Dieser Artikel ist Teil des ScienceBlogs Blog-Schreibwettbewerb 2017. Informationen zum Ablauf gibt es hier. Leserinnen und Leser können die Artikel bewerten und bei der Abstimmung einen Preis gewinnen – Details dazu gibt es hier. Eine Übersicht über alle am Bewerb teilnehmenden Artikel gibt es hier. Informationen zu den Autoren der Wettbewerbsartikel finden sich in den jeweiligen Texten.
——————————————————————————————————————
Wir basteln uns einen Elektronenspin
von Wolfram Nitsch
Dieser Text (mein erster Blogtext überhaupt) wendet sich an jene Physik-interessierten Laien unter euch, die gerne mal einen Mathematik-freien* Blick hinter die Kulissen der Quantenmechanik werfen würden. In dem folgenden Text findet ihr dazu ein simples Gedankenmodell, welches das Elektron, seinen Spin und die Messung dieses Spins modelliert.
Mit diesem Gedankenmodell führen wir dann einige spezifische Gedankenexperimente durch und lernen so extrem einfache Beispiele für die quantenmechanischen Charakteristiken des Spins kennen, beispielsweise den deterministischen Spin-Zustand und die indeterministische Spin-Messung, die Quantisierung des Spins, die Präparation und Zerstörung eines Spin-Zustandes, die Wiederholbarkeit und Unschärfe einer Spin-Messung, die Spin-Phase und die phaseninvariante Spin-Messung und noch andere Köstlichkeiten.
(*) Ok, Sinus und Kosinus laufen euch an einer Stelle über den Weg, die könnt ihr aber getrost ignorieren weil die dazugehörigen Diagramme direkt daneben stehen. 😉
1. Der seltsame Elektronenspin
Wenn Physiker versuchen den Spin des Elektrons einem Laien zu erklären, dann verwenden sie dafür gerne die Modellvorstellung einer geladenen und rotierenden Elektronenkugel, die Rotation der Ladung begründet dann die magnetischen Eigenschaften des Elektrons.
Typischerweise wird diese Modellvorstellung allerdings im gleichen Atemzug wieder verworfen weil andere Eigenschaften des Elektrons wiederum überhaupt nicht zu diesem Modell passen wollen. Die dabei auftretenden Probleme kann man sich anschaulich klarmachen wenn man einige Eigenschaften des Elektrons auf den uns wohlbekannten Fußball überträgt:
- So ein Fußball müsste sich pausenlos drehen und das auch immer mit der gleichen Geschwindigkeit.
- Weiterhin könnte sich dieser Fußball nicht einmal in beliebige Richtungen drehen sondern hätte dafür nur genau zwei Richtungen zur Verfügung, nach links oder nach rechts. Die Rotationsachse so eines Fußballs könnte also nur entweder nach unten oder oben zeigen, niemals aber in eine andere Richtung.
- In welche Richtung der Fußball sich aktuell dreht würde sich erst in genau dem Moment entscheiden, in dem jemand versucht diese Drehrichtung festzustellen, z.B. durch eine Sichtkontrolle.
- Das Ergebnis so einer ersten Sichtkontrolle wäre zwangsläufig immer rein zufällig.
- Darauf folgende Sichtkontrollen aus dieser Richtung wären dann nicht mehr zufällig sondern ergäben immer die zuerst beobachtete Drehrichtung.
- Würde der Beobachter allerdings vor einer zweiten Sichtkontrolle ein wenig um den Fußball herumgehen, dann wäre das Ergebnis der zweiten Sichtkontrolle doch wieder zufällig, diesmal allerdings mit einer gewissen statistischen Tendenz.
- Diese Tendenz ließe sich so formulieren: Je weiter der Beobachter vor der zweiten Sichtkontrolle in Richtung der „Rückseite“ des Fußballes läuft, desto wahrscheinlicher wird es dass er bei der zweiten Sichtkontrolle die jeweils andere Drehrichtung erblickt.
- Läuft der Beobachter exakt 180° bis zur „Rückseite“ um den Fußball, so wird die zweite Sichtkontrolle in diesem Fall sogar mit Sicherheit die jeweils andere als die zuerst beobachtete Drehrichtung ergeben.
- Würde der Beobachter dann (müde von den vielen Versuchen) zur Abwechslung versuchen, die Größe des Fußballs auszumessen, so müsste er feststellen dass der Fußball unabhängig von der Präzision der Messung überhaupt keine räumliche Ausdehnung hätte sondern eigentlich nur ein einzelner Punkt wäre.
Bei solch absurd anmutenden Eigenschaften wird es für die Modellvorstellung einer rotierenden Elektronenkugel offensichtlich ganz ganz eng, Physiker sagen deswegen auch dass der Spin des Elektrons nur eine „intrinsische“, nicht weiter hinterfragbare Eigenschaft des punktförmigen Elektrons sei.
Man kann sich allerdings auch fragen, ob das doch sehr einfache und anschauliche Kugelmodell nicht vielleicht doch durch irgendeine Modifikation oder Erweiterung gerettet werden kann und in der Tat werden wir im Folgenden eine solche Modifikation des Kugelmodells kennenlernen und sehen, dass man damit auch die oben angedeuteten, höchst seltsame anmutenden Eigenschaften von Spin-Messungen anschaulich darstellen kann.
Allerdings soll an dieser Stelle auch gleich sehr deutlich darauf hingewiesen werden, dass das resultierende Modell zwar die Messwahrscheinlichkeiten einer Spin-Messung plausibel veranschaulichen kann, andere Eigenschaften des Elektrons aber nicht mit abgedeckt und deswegen auch nur als der Versuch verstanden werden darf, einen besonders unanschaulichen Teilaspekt der seltsamen Quantenmechanik durch eine einfache Modellvorstellung klassisch zu veranschaulichen und so auch Interessierten ohne eine mathematische Vorbildung zugänglich zu machen.
2. Drei zentrale Begriffe vorweg:
Um das im Folgenden vorgestellte Gedankenmodell kürzer und präziser beschreiben zu können, wollen wir zu Beginn drei wichtige Begriffe einführen:
2.1 Scheibenrotation und Kugelrotation
Wenn wir eine Münze in der Hand halten, so können wir diese im Prinzip auf die unterschiedlichsten Arten drehen. Weil zwei spezielle Varianten solcher Drehungen im weiteren Text noch eine größere Rolle spielen werden, geben wir diesen jeweils einen eigenen Namen:
- Scheibenrotation: Ein Beispiel hierfür wäre eine Münze, die sich wie eine Schallplatte oder eine Frisbee-Scheibe dreht, unsere Namensgebung bezieht sich somit auf die Form der rotierenden Münze (siehe Abb. 1).
- Kugelrotation: Ein konkretes Beispiel hierfür wäre eine Münze, die wie ein Kreisel auf einer Tischplatte rotiert, hier bezieht sich die Namensgebung also auf die Kugelform einer kreiselnden Münze (siehe Abb. 2).
2.2 Passiver Münzwurf: Ein idealisierter Münz-„Abwurf„
Wir wollen uns unter einem „passiven Münzwurf“ eine spezielle Form des Münzwurfs vorstellen, bei der eine Münze mit einer bestimmten Ausrichtung aus geringer Höhe auf einen Tisch fallen gelassen wird und die Münze sowohl beim „Abwurf“ als auch beim Fallen keinen zusätzlichen Drall oder Effet mehr bekommen darf.
Die Besonderheit dieses Münzwurfs liegt darin, dass eine so „abgeworfene“ Münze im Flug ihre räumliche Ausrichtung nicht mehr ändert (den Luftwiderstand und andere Einflussfaktoren ignorieren wir mal großzügig) und deswegen mit genau jener Ausrichtung auf den Tisch aufprallt, welche sie auch vor dem Abwurf schon hatte (Abb. 3).
Für spezielle Ausrichtungen der Münze vor dem Wurf kann man die entsprechenden Wurfwahrscheinlichkeiten nun direkt aus dem Modell ableiten:
- Münze waagrecht: Die Münze prallt also exakt waagrecht auf den Tisch auf und hüpft dann idealerweise nur noch auf und ab, da die zufallsbestimmenden Unebenheiten des Tisches und der Münze durch die breite Kontaktfläche der ganzen Münzseite ausgemittelt werden.
Das Ergebnis eines solchen Wurfes ist also stets identisch zu der Ausrichtung der Münze vor dem Wurf (siehe Abb. 4) und somit nicht zufällig. - Münze senkrecht: Weil die Münze so immer genau senkrecht auf den Tisch aufprallt, sind beide Wurfergebnisse (aus Symmetriegründen) gleich wahrscheinlich (siehe Abb. 5), das Ergebnis also immer rein zufällig.
Kleiner Hinweis: Die Möglichkeit einer nach dem Münzwurf auf dem Rand stehenden Münze wollen wir hier nicht berücksichtigen, beispielsweise indem wir für die entsprechenden Experimente immer eine Münze mit abgerundeten Rändern fordern.
In der folgenden Tabelle sind die jeweiligen Wurfwahrscheinlichkeiten und Durchschnittswerte nochmals zusammengefasst. Weil wir zusätzlich die beiden möglichen Wurfergebnisse KOPF und ZAHL mit den numerischen Werten 1 und -1 identifizieren, können wir auch die Durchschnittswerte und Einzelwurfwahrscheinlichkeiten durch Zahlenwerte angeben.
Die Durchschnittswerte für alle anderen Winkel α zwischen Münze und Tisch (eigentlich: zwischen der KOPF-Seite der Münze und der Tischplatte) können wir nun ausgehend von den oben abgeleiteten Werten einfach mit der Kosinus-Funktion „interpolieren“ wie in Abb. 6 dargestellt.
Die von dem Winkel α abhängigen Einzelwurfwahrscheinlichkeiten können dann für KOPF mit dem Ausdruck cos²(α/2) und für ZAHL über den Ausdruck sin²(α/2) berechnet werden (Abb. 7).
Zusammenfassend könnte man also sagen dass der passive Münzwurf eine idealisierte Form eines Münzwurfs darstellt, dessen Wurfwahrscheinlichkeiten leicht und intuitiv erfasst werden können.
3. Aufbau des Gedankenmodells
Nach diesem etwas länglichen aber gleich noch sehr nützlichen Vorgeplänkel können wir uns jetzt endlich mit der Konstruktion des eigentlichen Gedankenmodells beschäftigen.
3.1 Erweiterung des Kugelmodells
Weiter oben haben wir die Modellvorstellung einer rotierenden Elektronenkugel angesprochen und gesehen, wie schnell diese etwa bei der Spin-Messung versagt.
Allerdings können wir die obigen Widersprüche umgehen, wenn wir die Modellvorstellung der rotierenden Elektronenkugel an einigen Stellen modifizieren und ausbauen:
- Rotierende Scheibe: Statt einer rotierenden Kugel stellen wir uns das Elektron in diesem Modell als eine geladene und scheibenrotierende Scheibe vor.
- Hohle Kugel: Um einen direkten Zugriff auf die Elektronenscheibe zu verhindern verfrachten wir diese ins Zentrum einer hohlen, nicht direkt zugänglichen Kugel.
- Messapparat: In Ermangelung eines direkten Zugriffs müssen wir für eine Spin-Messung einen dedizierten Spin-Messapparat zur Verfügung stellen.
3.2 Spin-Messung aus Sicht des Messapparats
Aus Sicht des Messapparats besteht eine Spin-Messung im Gedankenmodell aus drei Einzelschritten:
- Ausrichtung des Messapparats durch Anbringung an einer beliebigen Stelle auf der Kugelaußenwand (Abb. 9.a).
- Durchführung einer Messung (angezeigt durch die gelbe Spitze) und Anzeige des Ergebnisses (Abb. 9.b).
- Deaktivierung des Messapparats und Anzeige des letzten Messergebnisse bis zur nächsten Messung (Abb. 9.c).
3.3 Spin-Messung aus Sicht der Elektronenscheibe
- Der Messapparat wird außen an der Kugel angebracht (Abb. 10.a).
- Der Messapparat wird eingeschaltet (erkennbar an der gelben Spitze) und beginnt dann, die Elektronenscheibe aus dem Zentrum der Kugel in Richtung des Messapparats zu ziehen bis diese schließlich mit der Kugelinnenwand kollidiert (Abb. 10.b).
- Dort soll die Scheibe dann analog zu einem passiven Münzwurf und mit den entsprechenden Wahrscheinlichkeiten nach einigen pseudozufälligen Aufsetzern schlussendlich mit dem Rand an der Kugelinnenwand anliegend zur Ruhe kommen (Abb. 10.c).
- Der Spin-Messapparat soll dann und nur dann messen können, in welche Richtung sich die Scheibe gerade dreht (Abb. 10.d):
- Dreht sich die Scheibe aus Sicht des Messapparats im Uhrzeigersinn, so bezeichnen wir dieses Messergebnis als UP.
- Dreht sich die Scheibe aus Sicht des Messapparats gegen der Uhrzeigersinn, so bezeichnen wir dieses Messergebnis analog als DOWN.
- Nach der Messung schaltet sich der Messapparat ab und die Scheibe soll dann mit ihrer neuen Ausrichtung wieder ins Zentrum der Kugel zurückwandern (Abb. 10.e).
Wichtige Randbedingungen:
- Um das Zurückwandern der Elektronenscheibe in das Kugelzentrum am Ende der Messung zu begründen, fordern wir dafür einfach ein zusätzliches Kraftfeld, das wir aber nicht näher spezifizieren müssen.
- Weder der Messapparat noch das abstrakte Kraftfeld sollen die Ausrichtung der Elektronenscheibe ändern können, sie sollen also lediglich die Position der Scheibe in der Kugel verändert können.
- Somit kann die Ausrichtung der Scheibe nur noch im Rahmen einer Messung durch die Kollision mit der Kugelinnenwand geändert werden.
Hinweis: Durch diese Konstruktionsart kann das Gedankenmodell prinzipiell auch als eine 3D-Version des passiven Münzwurfs angesehen werden: Der Messapparat ersetzt die Schwerkraft, die Kugelinnenwand ersetzt die Tischplatte und das Ablesen des Ergebnisses wird hier nicht durch einen Beobachter sondern durch den Messapparat durchgeführt.
3.4 Namenskonventionen
- Phase: Momentaner Grad der Scheibenverdrehung der scheibenrotierenden Elektronenscheibe.
- Zustand: Momentane (deterministische) Ausrichtung der Elektronenscheibe in der hohlen Kugel plus Phase der Elektronenscheibe.
- Messung: Die Elektronenscheibe wird vom Messapparat in Richtung Kugelinnenwand gezogen und kollidiert schlussendlich analog zum passiven Münzwurf mit dieser, was in der Folge zu einem (meist) zufälligen Messergebnis führt.
- Quantisierung: Weil im Gedankenmodell bei einer Spin-Messung nur zwei mögliche Rotationsrichtungen gemessen werden können, bezeichnen wir den Elektronenspin als quantisiert.
- Phaseninvarianz: Da sich Form und Ausrichtung der Elektronenscheibe durch eine Scheibenrotation nicht ändern, übt diese im Sinne der Mechanik des passiven Münzwurfs keinen Einfluss auf den Ausgang einer Spin-Messung aus, wir bezeichnen die Spin-Messung deswegen als phaseninvariant.
- Zustand II: Wegen der Phaseninvarianz einer Spin-Messung kann der Zustand im Gedankenmodell oft auch nur als die Ausrichtung der Elektronenscheibe in der Kugel verstanden werden.
4. Einige Gedankenexperimente
4.1 Spin-Präparation
Physik:
- Das Ergebnis der ersten Messung eines Elektronenspins ist immer rein zufällig.
- Aus diesem Grund kann und darf vor einer ersten Messung auch keine Aussage über den Elektronenspin gemacht werden. Man sagt deswegen auch, dass der Zustand des Spins durch die erste Spin-Messung überhaupt erst präpariert und somit bekannt gemacht wird.
Gedankenmodell:
- Weil die Elektronenscheibe in der hohlen Kugel per Definition nur durch die Verwendung des Spin-Apparats beeinflusst werden kann, kann auch hier vor einer ersten Messung grundsätzlich keine Aussage über die Ausrichtung der Elektronenscheibe in der Kugel getroffen werden.
- Weil zusätzlich die erste Spin-Messung die Elektronenscheibe in fast allen Fällen neu ausrichtet, ist es auch hier zutreffend zu sagen, dass die erste Messung den Spin überhaupt erst festlegt und mithin präpariert, weil die Ausrichtung der Elektronenscheibe jetzt auch außerhalb der Kugel bekannt gemacht wurde.
4.2 Wiederholbarkeit einer Spin-Messung
Physik:
- Die Spin-Messung des Elektrons wird wiederholbar genannt weil nach der Spin-Präparation jede weitere Messung aus der gleichen Richtung mit Sicherheit wieder den präparierten Wert liefern wird.
- Die Wiederholbarkeit endet erst dann, wenn erstmalig eine Messung aus einer anderen Richtung (ungleich 180°) vorgenommen wird.
Gedankenmodell:
- Nach der Präparation ist die Elektronenscheibe genau waagrecht zum Messapparat ausgerichtet und gemäß dem passiven Münzwurf wird jede weitere Messung aus dieser Richtung diese Ausrichtung auch nicht mehr ändern, die Spin-Messung ist also auch im Gedankenmodell wiederholbar (Abb. 12).
- Wird allerdings zwischendurch eine Messung aus einer anderen Richtung (ungleich 180°) vorgenommen, so geht diese Wiederholbarkeit verloren weil die Elektronenscheibe durch so eine Messung zwangsläufig neu ausgerichtet wird.
4.3 Spin-Messung aus der entgegengesetzten Richtung
Physik:
Wird nach der Präparation des Spins eine Spin-Messung aus der entgegengesetzten Richtung durchgeführt, so ergibt diese Messung mit Sicherheit den jeweils nicht präparierten Wert.
Gedankenmodell:
Auch im Gedankenmodell ergibt sich gemäß dem passiven Münzwurf durch so eine Messung keine Neuausrichtung der Elektronenscheibe, die Scheibe ist also auch von der gegenüberliegenden Seite aus waagrecht zum Messapparat ausgerichtet (siehe Abb. 13).
4.4 Unscharfe und maximal unscharfe Spin-Messung
Physik:
- In der Physik spricht man von einer unscharfen Spin-Messung, wenn der Ausgang der Messung zufällig ist.
- Wenn darüber hinaus beide Messergebnisse gleich wahrscheinlich sind, spricht man auch von einer maximal unscharfen Spin-Messung.
Gedankenmodell:
- Wenn im Gedankenmodell die Elektronenscheibe vor einer Messung nicht waagrecht zum Messapparat ausgerichtet ist, so ist das Ergebnis der nächsten Spin-Messung zwangsläufig zufällig, die Messung mithin unscharf.
- Ist die Elektronenscheibe zusätzlich genau senkrecht zum Messapparat ausgerichtet, so sind beide Messergebnisse gemäß dem passiven Münzwurf gleich wahrscheinlich und die Folgemessung mithin maximal unscharf (Abb. 14.b).
4.5 Zerstörung eines präparierten Zustandes
Physik:
- Man spricht in der Physik von der Zerstörung eines präparierten Spin-Zustandes, wenn nach der Präparation des Elektronenspins eine Messung aus einer anderen Richtung (ungleich 180°) vorgenommen wird.
- Der Begriff „Zerstörung“ bezieht sich dabei auf den Umstand, dass eine solche Folgemessung zwangsläufig den Spin-Zustand ändert, der ursprünglich präparierte Zustand geht deswegen durch so eine Messung verloren.
Gedankenmodell:
Auch im Gedankenmodell bewirkt eine zwischenzeitliche Messung aus einer anderen Richtung (ungleich 180°) die Zerstörung eines präparierten Zustandes, einfach weil die Elektronenscheibe durch eine solche Messung zwangsläufig neu ausgerichtet wird und ein Folgemessung aus der Ursprungsrichtung somit auch andere Messwahrscheinlichkeiten aufweist (Abb. 15).
5. Ausblick
Einige interessante Aspekte des Gedankenmodells mussten wegen Platzmangel leider außen vor bleiben, hier wenigstens einige Stichwörter dazu:
- Mit dem Gedankenmodell können auch die Erwartungswerte maximal verschränkter Elektronenpaare veranschaulicht werden (besonders einfach funktioniert das im Fall des Singulett-Zustandes).
- Weil es ein 1:1-Mapping zwischen der mathematischen Beschreibung des Spins und dem Gedankenmodell gibt, kann der mathematische Formalismus so auch einem mathematischen Laien beispielhaft vermittelt werden.
- Die zeitliche Entwicklung des Spins kann durch entsprechende Kugelrotationen der (strukturell unveränderlichen) Elektronenscheibe in der Kugel dargestellt werden.
- Die bei der Widerlegung der Bell’schen Ungleichung verwendete Mess-Methodik kann mit dem Gedankenmodell leicht und anschaulich nachvollzogen werden (kommt dabei allerdings ein bisschen wie ein Äpfel/Birnen-Vergleich rüber).
Vielleicht ist es sogar möglich, das Gedankenmodell noch für weitere Veranschaulichungen zu benutzen, hier zum Abschluss noch einige halbgare Ideen für mögliche Versuche einer Erweiterung:
- Möglicherweise kann man mit dem Scheibenmodell neben Fermionen (Spin-1/2-Teilchen wie das Elektron) auch Bosonen (Spin-1-Teilchen wie das Photon) veranschaulichen, indem man Bosonen als nicht scheibenrotierende Scheiben modelliert.
- Die unterschiedlichen Eigenschaften von scheibenrotierenden und nicht scheibenrotierenden Scheiben könnte man dann auch dazu benutzen, das Verhältnis der unterschiedlichen Drehsymmetrien von Bosonen und Fermionen zu plausibilisieren:
- Eine nicht rotierende Scheibe sieht bereits nach einer Kugelrotation von 180° wieder so aus wie vor der Drehung.
- Eine scheibenrotierende Scheibe hingegen sieht wegen der unterschiedlichen Ausrichtungen der Rotationsachse erst nach einer Kugelrotation von 360° wieder so aus wie vor der Drehung.
- Wenn man die Geschwindigkeit der Kugelrotation einer Scheibe mit der Energie des Teilchens identifizieren würde (die entsprechenden Formeln würden das denke ich hergeben), dann könnte man eine Energie-Quantisierung durch eine Energie-Messmechanik analog zur Spin-Messung einfach und plausibel veranschaulichen.
- Wenn man sich weiterhin eine Ortsmessung eines Elektrons so vorstellt, dass die Elektronenscheibe dafür senkrecht auf der Kugelinnenwand kreiseln muss, dann hätte man dadurch eventuell die Möglichkeit, die Orts- und Impulsunschärfe von Elektronen einfach durch eine unterschiedliche Ausrichtung der Elektronenscheibe für die jeweilige Messung zu motivieren.
- Zuletzt könnte man mit so einer Mechanik der Ortsmessung auch noch den Versuch unternehmen, den punktförmigen Charakter des Elektrons im Gedankenmodell als einen Quantisierungseffekt zu veranschaulichen:
Wenn nämlich die Elektronenscheibe senkrecht auf der Kugelinnenwand kreiselt, dann gibt es unabhängig davon wie genau man misst immer nur einen einzigen Punkt, an dem die Elektronenscheibe die Kugelinnenwand berührt (wenn die Elektronenscheibe entweder wie unsere Münze abgerundete Ränder hat oder aber infinitesimal dünn ist).
Eine entsprechende Messlogik vorausgesetzt würde sich die Elektronenscheibe dann außerhalb der Kugel immer nur als ein separater Punkt manifestieren, ihre räumliche Form und Ausdehnung würden also im Rahmen einer Messung überdeckt werden und könnten sich höchstens noch indirekt (etwa durch entsprechende Unschärfen) manifestieren.
Ob man aber schlussendlich zumindest eine dieser Ideen halbwegs widerspruchsfrei mit dem bestehenden Gedankenmodell verheiraten kann, ist mir bisher noch nicht klar, ggf. muss ich dann vielleicht doch noch mal irgendwann einen zweiten Blog verfassen…
Hui. Ok. Ich verstehe den Sinn die gedankliche ModellVorstellung des Elektrons zu ändern. Statt kugelzeugs Münze in Hohlraum und ein messapparat. Gut. Scheint auch die verschiedenen Zustände gut zu zeigen. Was mir nicht so einleuchtet ;ist die vorgeschaltete münzwurf-Analyse. Die brauche ich für mich gar nicht, um das Münze-In-Hohlkugel-Mess-Modell. Die Wahrscheinlichkeiten und ob zufällig oder nicht erscheint hier gar nicht. .. (?). Dennoch: interessanter text.
@Wolfram Nitsch
Ich bin total begeistert von diesem Artikel.
Ich habe mich schon immer gefragt, was mit dem Elektron passiert, wenn sein Zustand (Spin) durch eine Messung festgelegt wird.
Da dachte ich mir, komisch eigentlich müsste durch die Wechselwirkung mit der Umwelt ja schon alles festgelegt sein und es dürfte daher keinen Überlagerungszustand mehr geben.
Dieser Artikel hat mir ein Aha Erlebnis beschert.
Daher volle Punktzahl.
gut geschrieben, anschaulich, auch die jeweiligen einschränkungen, als solches auch -irgendwie- nachvollziehbar. aber auch mir dreht sich etwas der kopf.
nun sind die themen die die QM betreffen immer etwas anders zu sehen, als das unser alltag zeigt. weshalb dann auch die modelle dazu nur unzureichend treffen.
was ich mich natürlich grundsätzlich frage?
wozu messe ich etwas, das erst durch eine vorherige messung überhaupt gemessen werden kann, und über den ursprünglichen zustand gar nichts mehr aussagt?
anderes modell:
ich nehme meinen geldbeutel, werfe alles geld raus, leg dann einen schein (gerne auch blind) wieder rein, und zähl dann nach wieviel ich in dem moment hab??? das ist doch ein seltsames bestreben über etwas zu erfahren. wieviel es ursprünglich war zählt gar nicht?
@Cornelia
In der QM werden ja abstrakte und unanschauliche Wahrscheinlichkeitsamplituden beschrieben und erst wenn man diese quadriert, erhält man die anschaulichen Messwahrscheinlichkeiten. In dem Gedankenmodell habe ich nun versucht, auch diese abstrakte Amplitude anschaulich darzustellen (Lage der Scheibe/Münze in der Kugel) und zu zeigen, dass die Einzelmesswahrscheinlichkeiten dieses Modells sich genauso berechnen wie die des Elektronen-Spins.
Die erscheinen in dem Moment, wenn die Münze gegen die Kugelinnenwand prallt. Die Vorstellung ist dabei die, dass die Wahrscheinlichkeiten hier identisch zu denen eines (passiven) Münzwurfes sind, nur dass die Schwerkraft durch den Messapparat ersetzt wird (und so aus beliebiger Richtung wirken kann) und die Tischplatte deswegen komplett um die Münze herum gebogen ist (Innenwand der hohlen Kugel). In gewisser Weise also eine Art 3D-Münzwurf.
@Mars
Auch die erste Spin-Messung liefert ja bereits ein Ergebnis, nur dass dieses Ergebnis eben prinzpiell nicht vorhergesagt werden kann.
Die zweite Messung hilft deswegen eigentlich nur dabei, wenigstens abhängig von dem Ergebnis einer ersten Messung irgendwelche Messwahrscheinlichkeiten verstehen und angeben zu können. Das ist also eine direkte Konsequenz des Umstandes, dass in der QM die erste Messung den Zustand des Messobjekts überhaupt erst festlegt.
@Karl-Heinz
Vielen Dank! 🙂
Ich muss zugeben dass ich nach dem Lesen der bisherigen Beiträge schon den Eindruck gewonnen habe, dass mein Beitrag einfach viel zu lange und unhandlich ist. Umso mehr gilt mein Dank jenen, die Zeit und Geduld für’s Lesen aufgebracht haben…
Ad #4 – ah ok. Verstanden. Danke.
@Wolfram
ja, so macht das einen sinn ein wenig ….
Ich finde diesen Artikel faszinierend. Aus den Lehrbüchern kannte ich bisher nur die Veranschaulichung des Spins über Polarisation (damit kann man genauso wie mit dem Münzmodell den Stern–Gerlach-Versuch in allen Feinheiten nachbauen), aber das ist für einen Laien nicht so anschaulich wie dieses rein mechanische Modell.
Sollte Wolfram Nitsch hier mitlesen, dann würde mich interessieren, ob es sich das Modell selbst ausgedacht hat. So oder so, wenn ich jemals eine QM-Vorlesung für Anfänger halte, werde ich mich an diesen Artikel erinnern.
Einen winzigen Einwand habe ich doch: Es handelt sich hier ja um ein hidden-variable-Modell (das Elektron hat immer einen wohldefinierten Spin, denn die Unschärfe entsteht erst durch die Messung). Das ist nichts Schlimmes, aber man sollte dazusagen, daß sich das Modell damit auf eine Seite in der Diskussion über die Interpretation der QM stellt, und zwar genau auf die, die von den meisten Physikern für verkehrt gehalten wird.
Vermutlich ist das auch der Grund, weshalb das Modell meiner Einschätzung nach z.B. keine EPR-Korrelationen beschreiben kann. Andererseits behauptet der Artikel, daß man damit die Bell’sche Ungleichung veranschaulichen könnte — das sehe ich jetzt auch nicht wirklich ein.
Warum Punkt? Ich sehe einen „Berührkreis“.
@Wolfram Nitsch
Dake daß Du hier mitliest und weitere Erläuterungen abgibst. Als ich meinen vorigen Kommentar abgeschickt habe, wußte ich das nicht weil die Seite ein paar Stunden in einem Browser-Tab herumlag und ich vor Abschicken des Beitrags nicht aktualisiert hatte.
Super Artikel, sehr anschaulich – danke!
@Chemiker
Sorry für die späte Antwort!
Das vorgestellte Modell ist ursprünglich mal als eine Art „proof of conectpt“ für eine spezifische Interpretation der QM entstanden. Dann fand ich es aber so schön simpel und eingänglich, dass ich mich entschlossen habe, es komplett losgelöst von irgendwelchen Interpretationen als ein Modell vorzustellen, mit dem man sich auch als Laie verschiedene abstrakte Konzepte der QM einfach veranschaulichen kann.
Die Begündung dafür wäre etwas länglich, ich konnte ja in dem Text noch nicht einmal die Singulett-Verschränkung zweier Elektronen in dem Gedankenmodell vorstellen. Aber sie läuft auf einen sehr einfachen Umstand hinaus:
Wenn ich den Messapparat nach der Präparation des Wertes UP (als Beispiel) um jeweils zwei unterschiedliche Winkel drehe, sagen wir 11,25° und 22,5°, dann liegen die Messwahrscheinlichkeiten für DOWN nach diesen Drehungen bei 3,8% respektive 14,6%.
Man kann Bells Teilmengen jetzt so auf diese beiden Situationen mappen, dass folgender Umstand die Bell’sche Ungleichung verletzt: 2* 3,8 ≱ 14,6.
Oder anders ausgedrückt: Wenn man nach der Präparation eines Messwertes den Messapparat in einem bestimmten Winkel um die Kugel herumführt, dann ändern sich die Messwahrscheinlichkeiten eben genau nicht linear mit diesem Winkel.
@Chemiker
Du hast recht, ich hätte noch etwas zu der Drehgeschwindigkeit schreiben müssen: Wenn die Scheibe sich sehr schnell dreht, dann ist die Aufstandsfläche idealerweise ein einziger Punkt, im anderen Extremfall geht die Aufstandsfläche gegen einen Kreis mit dem Radius der rotierenden Scheibe, wie z.B. bei einer Euler-Scheibe.
In dem Video hier wird am Anfang an eine relativ schnell drehende Münze gezeigt (erst Treffer bei youtube) und danach eine Euler-Scheibe.
@Wolfram Nitsch
Beim obigen Link (hier) ist als Postfix ein “ zuviel.
Euler-Scheibe
@Karl-Heinz
Danke!
@Wolfram Nitsch
Eigentlich ein ganz tolles Modell. Nur an einer Stelle habe ich ein Verstädnisproblem, bei der Interpolation zur Sinuskurve. Denn anschaulich würde ich vermuten, dass auch eine gekippte, jedoch nicht senkrecht ausgerichtet fallende Münze mit derjenigen Seite oben liegend landen müsste, die während des Falls mehr nach oben zeigt. Dann ergäbe Deine Tabelle mit den Fallunterscheidungen aber eine Rechteckwelle, keine Sinusfunktion. Wie begründest Du die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze bei schräger Ausrichtung mit Wahrscheinlichkeit < 50% auf der Rückseite landet?
@Alderamin
Das hängt maßgeblich von der Fallhöhe der Münze ab. Je mehr kinetische Energie die Münze beim Aufprall hat, desto stärker wirken sich die Zufalls-bestimmenden Unebenheiten von Münze und Tisch auf die pseudozufälligen Bewegungen der Münze nach dem Aufprall aus.
Aber ganz grundsätzlich sollte man vorsichtig sein, sich dieses Modell allzu realistisch vorzustellen:
Das Gedankenmodell hat nicht den Anspruch, eine lückenlose mechanische Motivation der Messwahrscheinlichkeiten zu geben, es versucht lediglich die Messwahrscheinlichkeit des Spins durch eine Analogie mit den uns wohlbekannten und intuitiv leicht erfassbaren Münzwurf-Wahrscheinlichkeiten zu motivieren. Weil diese Analogie aber ihre offensichtlichen Grenzen hat, ist in dem Text auch immer nur von einem „idealisierten“ Münzwurf die Rede.
Ich hatte schon längst aufgegeben, mir den quantenmechanischen Spin makroskopisch vorstellen zu wollen (ist ja auch sinnlos) – aber jetzt kann ich mir zumindest die Messung desselben gedanklich ganz gut vorstellen. Prima Beitrag!
Ich finde auch gar nicht, dass der Artikel zu lange oder gar unhandlich ist, und die Abbildungen sind auch gut gemacht. Die Bell’sche Ungleichung hätte man noch im Text verlinken können, aber das ist nur Makulatur und der Beitrag wollte ja auch explizit mathematikfrei sein.
Sehr schöner Beitrag.
Gibt es eigentlich einen zum Spin komplementären Parameter und damit eine Unschärferelation?
@Fluffi
Ja, und zwar durch eine zweite Spin-Messung aus einer anderen Richtung ungleich 180°, siehe z.B. Abb. 14.
@Fluffi
Oder anders ausgedrückt:
Man kann den Spin des Elektrons nie gleichzeitig aus zwei unterschiedlichen Richtungen bestimmen. Allerdings wie gesagt mit der kleinen Einschränkung dass diese beiden Richtungen dann weder parallel noch antiparallel sein dürfen.
[…] Platz 10: “Wir basteln uns einen Elektronenspin” […]
[…] am 29.10.2017: Link zum Artikel […]