Der Halleysche Komet ist vermutlich der bekannteste Himmelskörper seiner Art. Offiziell heißt er 1P/Halley und das „1P“ besagt, dass es sich um den ersten periodischen Kometen handelt, den man klassifiziert hat. Also auch um den Kometen, bei dem man das erste Mal herausgefunden hat, dass es sich bei diesen Dinger um Objekte mit periodischen Umlaufbahnen um die Sonne handelt. Der Halleysche Komet hat eine Bahn die ihn alle 76 Jahre vom sonnenfernsten Punkt hinter der Neptunbahn bis ins innere Sonnensystem und fast bis zur Merkurbahn bringt. Dazwischen kommt er auch an der Erde vorbei und ist idealerweise mit freiem Auge prachtvoll am Nachthimmel zu sehen.
Aufgrund seiner guten Sichtbarkeit und seiner vergleichsweise kurzen Periode ist Halley aus historischer und wissenschaftlicher Sicht interessant. Die Beschreibung seiner Bahn und die erfolgreiche Vorhersage seiner Wiederkehr an den Nachthimmel der Erde durch Edmond Halley im 18. Jahrhundert war eine der großen Bewährungsproben für Newtons Gravitationstheorie. Sein bislang letzter Vorbeiflug an der Erde im Jahr 1986 war Ausgangspunkt für den ersten Besuch einer Raumsonde bei einem Kometen: Giotto passierte den Kern des Kometen in nur 600 Kilometer Entfernung und die Ergebnisse der Mission waren so vielversprechend, dass man gleich mit der Planung der nächsten Sonde begann. Und wie erfolgreich diese Rosetta-Mission verlief konnten wir ja in den letzten Jahren live verfolgen.
Halley hat aber immer noch jede Menge Geheimnisse. Zum Beispiel die Frage nach seiner chaotischen Umlaufbahn. Beziehungsweise seiner potentiell chaotischen Umlaufbahn. Die bisherigen Forschungsergebnisse über die Bewegung des Kometen legen nahe, dass er eine Lyapunov-Zeit von wenigen Jahrzehnten hat; vergleichbar mit der Umlaufperiode des Kometen selbst. Um zu verstehen, warum das so außergewöhnlich ist, muss man aber natürlich wissen, was eine „Lyapunov-Zeit“ überhaupt ist. In der Himmelsmechanik bzw. Chaostheorie wird damit, vereinfacht gesagt, das Ausmaß an chaotischem Potential einem System gemessen. Betrachtet man zum Beispiel wie sich zwei eng benachbarte Himmelskörper im Laufe der Zeit entwickeln, dann werden sie normalerweise nicht exakt der gleichen Bahn folgen. Sie werden sich immer weiter voneinander entfernen. Ist das dynamische System schön ordentlich und regulär, dann wächst der Abstand linear an. Ist es dagegen chaotisch, dann entfernen sie sich exponentiell voneinander, bis sie irgendwann so weit voneinander getrennt sind, dass sie absolut nichts mehr miteinander zu tun haben, obwohl sie früher mal fast identische Zustände eingenommen haben. Wie schnell diese Trennung stattfindet, wird mit der Lyapunov-Zeit gemessen und sie beschreibt auch die Zeitskalen, auf denen sich das Chaos in einem System auswirken kann.
Unser Sonnensystem ist zum Beispiel nicht stabil. Es gibt keine physikalische Grenzen die dafür sorgen, dass die Planeten für alle Zeiten auf ihren Bahnen bleiben; im Prinzip könnten sie wild durcheinander fliegen und miteinander kollidieren. Die Lyapunov-Zeit des aus der Sonne und ihren Planeten bestehenden dynamischen Systems beträgt aber circa 5 Milliarden Jahre. Das Chaos wirkt sich also nur über sehr, sehr lange Zeiträume aus und deswegen verhalten sich die Planeten auch so brav wie sie es tun.
Das ist nicht bei allen Himmelskörpern so: Die Asteroiden in der Nähe der Erde haben beispielsweise typische Lyapunov-Zeiten von einigen hunderttausend bis Millionen Jahren; deutlich kürzer als bei den Planeten. Deswegen kommt es ja auch immer wieder vor, dass sie mit anderen Himmelskörpern kollidieren: Ihre Bahnen können viel schneller chaotische Effekte zeigen und zu Zusammenstößen führen.
Eine Lyapunov-Zeit die vergleichbar mit der Umlaufperiode selbst ist, so wie bei Halley, ist allerdings ungewöhnlich. Warum gerade Halley so viel Potential für Chaos hat, haben nun kürzlich Astronomen um Tjarda Boekholt von der Sternwarte Leiden untersucht. In der Arbeit „The Origin of Chaos in the Orbit of Comet 1P/Halley“ haben Boekholt und seine Kollegen umfangreiche Computersimulationen zur Bewegung von Halley durchgeführt um der Frage auf den Grund zu gehen.
Wo das Chaos rein prinzipiell her kommt, ist natürlich bekannt. Dafür sorgen Resonanzen zwischen den Umlaufperioden von Halley und den anderen Planeten des Sonnensystems. Die Umlaufbahn eines Himmelskörpers ist nie fix, sondern schwankt hin und her; wird größer und kleiner – und wenn sie das im Gleichklang mit dem Schwanken der Umlaufbahn eines anderen Himmelskörpers macht, können sich Störungen aufschaukeln und am Ende zu Chaos führen. Das ist auch bei Halley der Fall und bisher ging man davon aus, dass der Hauptverursacher der Störungen natürlich Jupiter sein muss; der größte der Planeten und damit auch derjenige, der die größten Störungen verursachen kann.
Ist aber nicht so, wie Boekholt und seine Kollegen herausgefunden haben. Seht euch dieses Bild an:
Betrachten wir zuerst nur den oberen Teil. Auf der x-Achse sieht man die Phase mit der Halley für die Simulation gestartet wurde. Das ist nichts anderes als die Position entlang seiner Umlaufbahn, die hier mit einem Winkel zwischen 0 und 360 Grad gemessen wird. Die y-Achse zeigt den Minimalabstand, den Halley während der Simulation von diesem Ausgangspunkt mit den anderen Planeten erreicht hat. Uranus, Neptun und Saturn kann man ignorieren; denen kommt Halley nie wirklich sehr nahe. Bei Jupiter siehts ein wenig anders aus, aber wirklich nahe kommt der Komet der Erde, dem Mars und vor allem der Venus (die grüne Kurve)!
Das Ausmaß der möglichen Störung wird aber nicht nur durch den Abstand sondern auch durch die Masse des störenden Planeten bestimmt. Wie groß die Störungen sein können, zeigt das untere Diagramm. Und da ist Jupiter dank seiner enormen Masse wieder ganz vorne; aber auch die Erde und die Venus können relevante Auswirkungen und das ist etwas, mit dem man vorher nicht so gerechnet hatte. Vor allem der Einfluss der Venus war überraschend. Vermutlich kann gerade sie Halley so gut stören, weil dessen Bahn gegenüber der Ebene der Planeten geneigt ist, aber diese Ebene gerade in der Nähe der Venusbahn schneidet.
Weitere Simulationen zeigen dann auch, dass die Venus tatsächlich eine wichtige Rolle bei der Dynamik von Halley spielt. Jupiter kann zwar definitiv nicht ignoriert werden. Aber es gibt Phasen, in denen seine Störungen vergleichsweise gering werden. Und genau in diesen Phasen kann dann die Venus ihren Einfluss geltend machen und das Chaos weiter anstoßen. Das zeigt dieses Diagramm:
Hier sieht man die Zeit die während der Simulation im Modell vergeht (aufgetragen in Jahrtausenden) und auf der y-Achse ein Maß für das Anwachsen der von den Planeten ausgeübten Störungen. Interessant sind vor allem die Kurven in grün, gelb und schwarz. Schwarz ist der über alle Planeten addierte Gesamteffekt auf Halley. Der steigt an und erreicht dann nach einiger Zeit ein Plateau. Dort fällt die schwarze Kurve mit der gelben zusammen, was bedeutet das es Jupiter ist, der hier das Chaos von Halley dominiert. Aber schaut man zum Anfang der Simulation, dann ist der Einfluss von Venus viel größer als der von Jupiter; die grüne Kurve liegt über der gelben und diesmal folgt die schwarze Linie der grünen.
Halley wird also mal von Jupiter und mal von der Venus gestört und diese Komplexität war bis jetzt so noch nicht bekannt. Die Astronomen um Boekholt haben außerdem festgestellt, dass die Lyapunov-Zeit von nur wenigen Jahrzehnten vermutlich nicht korrekt ist. Sie erhalten Werte, die bei etwa 300 Jahren liegen und führen das auf andere/unzureichende Berechnungsmethoden ihrer Vorgänger zurück.
Es ist schon irgendwie ironisch: Als Edmond Halley damals feststellte, dass er Newtons neues Gravitationsgesetz tatsächlich nutzen konnte, um die Bahn eines Himmelskörpers zu beschreiben und seine Bewegung vorherzusagen, begann damit die große Ära der klassischen Mechanik. Heute wissen wir, dass nicht alles so gut vorhersagbar ist und der gleiche Komet, der am Anfang der Vorstellung des Sonnensystems als regelmäßiges „Uhrwerk“ stand zeigt uns heute, wie komplex und faszinierend das Chaos in ihm wirkt…
So ganz verstehe ich das erste Diagramm nicht. Der Wert auf der x-Achse markiert die Startposition der Simulation. Wenn man nun eine Simulation bei Position X1 startet und danach eine weitere bei Position X2, dann muss Halley doch im X2-Durchlauf auch irgendwann bei X1 vorbeikommen, ansonsten gäbe es keine geschlossene Umlaufbahn. Warum hängt die größte Annäherung an einen Planeten von der Startposition der Simulation ab? Halley durchläuft während eines Umlaufs doch alle möglichen Startpositionen, daher sollte sich doch während eines Umlaufs für jeden Planeten (mindestens) ein Abstandsminimum ergeben, unabhängig von der momentanen Position des Kometen.
@schlappohr: „Warum hängt die größte Annäherung an einen Planeten von der Startposition der Simulation ab?“
Resonanzen! Es hängt davon ab, wie Halley auf seiner Bahn in Relation zu den anderen Planeten startet. Manche Startpositionen führen zu nahen Begegnungen, manche nicht. Es kommt nicht nur darauf an, wo er startet, sondern auch WANN er wo startet.
…und genau das ist ja mit „R_min“ auch an der y-Achse aufgetragen. Man sieht also als Datenpunkt jeweils nur den minimalen Abstand zum Planeten (und nicht alle Abstände) bei der gewählten Startposition des Kometen.
@Jan: War das jetzt ein Zusatz zu meiner Antwort oder eine weitere Frage?
Ich glaube, was mich stört, ist der Begriff „Startposition“. Bezogen auf die Simulation ist das verständlich, man muss ja irgendwo anfangen. Aber Halley selbst „startet“ nicht, er durchläuft seine Bahn, und um Laufe dieser Bahn hat er zu jeden Planeten irgendwann eine Minimaldistanz. Bei der Simulation steigt man sozusagen bei einer bestimmten Position in das Geschehen ein und rechnet ab dieser Position mit, wie sich der Komet verhält. Nehmen wir einmal an, diese Simulation ist eine exakte Nachbildung der Realität. Dann darf aber der Zeitpunkt (bzw. der Winkel), zu dem man beginnt, doch keine Auswirkungen auf das Ergebnis haben?
@schlappohr: “ Nehmen wir einmal an, diese Simulation ist eine exakte Nachbildung der Realität. Dann darf aber der Zeitpunkt (bzw. der Winkel), zu dem man beginnt, doch keine Auswirkungen auf das Ergebnis haben?“
Wenn exakt die Realität nachgebildet werden soll, gibt es ja nur einen möglichen Startpunkt. Wenn es aber um das potentielle Chaos gibt, schaut man sich eben nicht nur den realen Orbit an, sondern auch alle Variationen. Du vergisst (vielleicht?) das sich die anderen Planeten ja auch ständig bewegen. Wenn Halley und zB Venus in ner 2:1 Resonanz wären, würde sich ihre relative Konfiguration alle 2 Venus-Jahre wiederholen. Wenn ich da in einer Situation starte, in der sich beide nahe sind, sind sich immer wieder nahe und die Störungen wachsen. Starte ich, wenn beide einander fern sind, sind sie immer fern – und die Bahnen sehr stabil. Ich hab mal ne Serie geschrieben („Wie man simuliert“ oder so) – da hab ich sowas genauer erläutert.
„Wenn es aber um das potentielle Chaos gibt, schaut man sich eben nicht nur den realen Orbit an, sondern auch alle Variationen.“
Ja, das verstehe ich (kleine Änderungen der Anfangsbedingungen haben später große Auswirkungen). Aber warum variiert man dann die Startposition der Simulation auf der Kometenbahn? Die Bahn wird ohnehin durchlaufen, damit ergibt sich doch keine Variation der Anfangsbedingungen.
Warum geht man bei den verschieden Simulationsläufen nicht von unterschiedlichen Startpositionen der anderen Planeten aus und rechnet dann jeweils einen kompletten Halley-Umlauf durch? Über die Position der anderen Planeten macht das Diagramm überhaupt keine Aussage.
Ich muss da nochmal drüber meditieren 🙂 Danke erstmal für Eure Antworten.
@schlappohr evtl. wird das verständlicher, wenn Du „startposition“ durch „relative startposition“ ersetzt. Ich gehe davon aus, dass die Planeten in den Simulationen immer an der selben Stelle gestartet sind (z.B. ihren aktuellen Positionen). Wenn jetzt der Komet an verschiedenen Positionen auf seiner Bahn startet, ändert sich seine Position relativ zu den Planeten für die gesamte Simulation. z.B. Wenn er bei 0 Grad startet, kommt er erst nach 38 Jahren bei 180 Grad an. in der Zeit haben sich die anderen Planeten schon weiter bewegt, sodass die Situation des gesamten Systems eine Andere ist, als wenn die Simulation bei 180 Grad startet.
> Heute wissen wir, dass nicht alles so gut vorhersagbar ist und der gleiche Komet, der am Anfang der Vorstellung des Sonnensystems als regelmäßiges “Uhrwerk” stand zeigt uns heute, wie komplex und faszinierend das Chaos in ihm wirkt.
Wenn ich Boekholt et al. richtig verstanden habe ergibt sich die etwas geringere Lyapunov-Zeit früherer Abschätzungen aus einer zu starken Vereinfachung des Problems.
Einen ähnlichen Effet gibt es z.B. bei der Vorhersage des Wetters. Einfache Modelle sind sehr unstabil. Komplexere Modelle sind wesentlich stabiler: https://www.spektrum.de/magazin/das-ende-des-schmetterlingseffekts/828112
@Till
Ja, das klingt plausibel. Man beginnt die Simulationsläufe bei verschiedenen Positionen des Kometen, nimmt jedoch an, dass die Position der Planeten zum jeweiligen Startzeitpunkt immer die gleichen sind. Dann erhält man natürlich eine Variation der Anfangsbedingungen.
@Florian:
Das war eigentlich meine Erklärung, aber ich habe sie nicht nur zeitgleich mit deiner verfasst, sondern auch noch am Missverständnis vorbeigeschrieben 😉 Dass die einzig veränderte Variable zum Startpunkt der Simulationen die Position von Halley ist, davon war ich implizit ausgegangen, ganz im Gegensatz zu schlappohr, wie sich nun herausstellt.
stehste auf einer rasierklinge ist delta t bis zum sturz klein. ziehen ein paar an dir die gegenseitig an sich ziehen naja da könnte es ganz kurz werden.
[…] Die Ursache des chaotischen Orbits des Halleyschen Kometen […]