber noch nicht das Hauptproblem ist:
„The major risk to land from nuclear power is that a nuclear accident leads to radioactive contamination.“ (Teil 3, Kapitel 12.5.3)
Aber es gibt auch positive Auswirkungen der Kernkraft:
„Nuclear power is assessed as having synergies with SDG 3 (good health and well-being) due to reduced air pollution. (…) Synergies are identified in relation to SDG 12 (responsible production and consumption) for nuclear power due to low material consumption.“ (Teil 3, Kapitel 17.3.3.7)
Mit „SDG“ sind hier die Sustainable Development Goals, also die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen gemeint und Kernkraft ist (natürlich nicht als einzige Energieform) förderlich, wenn man weniger Luftverschmutzung und weniger Ressourceneinsatz haben möchte.
War das schon alles? Ein Fazit
Das war es im Wesentlichen, was über die Kernkraft im IPCC-Bericht zu lesen ist. Wie gesagt: Ich habe nicht jede einzelne Erwähnung der Kernkraft im Bericht aufgeführt. Viele Informationen finden sich auch mehrfach im Bericht, weil die einzelnen Kapitel sich thematisch natürlich teilweise überschneiden und diese Doppelungen habe ich auch ausgelassen. Aber ich habe mich sehr bemüht, nichts auszulassen, was für die Einschätzung der Kernkraft aus IPCC-Sicht relevant wäre.
Am Ende wiederhole ich noch einmal, was ich zu Beginn gesagt habe: Der IPCC-Bericht ist nicht dazu da, explizite Handlungsanweisungen zu geben. Es war also nicht damit zu rechnen, dass irgendwo eine Empfehlung für die Kernkraft (oder ein Abraten davon) zu lesen ist. Es ist ein Sachstandsbericht und er stellt die Sachlage aus wissenschaftlicher Sicht dar. Was man daraus macht und welche Konsequenzen man daraus zieht, bleibt denen überlassen, die entsprechende Konsequenzen ziehen sollen. Was die Kernkraft angeht, kann ein (in diesem Fall: mein) Fazit so aussehen: Kernkraft wird auch in Zukunft eine Rolle im Energiesystem haben. Da es sich aber um eine komplexe und teure Energieform handelt und es billigere und einfacher einsetzbare Optionen gibt, wäre es sinnvoll, sich vorerst darauf zu konzentrieren. Um der Klimakrise zu begegnen, muss schnell etwas geschehen und Kernkraft gehört (abseits vom Weiterbetrieb bestehender Kraftwerke, sofern das machbar ist) nicht zu den Optionen, die schnell umgesetzt werden können. Und, wie die Szenarien des IPCC zeigen, es braucht auch keinen massiven Ausbau der Kernkraft für eine klimafreundliche Zukunft.
Epilog: Was ist mit dem Spezialbericht aus dem Jahr 2018?
Im Internet findet man diverse Aussagen die sich auf den zu Beginn erwähnten „Special Report: Global Warming of 1.5°C“ (SR1.5) aus dem Jahr 2018 beziehen und daraus eine Empfehlung für mehr Kernkraft ableiten. Ich habe diesen Bericht in meiner Analyse vor allem deswegen nicht inkludiert, weil es mittlerweile den sehr viel umfassenderen 6. Sachstandsbericht gibt, der natürlich auf den Informationen der früheren Berichte, inklusive des Spezialberichts, aufbaut. Und da Wissenschaft und insbesondere Klimaforschung ein sehr aktives Feld ist, ist es meiner Ansicht sinnvoll, sich auf die aktuellen Informationen zu beziehen, zu denen der Spezialbericht nicht (mehr) gehört. Was nicht heißt, dass alles, was darin steht, falsch ist!
Aber auch beim Spezialbericht muss man wissen, um was es geht, bevor man daraus irgendwas ableiten will. Das für die Kernkraft relevante Kapitel ist dort Kapitel 2.4.2 (Energy Supply) und dort kann man zum Beispiel lesen:
„Several energy supply characteristics are evident in 1.5°C pathways assessed in this section: (i) growth in the share of energy derived from low-carbon-emitting sources (including renewables, nuclear and fossil fuel with CCS) and a decline in the overall share of fossil fuels without CCS. (…) By mid-century, the majority of primary energy comes from non-fossil-fuels (i.e., renewables and nuclear energy) in most 1.5°C pathways.“ (SR1.5, Kapitel 2.4.2)
Hier wird also auch zuerst eher allgemein festgestellt, dass man Energie braucht, die wenig CO2 oder gar keines freisetzt, wozu neben den erneuerbaren Energien auch die Kernkraft gehört. Über die wird im Detail folgendes gesagt:
„Nuclear power increases its share in most 1.5°C pathways with no or limited overshoot by 2050, but in some pathways both the absolute capacity and share of power from nuclear generators decrease (Table 2.15). There are large differences in nuclear power between models and across pathways. (…) Some 1.5°C pathways with no or limited overshoot no longer see a role or nuclear fission by the end of the century, while others project about 95 EJ/yr of nuclear power in 2100.“ (SR1.5, Kapitel 2.4.2)
Wenn hier zu lesen ist, dass die Kernkraft „in den meisten Szenarien“ steigt, dann darf man nicht vergessen, dass diese Szenarien keine Prognosen sind. Sondern, wie ich oben im Kontext der IMPs erklärt habe, Annahmen. In den meisten Szenarien hat man im Spezialbericht also einen Anstieg der Kernkraft angenommen; aber nicht in allen und das 1,5-Grad-Ziel kann auch in Szenarien ohne Kernkraft erreicht werden. Und dort, wo die Kernkraft einen Anteil hat, ist er – im Vergleich zu den anderen Energieformen – sehr klein (zwischen circa einem und vier Prozent der Primärenergie), wie man in Tabelle 2.6. von Kapitel 2 des Spezialberichts im Detail sehen kann.
Wenn man sich ansieht, was im Spezialbericht über Kernkraft steht, dann kommt man zu einem ähnlichen Ergebnis wie der aktuelle Sachstandsbericht: Kernkraft kann eine Rolle spielen, diese Rolle ist aber nicht sehr groß im Vergleich zu den anderen Energieformen. Wer sich aber über die Kernkraft aus Sicht des IPCC informieren will, sollte das trotzdem besser aus dem umfassenderen und aktuelleren 6. Sachstandsbericht tun.
Die beiden Absätze passen nicht zusammen.
Erst sei es möglich ohne Kernenergie und CCS zu dekarbonisiereb, dann heißt möglich nicht unbedingt machbar und dies gerade bei komplexen Technologien, die aber doch gerade weggelassen würden.
Missverständlich.
Es geht um verschiedene Szenarien. Unter der Annahme, dass Kernkraft verwendet wird, ist die Einhaltung von 2° möglich. Es kann aber schwierig und schlecht machbar sein, die Kernkraft soweit auszubauen, wie es die Szenarien mit Kernkraft vorsehen. Im Gegensatz dazu können aber auch die Szenarien ohne gesteigerte Kernkraft 2° einhalten.
Beides stützt nicht die Aussage, dass für wirksamen Klimaschutz (ein Ausbau) der Kernkraftnutzung nötig ist.
Die Sache mit der Kühlung wäre machbar. Die Franzosen haben tatsächlich viele ihrer Anlagen an Flüsse gebaut und dafür auf den Bau von Kühltürmen verzichtet, die mit sehr wenig Wasser auskommen könnten. Im Vergleich mit der Gesamtanlage kosten die aber nichts.
Kurz nach seinem Amtsantritt wurde Wirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Harbeck gefragt, ob es zur Rettung des Klimas nicht besser sei, wieder auf die Kernenergie zu setzen. Wenig souverän hat er sich darum herum gewunden. Besser wäre es gewesen, er hätte sich auf seinen Parteikollegen und ehemaligen Umweltminister Jürgen Trittin berufen. Der steht mittlerweile auf dem Standpunkt, dass Kernenergie tatsächlich keinen fossilen Kohlenstoff in die Umwelt schleust, aber im Grunde viel zu teuer ist. Dieses wirtschaftliche Argument müssten eigentlich auch Finanzminister Christian Lindner und seine Freiheitlichen einsehen. (Das ist natürlich die deutsche Sicht. Die österreichische Kernenergie ist lediglich teuer, liefert keinen Strom und vermeidet keinen Ausstoß von Kohlendioxid. Dafür ist sie aber total sicher!)
Die SMRs gelten vielen Anhängern als die Lösung der Zukunft: Sichere und billige Kernenergie! Wenn allerdings besagte Anhänger öffentlich die Meinung vertreten,
ja, der Bau eines Kraftwerks sei teuer und die Endlagerung auch, aber wenn es einmal stünde, lieferte so eine Anlage konkurrenzlos billigen Strom, dann brechen sie ihrer Lieblingsenergieerzeugung selber das Genick. Zuletzt war Kernenergie die zweitteuerste und wurde nur vom Gas übertroffen, und das lag an den Folgen des Ukraine-Kriegs. Ob die SMRs die Versprechen erfüllen könnten? Wer weiß? Wenn der Bericht schon selber die wenig nennenswerte Einsparung erwähnt…
Leider lügen sich sowohl Anhänger und Gegner der Kernenergie immer selber in die Tasche. Und so etwas kann beim Betrieb zur Katastrophe führen. Die Welt hat zwei Ereignisse gesehen, die nach der INES-Skala mit einer „7“ eingestuft worden sind. Die Gründe waren unterschiedlich, aber der gemeinsame Nenner war pure Schlamperei. Sowohl in Tschernobyl wie auch in Fukushima wurde bereits beim Bau geschlampt und später beim Betrieb der fertigen Anlage. Und Kernenergie verträgt derartige Schlamperei nun gerade überhaupt nicht. Gar nicht weit von mir ist vor einiger Zeit ein Windrad eingestürzt. Grund: Schlamperei beim Bau! Die Trümmer wurden aus dem Wald geholt, vergleichbare Anlagen stillgelegt und später mit deren Rückbau begonnen. Blöd und auch mit Kosten verbunden, aber keine wirklich große Sache. Bei Kernenergie ist das anders.
Dazu fällt mir der deutsche Kernphysiker ein, der sich in einem Interview an die Tage von Fukushima erinnerte. Er hatte seinerzeit seiner Frau gesagt: „Wenn die Welt sieht, wie gut das Industrieland Japan diese Katastrophe handhabt, dann ist das die Renaissance der Kernenergie.“ Er hat dann noch offen zugegeben, von den Ereignissen enttäuscht worden zu sein.
Ja, es bleibt halt schwierig!
Und übrigens könnte man sich natürlich wünschen, dass nahezu allen Menschen mittlerweile klar wäre, was die Stunde geschlagen hat. Leider ist dem nicht so. Oder wer hat den US-Präsidenten vergessen, der die „Clean coal! Clean coal!“ beschworen und die Förderung von Kohle, Erdöl und Erdgas forciert hat? Nein, viele einflussreichen Menschen ignorieren den Klimawandel und seine Folgen mit allen Kräften. Da werden schwere Winterstürme als Argument gegen die Erderwärmung missbraucht, anstatt zu sehen, wie es ist, dass da nämlich besiedelte Regionen plötzlich auf der falschen Seite des mäandrierenden Jetstreams gelegen haben, was eine direkte Folge der Erderwärmung ist.
Zum Zitat: „„Nuclear power generation is developed in many countries, though larger-scale national nuclear generation does not tend to associate with significantly lower carbon emissions (Sovacool et al. 2020)“ Teil 3, Kapitel 4.2.5.5.)“
Diese Behauptung hält einer kritischen Überprüfung nicht stand:
https://www.nature.com/articles/s41560-021-00964-w.epdf?sharing_token=UkeX358AnVI5UXQD5q8nOtRgN0jAjWel9jnR3ZoTv0MF2wq4vzEk8QIaO1LxnU0HkucijiX1mzjy7LGABkxy8b31uQfWh1AOOJ2uRq5Di0QPfDZYydOmnFkwDKEhWuM1OjU3uOXIgBceIiTpXmNRod6hWwITCaVgo8GAJWcH7h8%3D
oder
https://twitter.com/JesseJenkins/status/1487114196294594564
Ich nehme an, das Konzept einer Review-Arbeit wie der IPCC-Bericht eine darstellt, ist bekannt? Abgesehen davon will ich hier gar nicht anfangen über konkrete Detaildaten zu diskutieren (war nicht die Intention meines Artikels, sondern nur eine Sammlung der Zitate aus dem IPCC-Bericht). Aber so unumstritten ist die Arbeit von Fell et al ja auch wieder nicht: https://www.researchgate.net/publication/358192390_Reply_to_Nuclear_power_and_renewable_energy_are_both_associated_with_national_decarbonization#fullTextFileContent
Unter https://archive.ipcc.ch/pdf/special-reports/sr15/sr15_spm_fig3b.pdf findet sich Interessantes. P3 rechnet mit Steigerung von Kernkraft (bezogen auf 2010) von 98% 2030 und 501% 2050, P4 mit 106% 468% respektive. Oder lese ich das falsch?