Im ersten Teil der Serie habe ich die Grundlagen der Störungsrechnung erklärt; im zweiten Teil habe ich – hoffentlich halbwegs verständlich – erläutert, wie man die Bewegung der Planeten im Sonnensystem störungstechnisch formuliert.
Falls doch noch ein paar Leute übrig sind, die sich durch die vielen Formeln nicht abschrecken haben lassen, geht es jetzt weiter: mit noch mehr Formeln 😉
Zuerst möchte ich noch einmal auf dieStörungsfunktion von gestern zurückkommen.
Diese Formeln ergeben sich direkt aus den Gravitationsgesetzen und sind exakt. Aber wenn die Störungsfunktion so aufgeschrieben wird, kann man nicht wirklich Störungsrechnung damit treiben. Hier muss man ja die wirkende Kräfte als Summe von immer kleiner werdenen Bestandteilen darstellen.
In der Mathematik gibt es spezielle Techniken, wie man eine Funktion – z.B. die Sinus-Funktion – in eine sogenannte Reihe umwandeln kann. So eine Reihe ist nichts anderes als eine lange Addition verschiedener Terme. Mathematisch wird sie mit dem Summensymbol Σ dargestellt; unter und über dem Symbol wird angegeben, wie summiert wird. Zum Beispiel so:
Das bedeutet, das i alle Zahlen von 0 bis unendlich durchläuft und man daher die Summe der Zahlen a1, a2, a3, usw bilden muss; also S = a1 + a2 + a3 + …
Mit so einer Summendarstellung einer Funktion kann man dann Störungsrechnung betreiben. Wie man die Störungsfunktion in eine Summe unwandelt kann ich hier allerdings nicht erklären – das würde mehr als ein paar Bildschirmseiten benötigen – viel mehr… Jedenfalls kann man eine sogenannten Fourrierreihe bilden und die sieht am Ende so aus:
Die Störungsfunktion für den i-ten Körper besteht also aus der Masse des i-ten Körpers, multipliziert mit einer Summe. Diese Summe besteht aus den Zahlen Cjk, die von den Bahnelementen a, e und i abhängen und einer Kosinusfunktion. Im Argument dieser Funktion steht das Delaunay-Element l – also die mittlere Anomalie die die Bewegung des Planeten angibt und auch als l = nt geschrieben werden kann (n ist die mittlere Bewegung eines Planeten). Ebenfalls im Argument der Kosinusfunktion stehen weitere Zahlen Djk, die von den Winkeln der Bahnelemente abhängen.
Mit dieser Formulierung der Störungsfunktion kann man nun die kanonischen Gleichungen der Delaunay-Elemente benutzen um die Änderungen der Bahnelemente zu berechnen. Ich habe ja gestern schon gezeigt, dass die Änderung eines Elements identisch mit der Änderung der Störungsfunktion ist, die auftritt, wenn man das entsprechende konjugierte Element ändert. Will ich also die gesamten Störungen eines Bahnelements bestimmen, muss ich nur über diese sogenannte partielle Ableitung der Störungsfunktion integrieren:
Ich möchte das am Beispiel des Delaunay-Elements L1 zeigen. L1 hängt mit der großen Halbachse des ersten Planeten zusammen. Um die Gleichung zu lösen muss man also erstmal die Störungsfunktion nach dem konjugierten Element ableiten. Für L1 ist das l1. Die Ableitung ist nicht allzu schwer zu bilden; das Ergebnis sieht so aus:
Relevant ist hier, das man auch die Kosinusfunktion ableiten muss. Aus der Schule werden die meisten noch wissen, dass die Ableitung der Kosinusfunktion die negative Sinusfunktion ist. Und man muss auch noch das Argument der Kosinusfunktion ableiten – das ist hier besonders wichtig, denn im Argument steht ja gerade das Delaunay-Element l – das, nach dem hier abgeleitet werden muss. Wenn ich lj differenziere, dann bleibt nur j übrig – deswegen gibt es im Ergebnis oben noch ein zusätzliches j (das ich rot markiert habe).
Für das Endergebnis muss man das ganze nochmal nach der Zeit integrieren. Aus dem Sinus wird hier wieder ein Kosinus und das Argument der Sinusfunktion taucht nun noch einmal als Bruch auf:
Wichtig ist eigentlich nur, dass das zusätzliche j immer noch da ist. Und es ist wichtig sich klar zu machen, dass es nur bei der Berechnung von L1 bzw. L2 auftaucht. Denn nur hier muss man für die Lösung die Störungsfunktion nach l ableiten – die anderen Größen (G,H) haben andere konjugierte Elemente (g,h) die nicht zusammen mit einem j oder k im Argument der Kosinusfunktion auftauchen. Hier entsteht bei der Ableitung also kein zusätzliches j oder k!
Warum ist das wichtig? Wenn man die Lösung einer Gleichung störungstechnisch aufbaut, setzt man sie aus verschiedenen Elementen zusammen:
Ganz am Anfang der Reihe steht der ungestörte Fall, der in der Gleichung oben mit σ0 bezeichnet wird. Dann folgt der sogenannte Säkularterm σ1 , der direkt von der Zeit t abhängt und der entsteht, wenn man in der Summe die Indizes j und k gleich Null setzt. Danach kommen die Terme höherer Ordnung die immer weniger zur Genauigkeit der Lösung beitragen.
Der Säkularterm ist wichtig – er hängt direkt von der Zeit ab und wächst mit ihr. Je mehr Zeit vergeht, desto größer kann er werden. Das ist von großer Bedeutung, wenn man über die Stabilität des Sonnensystems Bescheid wissen will. Die relevante Frage ist hier, ob die Bahnen der Planeten bei ihren Änderungen auf einen bestimmten Bereich beschränkt sind oder beliebig groß werden können. Wenn beispielsweise die Bahn der Venus immer größer und größer wird – also die große Halbachse der Venusbahn ungehemmt wachsen kann – dann kann sie irgendwann mit der Erde zusammenstoßen. Nur wenn die Änderungen beschränkt sind, kann das Sonnensystem stabil bleiben.
Wenn in der Lösung ein Säkularterm existiert, dann kann sie allerdings im Laufe der Zeit immer größer und größer werden. Hier sieht man nun, warum der zusätzliche Index bei der Lösung von σ0 äußerst wichtig ist: wenn alle Indizes null gesetzt werden (was man ja machen muss um den Säkularterm zu berechnen), dann sorgt das zusätzliche j dafür, dass der komplette Ausdruck null wird. Die Lösung von L1 hat also keinen Säkularterm!
Und da L1 direkt von der großen Halbachse des ersten Planeten abhängt ist sichergestellt, dass seine große Halbachse und damit seine Bahn nicht beliebig groß werden kann. Das gilt natürlich auch für die Lösungen der anderen Planeten und somit ist klar, dass das Sonnensystem stabil ist! Die Bahnen der Planeten können sich nicht beliebig ändern sondern sind auf bestimmte Bereiche beschränkt.
Allerdings bleibt ein kleiner Schönheitsfehler. Ich hab ja schon erwähnt, das die Störungsrechnung immer nur Näherungslösungen liefert, die zwar immer exakter gemacht werden können – aber nie völlig exakt sein werden. Wenn man die die oben dargestellten Lösungen verbessert – in der Störungstheorie sagt man, dass man zu höheren Ordnungen übergeht – dann ändert sich das Bild. Beim Übergang zur nächsthöheren Ordnung taucht immr noch kein Säkularterm auf – aber bei der nächsten Ordnung ist die Situation anders: hier gibt es dann einen Säkularterm und es kann nicht für alle Zeiten sichergestellt werden, dass die Planetenbahnen stabil bleiben.
Das zeigen dann auch die numerischen Simulationen: in erster Näherung ist unser Sonnensystem stabil – aber wenn man lange Zeiträume betrachtet und alle Effekte inkludiert, dann kann es unter Umständen zu chaotischem Verhalten kommen.
Okay, das ist mir dann echt zu hoch. Trotz allem interessant, keine Frage. Aber morgen abend könnte ich auf der Party trotzdem nicht beim Glase des guten Weines über Bahnelemente von Planeten referieren im Sinne von „hab ich doch gestern gelesen, daß…“ . Trotzdem: weitermachen bitte. 🙂
Interessantes Thema!
Bei einigen Formeln bin ich mir aber nicht sicher, ob ich alles richtig verstanden habe.
Darf ich einen Vorschlag äußern?
Falls es nicht zuviel Mühe macht: Wie wär’s mit einem Rechenbeispiel, also eine Anwendung der Formeln mit konkreten Zahlenwerten?
Dann kann ich das selber nachprogrammieren und sehe sofort, wo ich eine Formel falsch verstanden habe.
Vielen Dank im Voraus.
blogjoker
Woher kommt denn der Name „Säkularterm“?
Gibt es ein open-Source tool, das solche Berechnungen durchführt?
Kann man die tatsächlichen Bahnelemente für unser Sonnensystem irgendwo im Web nachlesen?
Ohne den Urlauber ersetzen zu wollen: von saeculum/Jhdt. DTV Lexikon Physik:
Wikipedia enthält auch nützliche Beiträge: https://de.wikipedia.org/wiki/Variations_Séculaires_des_Orbites_Planétaires
Chaos and stability in planetary systems, von R. Dvorak, Florian Freistetter, Jürgen Kurths
This book is intended as an introduction to the field of planetary systems at the postgraduate level. It consists of four extensive lectures on Hamiltonian dynamics, celestial mechanics, the structure of extrasolar planetary systems and the formation of planets. As such, this volume is particularly suitable for those who need to understand the substantial connections between these different topics.
https://books.google.de/books?id=shYNuW0B0fsC
@Blogjoker: Also wirklich war vorrechnen ist da schwierig. Da müsste man dann wirklich die kompletten Formeln und Ableitungen bringen, sonst macht das keinen Sinn.
@Karl Mistelberger: Ja, wers genau wissen will, kann in diesem Buch alles nachlesen. Ist aber nicht wirklich was für Laien.
@blogjoker
Ich weiß nun nicht, worauf Florian eigentlich hinaus will. Normalerweise simuliert man einfach das Planetensystem mit den Newtonschen Differentialgleichungen. Dies geschieht praktisch vollkommen intuitiv und das kann man aus dem Stegreif in den Rechner programmieren.
Lediglich das Integrationsverfahrens sollte man sorgfältig auswählen. Dafür könnte man z.B. ein Runge-Kutta Verfahren höherer Ordnung wählen.
Die Betrachtungsweise ist vollkommen elementar. Man nimmt einen Himmelskörper und berechnet sämtliche Beeinflussungen aller anderen Himmelskörper auf diesen einen Himmelskörper. Daraus erhält man den resultierenden Beschleunigungsvektor für diesen einen Himmelskörper.
Das macht man nun mit jedem einzelnen der anderen Himmelskörper auch.
Dann wird man die Beschleunigungen für einen kleinen Zeitschritt in resultierende Geschwindigkeitsänderungen bzw. Geschwindigkeiten und resultierende Wege ausrechnen und erhält damit die neuen Positionen aller Himmelskörper und die neuen Geschwindigkeiten.
Dann fängt es wieder von vorne an.
Wenn man ein gutes Integtrationsverfahren hat, welches große Zeitschritte rechnen kann, flitzen die nächsten Millionen Jahre unseres Planetensystems in vielleicht 5 Stunden Rechenzeit vorüber.
Aber auch nach nur wenigen Minuten kann man schon sehen, in welchen Bahnbandbreiten sich alles bewegt.
Natürlich ist eine derartige Betrachtung eine sehr theoretische, da man nur mit Punktmassen rechnet. Real hat man es aber mit ausgedehnten Körpern zu tun, welche sich nicht mehr als ideale Punktmassen rechnen lassen.
Dann gibt es auch noch Gezeitenkräfte, welche das Leben noch einmal erschweren werden, wenn man es „ganz genau“ wissen möchte. Entsprechend wird dann auch der Rechenaufwand ins „astronomische“ steigen und in den 5 Stunden hat man dann tatsächlich vielleicht einige hundert oder tausend Jahre simuliert.
Aber wenn man einfach nur mit den jeweiligen Differentialgleichungen arbeitet, ist das kein Problem, diese bedarfsgemaß immer mehr zu erweitern. „Vor Augen“ hat man dabei immer nur „einen“ Himmelskörper. Den Rest macht die „for next“ Schleife für alle anderen Himmelskörper ganz alleine.
Und am Integrationsverfahern muß man gar nichts ändern. Das weiß sowieso nicht, was es da eigentlich berechnet 🙂
@Florian
Ok, das ist natürlich ein Argument.
@androcles
Danke für die ausführliche Antwort. So ähnlich hatte ich das vor etlichen Jahren auch schon mal ausgetüfftelt. Allerdings nur in 2 Raumdimensionen. Alles in 32bit und die Delta t’s hart an der Nullgrenze.
Das Problem war, realistische Anfangswerte für dx und dy und die Geschwindigkeitsvektoren zu finden.
Aber auch ein Sonnensystem, wo die Planeten und der Zentralkörper aus dem Nichts mit v=0 im Raum erscheinen, kann eine beachtliche Dynamik entwickeln.